Anämie beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten: Kein Normalzustand

25.01.2020 | Medizin


Die Anämie beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten kommt nicht nur häu­fig vor; sie stellt auch meist ein mul­ti­fak­to­ri­el­les Gesche­hen dar. Bei der Abklä­rung der Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen ist es sinn­voll, sich am mitt­le­ren Zell­vo­lu­men der Ery­thro­zy­ten und damit am MCV zu ori­en­tie­ren.
Laura Scher­ber

Ebenso wie bei einem jun­gen Men­schen ist eine rele­vante Blut­ar­mut auch beim älte­ren Men­schen patho­lo­gisch und bedarf einer genauen Abklä­rung“, betont Assoc. Prof. Tho­mas Mel­chardt von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin III in Salz­burg. Die Anämie beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten wird häu­fig nicht ernst genom­men bezie­hungs­weise als Nor­mal­zu­stand ange­se­hen. Auch wenn epi­de­mio­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen gezeigt haben, dass die Nor­mal­werte des roten Blut­bil­des bei älte­ren Men­schen nied­ri­ger sind, sind die Unter­schiede doch sehr gering. „Beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten lie­gen der Anämie häu­fig mul­ti­fak­to­ri­elle Ursa­chen zugrunde, da allein durch das Alter meist meh­rere Erkran­kun­gen und Kom­or­bi­di­tä­ten vor­lie­gen“, erklärt Univ. Prof. Gün­ter Weiss von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin II in Inns­bruck. Die klas­si­sche Sym­pto­ma­tik umfasst Müdig­keit und Abge­schla­gen­heit, ein ver­mehr­tes Schlaf­be­dürf­nis, eine ver­min­derte Bewe­gungs­fä­hig­keit sowie ein grö­ße­res Risiko für Frailty. Andere Erkran­kun­gen wie die koro­nare Herz­er­kran­kung kön­nen durch die Anämie ent­spre­chend aggra­viert wer­den, da es durch eine Min­der­per­fu­sion des Myo­kards oder der Lunge zu Ein­schrän­kun­gen der kar­dio­vas­ku­lä­ren Leis­tungs­fä­hig­keit kommt.

Bei der Abklä­rung der Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen einer Anämie ist es Mel­chardt zufolge sinn­voll, sich am mitt­le­ren Zell­vo­lu­men der Ery­thro­zy­ten und damit am MCV zu ori­en­tie­ren. Die häu­figste Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose im Rah­men der mikro­zy­tä­ren Anämie ist der Eisen­man­gel, wobei hier laut dem Exper­ten genau dif­fe­ren­ziert wer­den muss. Liegt ein abso­lu­ter Eisen­man­gel vor, der durch ein nied­ri­ges Fer­ri­tin und eine nied­rige Trans­ferrin­sät­ti­gung gekenn­zeich­net ist, stellt sich immer die Frage nach dem „Warum“. Häu­fige Gründe für einen Eisen­man­gel wie die monat­li­chen Blu­tun­gen bei der prä­me­no­pau­sa­len Frau oder ent­spre­chende Wachs­tums­pha­sen bei Kin­dern ent­fal­len beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten. „Bei vie­len ger­ia­tri­schen Pati­en­ten kommt es zu gas­tro­in­testi­na­len und uro­ge­ni­talen Blut­ver­lus­ten, die durch Ade­nome, Ulzera oder Mikro­lä­sio­nen her­vor­ge­ru­fen wer­den“, erklärt Weiss. Ursäch­lich kön­nen aber auch bestimmte Medi­ka­mente sein, die ent­we­der die Blu­tungs­nei­gung erhö­hen wie Ace­tyl­sa­li­cyl­säure oder die neuen ora­len Anti­ko­agu­lan­tien (NOAK) oder Medi­ka­mente, die ein erhöh­tes Blu­tungs­ri­siko bedin­gen wie nicht-ste­ro­idale Anti­rheu­ma­tika. „Gleich­zei­tig tre­ten im höhe­ren Lebens­al­ter auch ver­mehrt bös­ar­tige Ver­än­de­run­gen der Schleim­haut wie Magen- oder Darm­kar­zi­nome auf“, betont Melchardt. 

