BKNÄ: Kein Nut­zen durch Aut idem

15.08.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK


„Die the­ra­peu­ti­sche Ent­schei­dungs­ho­heit muss dort blei­ben, wo sie hin­ge­hört – beim Arzt“, for­derte Johan­nes Stein­hart, Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­sche Ärz­te­kam­mer und Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte.

„Tra­di­tio­nell gab und gibt es in Öster­reich eine sehr ver­nünf­tige Tren­nung zwi­schen der Arz­nei­mit­tel­ver­ord­nung durch Ärz­tin­nen und Ärzte einer­seits und der Abgabe die­ser Medi­ka­mente durch Apo­the­ken ande­rer­seits“, erläu­terte Johan­nes Stein­hart, Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer und Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte, Ende Juli in einem Pres­se­ge­spräch. „Die Ent­schei­dungs­ho­heit über die Ver­schrei­bung von rezept­pflich­ti­gen Medi­ka­men­ten liegt aus guten Grün­den bei den Ärz­ten, die dafür durch ihr Medi­zin­stu­dium und die ver­pflich­tend vor­ge­schrie­be­nen Aus- und Wei­ter­bil­dun­gen bes­tens vor­be­rei­tet sind. Die Schlüs­sel­rolle des Arz­tes in der medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie infrage zu stel­len, kam in unse­rem Gesund­heits­sys­tem aus guten Grün­den so gut wie nie­man­dem ernst­haft in den Sinn. Seit eini­ger Zeit ist das lei­der anders.“

Die Stan­des­ver­tre­tung der Apo­the­ker nimmt Lie­fer­eng­pässe in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit zum Anlass, um eine Aut-idem-Rege­lung zu for­dern: Apo­the­ker soll­ten die gene­relle Mög­lich­keit erhal­ten, bei wirk­li­cher oder angeb­li­cher Nicht-Lie­fer­bar­keit das vom Arzt ver­schrie­bene Medi­ka­ment durch ein ande­res, ihrer Ansicht nach wirk­stoff­glei­ches, zu erset­zen. „Das soll angeb­lich Lie­fer­eng­pässe ver­mei­den. In die­sem Zusam­men­hang muss aller­dings kri­tisch ange­merkt wer­den, dass man­che Lie­fer­eng­pässe durch Apo­the­ken bezie­hungs­weise den Groß­han­del selbst ver­ur­sacht wur­den: Sie ver­kauf­ten Medi­ka­mente über soge­nannte Par­al­lel­ex­porte an das Aus­land, wo höhere Gewinn­span­nen wink­ten – auch dadurch ist es in Öster­reich zu einer Knapp­heit gekom­men“, gab Stein­hart zu bedenken.

„Aus unse­rer Sicht stel­len die jüngs­ten, ein­sei­ti­gen Vor­stöße in Rich­tung Aut idem mas­sive und äußerst pro­ble­ma­ti­sche Ein­griffe in das bestehende Sys­tem dar“, warnte Stein­hart und nannte als wesent­li­che Kritikpunkte: 

  • Den Ärz­ten würde die Ent­schei­dungs­ho­heit über die Ver­ord­nung einer medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie, für die sie ver­ant­wort­lich sind, ent­zo­gen werden.
  • Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass die Apo­the­ken bei der Aus­wahl einer Arz­nei­spe­zia­li­tät nach wirt­schaft­li­chen Kri­te­rien vor­ge­hen, also zum Bei­spiel das Medi­ka­ment mit der größ­ten Gewinn­spanne bevor­zugt abge­ben werden.
  • Ein häu­fi­ger Wech­sel von Han­dels­prä­pa­ra­ten hätte nega­tive Aus­wir­kun­gen auf die Com­pli­ance und erhöht das Risiko von Fehl- und/​oder Mehr­fach­ein­nah­men mit ent­spre­chend ungüns­ti­gen Aus­wir­kun­gen auf Pati­en­ten und ihren Krankheitsverlauf.
  • Dass Aut idem oder die Wirk­stoff­ver­ord­nung grund­sätz­lich Eng­pässe in der Medi­ka­men­ten­ver­sor­gung lösen kön­nen und außer­dem das Gesund­heits­bud­get ent­las­ten, ist ein Schein­ar­gu­ment. Dahin­ter ste­hen die wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen des Medi­ka­men­ten­groß­han­dels und sei­ner Apotheken. 
  • Ein Ein­spa­rungs­po­ten­zial durch Aut idem ist nicht vorhanden.
  • Aut idem und Wirk­stoff­ver­ord­nung bräch­ten also Pati­en­ten, Ärz­ten und der Gesund­heits­ver­sor­gung kei­nen Nut­zen, dafür aber viele Nach­tei­len. Vor­teile brin­gen sie aus­schließ­lich dem Medi­ka­men­ten­groß­han­del und sei­nen Apotheken.

