Standpunkt Herwig Lindner: Plädoyer für die Vielfalt

15.08.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK

© Bernhard Noll

Es gibt zu wenig Kassenärzte, vor allem mangelt es an Allgemeinmedizinern, Kinderärzten und Gynäkologen. Das scheint mittlerweile auch die Politik verstanden zu haben. Die Ärztekammer weist seit Jahren auf dieses Problem hin und fordert bessere Kassenverträge und flexiblere Arbeitsmodelle für Ärzte.

Die Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene scheinen aber nur halb zugehört zu haben und starten in jedem Bundesland unterschiedliche Pilotprojekte, vom Fachärzte-Ambulatorium bis zur Primärversorgungseinheit scheinen der Fantasie keine Grenzen gesetzt zu sein. Eine besonders abenteuerliche Kombination wird nun in der Steiermark getestet. Hier sollen staatlich finanzierte Ambulatorien mit „Kassenärzten“ aus Spitälern – auf Honorarbasis – besetzt werden. Diese Zentralisierung höhlt das über Jahrzehnte gewachsene und bewährte Kassensystem weiter aus und führt sicher nicht zur vielbeschworenen Entflechtung, sondern zu einer Verschleierung der tatsächlichen Finanzierung. Von einer Zwei- oder Mehrklassenmedizin gar nicht zu reden.

Die BKAÄ hat zuletzt eine Resolution für den Ausbau von Ambulanzen vorgelagerten Strukturen beschlossen. Die Politik muss an das bedarfsorientierte, gut abgestimmte, integrierte Versorgungskonzept erinnert werden, das vor fast 20 Jahren entwickelt wurde. Es war nicht das schlechteste, scheint aber vergessen. Immer neue Strukturen aufzubauen statt die bestehenden zu verbessern ist politischer Populismus, der dazu führen wird, dass nicht nur die Patienten zwischen Versorgungsebenen und -strukturen herumirren, sondern auch die Ärzte.

Für die Zukunft wird es auch wichtig sein, auf aktuelle Entwicklungen einzugehen und den telemedizinischen Bereich sowie eine Vielfalt an ärztlichen Niederlassungsmöglichkeiten zu fördern. Von der Gruppenpraxis über Jobsharing bis zur Anstellung Arzt-bei-Arzt soll der freie Beruf des Arztes maximale Flexibilität bieten. Der Facharzt für Allgemeinmedizin ist ein Gebot der Stunde.

In Österreich gibt es immer mehr Menschen und mit der Lebenserwartung steigt auch die Multimorbidität. Demgegenüber stehen weniger Kassenärzte als vor 10 Jahren. Um sicherzustellen, dass die gewonnenen Lebensjahre gut und wohnortnah medizinisch betreut verbracht werden können, brauchen wir dringend mehr Ärzte am Land. Dazu muss eine Attraktivierung der Kassenstellen stattfinden.

Wir dürfen das Land nicht aufgeben!

Dr. Herwig Lindner
1. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2020