Neben dem Eisen­ver­lust durch ent­spre­chende Blu­tun­gen kann der abso­lute Eisen­man­gel auch durch eine unzu­rei­chende Auf­nah­me­fä­hig­keit bedingt sein. Auf­nah­me­stö­run­gen tre­ten laut Weiss nicht sel­ten nach einer Ope­ra­tion im Gas­tro­in­testi­nal­trakt auf. Viele Erkran­kun­gen sind aber auch ein wesent­li­cher Risi­ko­fak­tor für die Anämie der chro­ni­schen Erkran­kun­gen (Anemia of chro­nic dise­ase), die bei einer Viel­zahl von Erkran­kun­gen zu fin­den ist. Weiss zufolge ist sie auf eine Immun­ak­ti­vie­rung zurück­zu­füh­ren bei­spiels­weise aus­ge­löst durch eine chro­ni­sche Infek­tion, Auto­im­mun­erkran­kun­gen, Tumore, Lun­gen­er­kran­kun­gen, eine Herz­in­suf­fi­zi­enz oder auch durch Dia­be­tes mel­li­tus oder eine nicht­al­ko­ho­li­sche Fett­le­ber­er­kran­kung. „Die Bil­dung von Zyto­ki­nen bewirkt, dass das Eisen aus der Zir­ku­la­tion in die Eisen­spei­cher im reti­ku­loen­do­the­lia­len Sys­tem ver­la­gert wird und für die Blut­bil­dung nicht mehr zur Ver­fü­gung steht“, erklärt der Experte. Im Gegen­satz zur Eisen-man­gel­an­ämie ist der Eisen­spie­gel im Serum bei der Anämie bei chro­ni­schen Erkran­kun­gen zwar ernied­rigt, der Fer­ri­tin­wert ist aber nor­mal oder erhöht. Laut Weiss ist es wich­tig, zu dif­fe­ren­zie­ren, wel­che chro­ni­sche Erkran­kung zugrunde liegt, ob diese behan­delt und dadurch die Anämie ver­bes­sert wer­den kann. Frag­lich ist auch, wel­che Rolle eine chro­ni­sche Inflamm­a­tion bei älte­ren Men­schen durch eine pro­gre­di­ente Athero­skle­rose für die Alters­an­ämie spielt.

Die Anämie chro­ni­scher Erkran­kun­gen ist in der Regel eine norm­ochrome norm­o­zy­täre Anämie; die Anämie beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten kann aber auch andere Ursa­chen haben. „Die Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz ist am wich­tigs­ten und wird häu­fig durch Begleit­erkran­kun­gen wie Hyper­to­nus und einen Dia­be­tes mel­li­tus begüns­tigt“, berich­tet Mel­chardt. Durch die Schä­di­gung des Nie­ren­pa­ren­chyms wird weni­ger Ery­thro­poe­tin pro­du­ziert und in wei­te­rer Folge zu wenig Ery­thro­zy­ten. Neben den Aus­wir­kun­gen auf die Ery­thro­poese kann es
durch eine ein­ge­schränkte Nie­ren­funk­tion auch zur Gas­tro­pa­thie kom­men, die mit Eisen­ver­lus­ten durch Mikro­blu­tun­gen ein­her­ge­hen kann. Außer­dem führt die Akku­mu­la­tion des Eisen­hor­mons Hep­ci­din zu einer ver­min­der­ten Eisen­re­sorp­tion, was die Anämie ent­spre­chend ver­schlech­tere, so Weiss. Die zweite wich­tige Ursa­che stellt die Anämie bei chro­ni­schen Erkran­kun­gen dar, die laut Mel­chardt nicht nur im Rah­men einer mikro­zy­tä­ren, son­dern auch im Rah­men einer norm­o­zy­tä­ren Anämie auf­tritt – je nach­dem, wie lange sie bereits besteht und wie aus­ge­prägt sie ist. „Die dritte Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose ist eine Kno­chen­marksnoxe wie etwa Alko­hol, Niko­tin oder Che­mi­ka­lien“, führt der Experte wei­ter aus. Nicht sel­ten han­delt es sich dabei um Medi­ka­mente, die in der Che­mo­the­ra­pie ein­ge­setzt wer­den oder Immun­sup­pres­siva als Bestand­teil der Behand­lung von rheu­ma­ti­scher Erkran­kun­gen. Eine wei­tere poten­ti­elle Ursa­che ist die Hämo­lyse, die bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten meist mecha­ni­scher Natur ist und zum Bei­spiel durch eine mecha­ni­sche Herz­klappe her­vor­ge­ru­fen wird, oder aber auch durch Autoimmunerkrankungen.

