Medizinaufnahmetest: Gegen die Zeit

10.09.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK


Der Medizinaufnahmetest fand mit Verspätung und unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen Mitte August statt. Ob die geprüften Inhalte für die Vorselektion für zukünftige Ärzte geeignet sind, darüber scheiden sich die Geister. Ein Lokalaugenschein.
Sophie Niedenzu

Es ist ein Tag, an dem vor allem zwei Dinge zählen: Schnelligkeit und Konzentration. Von der Decke der Messehalle A in Wien hängen zahlreiche digitale Uhren. Denn eigene Uhren, wie auch Schreibgeräte, eigenes Papier, Taschen, Handys und sämtliche elektronische Geräte stehen auf der Liste der verbotenen Gegenstände. Bereits in der U-Bahn auf dem Weg zur Messe fallen die Teilnehmer am Medizinaufnahmetest durch ihre durchsichtigen Plastiksackerl auf. Und auch dadurch, dass sie viel miteinander reden. Selten schaut jemand auf sein Handy, offenbar ist es oft daheim geblieben. Denn wer zum Test nur erlaubte Gegenstände wie Getränke, Jause, Geldtasche, Schlüssel ohne Anhänger sowie einzelne Taschentücher mitnimmt, erspart sich Warteschlangen bei den Garderoben und gehört auch zu den ersten, die die Messehallen wieder verlassen werden.

Der Medizinaufnahmetest (MedAT) ist jedes Jahr mit hohem organisatorischem Aufwand verbunden. Anita Rieder, Vizerektorin an der Medizinischen Universität Wien, bezeichnete ihn als „unser jährliches Rolling-Stones-Konzert“. Und dieses Jahr hat dieser Test SARS-CoV-2-bedingt nicht wie sonst üblich Anfang Juli, sondern Mitte August stattgefunden – unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen: Das beginnt bei gestaffelten Einlässen über verschiedene Eingänge innerhalb von definierten Zeitslots, geht über Händedesinfektion, kontaktloses Fiebermessern, Abstandsmarkierungen bis zum verpflichtenden Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im gesamten Areal. Nur während des Tests selbst darf der Mund-Nasen-Schutz abgenommen werden, erst nach Aufforderung des Moderators, der am Podium in der Mitte der Halle steht.

Flucht ins Private

Der Bewerberschwund ist heuer größer als in den Vorjahren: Ein Drittel statt der bislang 20 Prozent ist nicht erschienen: Von den ursprünglich 17.599 Angemeldeten sind 12.443 tatsächlich angetreten – österreichweit werden davon ab Oktober 1.596 mit ihrem Studium der Humanmedizin und 144 mit Zahnmedizin anfangen. Manchen ist die Anspannung am Gesicht abzulesen, andere wirken gelassen, es wird viel miteinander gesprochen – bereits im Vorfeld war der Austausch über Social-Media-Kanäle enorm. Wie und womit gelernt wurde, gehört zu den am häufigsten vernommenen Fragen. Nicht ohne Grund: Es gibt zahlreiche Vorbereitungskurse und simulierte Tests, das Angebot ist schier enorm – und sehr oft kostenpflichtig. „Ich halte nichts von dieser Geschäftemacherei mit angehenden Medizinstudierenden“, sagt Harald Mayer, Vizepräsident und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte der Österreichischen Ärztekammer. Auch Turnusärztevertreter Daniel von Langen betont: „Diese kostenpflichtigen Angebote für die Testvorbereitung fördern nicht die soziale Gerechtigkeit“.

Die Teilnehmer sind stark durchmischt: Nicht alle haben heuer erst ihre Matura absolviert, einige studieren bereits ein anderes Fach. Viele berichten, dass sie nicht zum ersten Mal da sind. Die 23-jährige Anita ist eine davon. Sie kennt das Prozedere schon genau und sitzt gelassen an ihrem Tisch: „Beim ersten Mal bin ich völlig unvorbereitet hingegangen, ich wollte wissen, wie das abläuft. Beim zweiten Mal war ich auf Warteplatzposition 17. Ich versuche es jetzt noch einmal“, sagt sie. Anita engagiert sich bei der Rettung und studiert Krankenpflege an der FH. Zum ersten Mal mit dabei ist die 35-jährige Sarah, die in einer Rechtsanwaltskanzlei arbeitet. Sie möchte gerne etwas Neues machen, für den MedAT vorbereitet habe sie sich etwas, aber nicht übertrieben viel, betont sie. Ihren ersten Antritt hat auch Lea (24), die gerade eine Ausbildung zur Psychotherapie macht. Eine Selektion sei angesichts des Andrangs und der Kapazitäten der Universitäten nachvollziehbar, aber: „Sinnvoller wäre es, beim schriftlichen Teil mehrere Kandidaten durchzulassen und eine zweite Ebene mit persönlichen Gesprächen zu führen“, sagt sie. Private medizinische Universitäten seien ein Alternativplan, viele würden auch nach Bratislava gehen, berichten die Kandidatinnen. Sie sind sich aber einig: Die öffentlichen medizinischen Universitäten seien die bessere Wahl.