„Eine Lösung bei Lie­fer­eng­päs­sen kann ein ‚Aut idem‘ sein, das auf der Arzt-Ebene statt­fin­det. Der Arzt muss beim Ver­schrei­ben schon durch ein Soft­ware-Tool infor­miert wer­den, dass das Medi­ka­ment nicht lie­fer­bar ist. Dann kann er mit sei­ner medi­zi­ni­schen Kom­pe­tenz und dem Wis­sen um die Kran­ken­ge­schichte sei­nes Pati­en­ten ein ande­res Medi­ka­ment ver­schrei­ben“, so Steinhart.

„Kei­ner­lei Vorteile“

Ähn­lich sah es Michael Freiss­muth, Lei­ter des Zen­trums für Phy­sio­lo­gie und Phar­ma­ko­lo­gie der Med­Uni Wien: „Eine Aut idem-Rege­lung würde der öffent­li­chen Hand keine nen­nens­wer­ten Ein­spa­rungs­po­ten­ziale brin­gen, bei vie­len Pati­en­ten Ver­un­si­che­rung erzeu­gen, das Risiko von Ein­nah­me­feh­lern erhö­hen und völ­lig ein­sei­tig den Arz­nei­mit­tel­groß­han­del mit sei­nen Apo­the­ken bevor­zu­gen. Pati­en­ten und ihrer Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten brächte eine Aut idem-Rege­lung kei­ner­lei Vor­teile“, so Freissmuth.

Freiss­muth erklärte dazu: „Dass es Gene­rika gibt, ist grund­sätz­lich etwas sehr Sinn­vol­les. Es gibt in den moder­nen Gesund­heits­sys­te­men einen Kon­sens, dass Unter­neh­men, die das kost­spie­lige Risiko der Ent­wick­lung neuer Arz­nei­mit­tel in Kauf neh­men, durch den Patent­schutz einige Jahre Markt­ex­klu­si­vi­tät haben und Umsätze gene­rie­ren kön­nen. Nach etwa acht Jah­ren müs­sen sie ihre Daten offen­le­gen, damit wirk­stoff­glei­che Gene­rika ent­wi­ckelt wer­den kön­nen. Diese sol­len etwa zehn Jahre nach der Markt­ein­füh­rung des Ori­gi­nal­prä­pa­rats auf den Markt kom­men und bewir­ken dann eine stu­fen­weise Preis­re­duk­tion auch des Ori­gi­nal­prä­pa­rats, in vie­len Fäl­len bis hin zum Preis der Rezept­ge­bühr. Durch diese Preis­spi­rale nach unten kön­nen öffent­li­che Arz­nei­mit­tel­aus­ga­ben redu­ziert wer­den, und in der soli­da­ri­schen Gesund­heits­ver­sor­gung wird Geld frei für neue, inno­va­tive, oft sehr kost­spie­lige Medi­ka­mente. Gleich­zei­tig wer­den die for­schen­den phar­ma­zeu­ti­schen Unter­neh­men, die an sol­chen Ori­gi­nal­prä­pa­ra­ten immer weni­ger ver­die­nen, dazu moti­viert, in die For­schung und Ent­wick­lung von Inno­va­tio­nen zu investieren.“