Makro­zy­täre Anämien mani­fes­tie­ren sich beson­ders im Rah­men des Vit­amin B12- oder Fol­säu­re­man­gels. Ein Groß­teil der ger­ia­tri­schen Pati­en­ten lei­det an Mal­nu­tri­tion; Demenz oder ein schlech­ter Zahn­sta­tus kön­nen das Pro­blem ver­schär­fen. Neben einem Vit­amin B12- und einem Fol­säure-Man­gel kann sich bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten auch schnell ein Vit­amin D‑Mangel ent­wi­ckeln – etwa wenn sie sich nicht mehr regel­mä­ßig in der Sonne auf­hal­ten. Da Vit­amin D auf das zen­trale Eisen­hor-mon Hep­ci­din wirkt, kommt es zu einer ver­min­der­ten
Eisen­re­sorp­tion im Darm und damit zu einer Art Eisen­man­gel­an­ämie. „Wei­tere häma­to­lo­gi­sche Ursa­chen kön­nen eine Stö­rung der Ery­thro­poese im Alter im Sinn eines mye­lo­dys­plas­ti­schen Syn­droms oder einer mye­lo­pro­li­fe­ra­ti­ven Erkran­kung sein, bei der die nor­ma­len ery­thro­poe­ti­schen Zel­len ver­drängt wer­den“, fügt Weiss hinzu. Die Abklä­rung erfolgt ent­we­der über gene­ti­sche Tests oder über Kno­chen­marks­bi­op­sien.

Ursa­che abklä­ren

Die Anämie beim ger­ia­tri­schen Pati­en­ten ist häu­fig ein mul­ti­fak­to­ri­el­les Gesche­hen und bedarf einer ent­spre­chen­den Abklä­rung. „Wich­tig ist zu schauen, ob der Anämie eine behan­del­bare Ursa­che wie ein
Vit­amin D- oder Eisen­man­gel oder eine ent­zünd­li­che Grund­er­kran­kung zugrunde liegt, die man behan­deln kann“, betont Weiss. Für die pri­märe Basis­dia­gnos­tik reicht die Kon­trolle des Blut­bil­des mit der Bestim­mung des Eisen- und Vit­amin­sta­tus und der Nie­ren­funk­tion aus. Zusätz­li­che Abklä­run­gen betref­fen den Vit­amin-B12‑, Fol­säure- und Ery­thro­poe­tin­spie­gel sowie die Milz­größe, Leber­größe und Leber­be­schaf­fen­heit; sie sind den Aus­sa­gen von Mel­chardt zufolge jedoch nicht immer indi­ziert. Auch ein Bauch-Ultra­schall oder eine Endo­sko­pie kön­nen mit­un­ter not­wen­dig sein.

Je nach Ursa­che kön­nen Eisen- oder Vit­amin-Man­gel­zu­stände durch eine ent­spre­chende Sub­sti­tu­tion beho­ben wer­den. Eine Blut­trans­fu­sion in der Akut­si­tua­tion oder die Gabe von Ery­thro­poe­tin bei einer Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz kann die Anämie ver­bes­sern. „Häu­fig kann man die zugrun­de­lie­gen­den Pro­bleme bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten wie zum Bei­spiel eine Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz nicht so ein­fach behe­ben“, weiß Melchardt.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.1.2020