Qualität der Selektion

Bevor ein Aufnahmeverfahren 2006 eingeführt wurde, lag die Absolventenquote an der MedUni Wien bei 30 bis 50 Prozent, die durchschnittliche Studiendauer betrug 22 Semester. Heute hingegen schließen 90 Prozent ihr Medizinstudium ab, und das im Schnitt nach knapp über 12 Semestern. „Diese Zahlen zeigen natürlich, dass ein Vorfiltern die Effizienz erhöht. Aber sie sagen nichts über die Qualität des Auswahlverfahrens aus“, sagt von Langen. Es sei unbestritten, dass es bei so vielen Bewerbern eine Form der Selektion für das Medizinstudium brauche. Doch den potentiellen Studienbeginnern einen Aufnahmetest vorzulegen, der ihre persönliche Entwicklung vorhersage, sei eine Herausforderung: „Man darf nicht vergessen, dass zwischen dem Medizinaufnahmetest und der eigenständigen ärztlichen Tätigkeit zehn bis zwölf Jahre vergehen“, gibt der Turnusärztevertreter zu bedenken. Er ist überzeugt: „Diese Testverfahren für die Zulassung zu einem Medizinstudium können sicher verbessert werden, auch mit Unterstützung von Ärzten.“ Mayer ergänzt: „Sehr gerne setzen wir uns von der Ärztekammer gemeinsam mit den Verantwortlichen an einen Tisch und arbeiten gemeinsam an einem Konzept.“

Die Frage, ob der MedAT tatsächlich die besten Ärzte selektiert, ist eine viel diskutierte. Auch am Testtag selbst. Von „völlig absurd“ ist die Rede bis hin zur Sprachlosigkeit angesichts mancher gestellten Aufgaben, insbesondere beim sozialemotionalen Kompetenzteil. Wer bereits angetreten ist, lässt sich hier weniger aus der Bahn werfen. „Ich frage mich schon, ob das, was hier abgefragt wird, wirklich Voraussetzung für den Arztberuf ist“, sagt Lea. Der MedAT in dieser Form fand vor sieben Jahren österreichweit zum ersten Mal statt und wurde im Laufe der Jahre adaptiert.

Unter Zeitdruck sozial entscheiden

Zurück zum Testtag: Am Vormittag stehen die Basiskenntnisse Medizinische Studien (BMS) und Textverständnis auf dem Programm. Abgefragt wird Basiswissen aus Biologie, Chemie, Physik und Mathematik – insgesamt dauert dieser Teil 75 Minuten, 30 Minuten davon allein für Biologie. Im Anschluss wird die Lesekompetenz und Textverständnis abgefragt. Nachdem die Aufsichtspersonen alle Testhefte und Antwortbögen eingesammelt haben, beginnt die einstündige Mittagspause – in dieser dürfen sich die Teilnehmer nicht von ihrem Platz bewegen, nur für den Gang auf das WC. Wer die Halle verlässt, darf nicht mehr hinein. Ein häufig vernommener Grundtenor nach dem BMS: „Das war einfacher als erwartet.“ Anders sieht es beim Textverständnis aus, hier klagen einige, dass sie unter Zeitdruck gestanden seien.

Der Nachmittagsteil sei anstrengender und unberechenbarer, sagt Anita. Hier werden Kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten (KFF) und Sozial-emotionale Kompetenzen (SEK) geprüft. Der KFF-Teil ist aufgeteilt in Figuren zusammensetzen, Gedächtnis und Merkfähigkeit, Zahlenfolgen, Wortflüssigkeit und Implikationen erkennen. Hier müssen beispielsweise innerhalb von 20 Minuten 15 Figuren visuell zusammengefügt werden, innerhalb von acht Minuten acht verschiedene Allergiepässe ohne Notizen eingeprägt und zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden – ein Fragenbeispiel: „Bei welcher Person beginnt die Ausweisnummer mit 6?“ Im abschließenden Prüfungsteil SEK müssen Emotionen anhand einer geschilderten Situation erkannt und Entscheidungen im sozialen Kontext in ihrer Bedeutung gereiht werden. Insgesamt werden die Testteile BMS und KFF bei der Beurteilung mit 40 Prozent gewichtet, die Testteile TV und SEK mit jeweils zehn Prozent.

Nach über 200 Multiple-Choice-Fragen neigt sich der Prüfungstag am späteren Nachmittag dem Ende zu. Zum Abschluss, bevor die Prüflinge die Messe sektorweise und nacheinander wieder verlassen dürfen, bedankt sich der Moderator für die große Disziplin, die während des gesamten Tages geherrscht hat.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2020