Corona-Schutzmaßnahmen: (Un-)wirksame Gesichtsvisiere

10.10.2020 | Coronavirus, Medizin


Die Schutzwirkung von Plastik-Gesichtsvisieren vor Aerosolen haben kürzlich japanische und US-amerikanische Forscher angezweifelt. Zwar bietet das Gesichtsvisier frontal etwas Schutz, doch die Atemluft verteilt sich nach unten hin, was sich – etwa in der Gastronomie – als kontraproduktiv erweist. Ganz abzulehnen sind Kinnklappen.
Manuela-Claire Warscher

SARS-CoV-2(Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2) wird durch Personenkontakt übertragen. Daher werden im Kampf gegen das Corona-Virus seit Monaten primär Social Distancing, Hygienemaßnahmen, Mund-Nasen-Schutz (MNS) oder Gesichtsvisiere eingesetzt. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass neben der physischen Distanzierung der Mund-Nasen-Schutz eine präventive Bedeutung hat“, erklärt Univ. Prof. Herwig Kollaritsch, Facharzt für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin in Wien. Der Mund-Nasen-Schutz reduziert nachweislich sowohl die Tröpfchen-Ausscheidung als auch Aerosolbildung beim Ausatmen und damit die infektiösen Partikel, die weitergegeben werden können. Er schützt also Gesunde vor einer Infektion, wobei „es nicht darauf ankommt, ob die infizierte Person klinische Symptome hat oder nicht.“ Weltweit in der Kritik stehen derzeit jedoch die ebenfalls als Präventivmaßnahme eingesetzten Gesichtsvisiere aus Plastik. Zu Unrecht, wie die Innsbrucker Mikrobiologin Univ. Prof. Cornelia Lass-Flörl betont: „Generelle Aussagen zu treffen ohne zu überlegen, wann, wo und wie man Gesichtsvisiere einsetzt, ist unsinnig. Diese sind zum Beispiel Bestandteil der persönlichen Schutzausrüstung im Krankenhaus als Spritzschutz für die Augen“.

Studien: kein Schutz

In kürzlich in Japan und den Vereinigten Staaten publizierten Studien konnte nachgewiesen werden, dass Plastikgesichtsvisiere keinen Schutz vor Aerosolen, also Atemtröpfchen kleiner als fünf Mikrometer, bieten. Tatsächlich entweichen bei Gesichtsvisieren fast 100 Prozent der Aerosole, wie Simulationen mit dem Supercomputer Fugaku in Japan belegen. Darüber hinaus fanden Forscher am japanischen Institut Riken heraus, dass Gesichtsvisiere auch kaum vor Atemtröpfchen, die größer als 50 Mikrometer sind, schützen. Die Hälfte dieser Tröpfchen trotzt laut Studie dem Visier. Einer US-amerikanischen Studie zufolge blockieren Gesichtsvisiere und Masken mit Ventil zwar den Tröpfchen-Ausstoß; jedoch bewegen sich die Tröpfchen um das Visier herum beziehungsweise entweichen durch das Ventil und breiten sich so aus.

„Die Forschungsliteratur zu Corona ist noch sehr begrenzt. Jene Daten, die bereits vorliegen, sind allerdings sehr gut“, erklärt Kollaritsch. Und weiter: „Interessanterweise lieferten Physiker durch die Visualisierung der Verteilung der Ausatemluft mittels Lasertechnologie die bisher eindrucksvollsten Erkenntnisse.“ Demnach bietet das Gesichtsvisier zwar frontal „etwas Schutz“, doch die „Atemluft verteilt sich nach unten hin, was sehr kontraproduktiv ist, denkt man an seine primäre Verwendung in der Gastronomie“.

Gegen diese Verallgemeinerung wehrt sich die Mikrobiologin. „In zahlreichen Studien wurde auf die Wirksamkeit und den sehr guten Schutz von Plastikvisieren hingewiesen.“ Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen labortechnisch erhobenen Daten – der Theorie – und der Praxis ist für die Expertin das Um und Auf in jeglicher wissenschaftlichen Diskussion. „Gesichtsvisiere bieten für den Träger, vor allem für Augen, Mund, Nase und Schleimhäute insgesamt, einen sehr guten Schutz vor Tröpfchen von außen. Daher ist auch ihr Einsatz aus dem Krankenhausalltag mittlerweile nicht mehr wegzudenken.“ Für Kollaritsch stellt sich die Frage, ob das Gesichtsvisier auch vor der Weitergabe der Infektion schützt. „Und hier lautet die Antwort ‚nein‘ “, betont der Experte. Besonders hinsichtlich der klinischen Verwendung von Gesichtsvisieren zeigt sich Kollaritsch zurückhaltend. „Es muss doch etwas dran sein, wenn seit Billroth und Co bereits Masken im OP getragen werden. Chirurgische Masken sind keine Hochsicherheitsmasken und trotzdem hat es immer funktioniert, daher sind Masken mit Ventil oder Gesichtsvisiere verzichtbar.“

Visier ist nicht gleich Visier: Daher warnen auch beide Experten vor den sogenannten Kinnklappen, die „nicht mehr Schutz als ein Feigenblatt“ bieten. Ihre Nutzlosigkeit werde durch das Fehlen jeglicher Untersuchungen unterstrichen, meint Kollaritsch.

Problematische Superspreader

Das Wissen um Corona wird exakter. Einerseits lieferten invitro Untersuchungen Hinweise, dass die Infektiosität des genetisch dominanten Typus (D614G) des Corona-Virus zunimmt. Andererseits zeigt der epidemiologische Verlauf der Corona-Infektionen, dass Neuinfektionen bei Jüngeren steigen und daher auch die Gefahr asymptomatischer Verläufe zunehmen wird. „Es steigt die Gefährdung durch symptomlose Infizierte“, sagt Kollaritsch. Sie bleiben eine große Herausforderung, weil sie das Virus ausscheiden und „sich über ihren Zustand nicht im Klaren“ sind.

„Vor allem sind die sogenannten Superspreader hochinfektiös und vermutlich für mehr als 80 Prozent aller Infektionen verantwortlich“, führt Kollaritsch aus. Der niedrige Dispersionsfaktor macht eine Unterbrechung der Infektionsketten hochproblematisch, da er eine ungleichmäßige Reproduktionsrate widerspiegelt. Allerdings weiß man mittlerweile, dass lediglich ein Fünftel der Infizierten über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg asymptomatisch bleibt.

Dennoch ist weiterhin zu wenig über Transmission und Geschwindigkeit des Erregers, das Überleben des Erregers außerhalb des Körpers oder die Dauer seiner Infektiosität bekannt „Es fehlen derzeit einfach konkrete Studien zu diesen Fragen“, sagt Lass-Flörl. Daher: „Der Nachweis von Aerosolen ist aber kein Beweis dafür, dass es generell zur Infektion über die Luft kommt. Hier muss man klar wie sonst auch in der Infektionsprävention situationsbedingte Unterschiede verdeutlichen“. Die steigende Zahl von Fällen symptomatischer und asymptomatischer Infektionen erfordert jedenfalls eine Kombination von Präventionsmaßnahmen.

Ministerielle Empfehlung: Mund-Nasen-Schutz

Mit der ausdrücklichen Empfehlung, den Mund-Nasenschutz Gesichtsvisieren vorzuziehen reagierte das Gesundheitsministerium Mitte September dieses Jahres auf die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse. „Damit werden vor allem Risikogruppen vor symptomlosen Infizierten geschützt und es kann weiterhin eine größtmögliche Teilhabe am öffentlichen Leben wie Einkaufen oder die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel aufrechterhalten werden“, sagt Kollaritsch.

Ob Gesichtsvisiere oder Mund-Nasen-Schutz: Nach Ansicht von Lass-Flörl sind Balance und Ruhe gefragt. Ihre Empfehlung: „Wir müssen den Dschungel, in dem wir derzeit leben, etwas differenzierter betrachten, um die Bevölkerung nicht noch mehr zu verunsichern.“ Denn: „Gesunde und asymptomatische Träger können durchaus Gesichtsvisiere tragen, weil es ausreichend Daten über ihre Wirksamkeit bei anderen Infektionskrankheiten wie etwa Influenza und SARS gibt. Im speziellen Krankenhaus-Setting, in schlecht belüfteten Räumen mit vielen Menschen sowie beim Umgang mit symptomatisch Erkrankten sehe ich die Sache durchaus differenzierter“, erklärt Lass-Flörl. Kollaritsch dazu: „SARS ist im Gegensatz zu COVID viel schwerer übertragbar“.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2020