„Wenn immer wie­der behaup­tet wird, eine Aut-idem-Rege­lung würde gleich­sam auto­ma­tisch die Arz­nei­mit­tel­aus­ga­ben sen­ken, so trifft dies schlicht nicht zu“, sagte Freiss­muth. Für eine kon­se­quente Preis­sen­kung müsste man das öster­rei­chi­sche Erstat­tungs­sys­tem von Grund auf ändern und nach einer gänz­lich neuen Logik orga­ni­sie­ren. „Es müsste von öffent­li­chen Stel­len betrie­bene, regel­mä­ßige Bie­ter­ver­fah­ren für ein­zelne Medi­ka­mente geben, und das preis­güns­tigste Medi­ka­ment würde dann jeweils das Ren­nen machen: Es wäre als ein­zi­ges sei­ner Gruppe auf Kas­sen­re­zept zu den defi­nier­ten Rezept­ge­büh­ren in den Apo­the­ken erhält­lich. Also ohne Bie­ter­ver­fah­ren keine Ein­spa­rung. So eine Rege­lung ist sicher­lich mach­bar, kann aber zu Kon­se­quen­zen füh­ren, die oft unvor­her­seh­bar sind. Ein Bei­spiel ist die pro­ble­ma­ti­sche Abhän­gig­keit von einem ein­zi­gen Pro­du­zen­ten“, so Freissmuth.

„Von einer Aut-idem-Rege­lung, die darin besteht, dass der Apo­the­ker Pati­en­ten nicht das vom Arzt ver­ord­nete rezept­pflich­tige Medi­ka­ment ver­kauft, son­dern ein gleich­wer­ti­ges ver­kau­fen kann, pro­fi­tie­ren im Wesent­li­chen der phar­ma­zeu­ti­sche Groß­han­del und seine Apo­the­ken“, sagte Freiss­muth. In der Pra­xis werde hier von Neben­ab­spra­chen aus­zu­ge­hen sein, die eine Bevor­zu­gung bestimm­ter Pro­dukte zum Inhalt haben wür­den, womit auch die Her­stel­ler von Medi­ka­men­ten bezüg­lich der Höhe der Ein­kaufs­preise unter Druck gesetzt wer­den kön­nen. „Groß­han­del und Apo­the­ken müss­ten dann nur noch sehr wenige Medi­ka­mente vor­hal­ten, die Lager­kos­ten sin­ken und gleich­zei­tig könn­ten auch jene Apo­the­ken, die nicht dem Groß­han­del ange­hö­ren, unter Druck gesetzt wer­den. Das staat­li­che Arz­nei­mit­tel­bud­get würde von so einer Rege­lung, die sehr ein­sei­tig den Groß­han­del mit sei­nen Apo­the­ken bevor­zugt, nicht pro­fi­tie­ren“, fasste Freiss­muth zusammen.

„Eine sehr uner­wünschte Neben­wir­kung von Aut idem ist das gestei­gerte Risiko von Ein­nah­me­feh­lern und die Ver­un­si­che­rung ins­be­son­dere älte­rer oder kogni­tiv bereits ein­ge­schränk­ter Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten“, sagte Freiss­muth: „Men­schen, die meh­rere Medi­ka­mente ein­neh­men – und das kommt bei älte­ren Per­so­nen beson­ders häu­fig vor -, hilft die Farbe und Form der ein­zel­nen Arz­neien bei der Ori­en­tie­rung und unter­stützt sie dabei, Ein­nah­me­irr­tü­mer zu ver­mei­den. Wer­den Medi­ka­mente immer wie­der durch andere ersetzt, die eine andere Form und/​oder Farbe auf­wei­sen, so bedeu­tet das ein zusätz­li­ches Risiko. Natür­lich kann man in vie­len Fäl­len durch inten­sive Auf­klä­rung und Infor­ma­tion Ein­nah­me­feh­lern ent­ge­gen­wir­ken, doch ist das ein beträcht­li­cher zeit­li­cher Auf­wand, und Zeit ist bekannt­lich in der Medi­zin eine knappe Res­source. Die­ser Zeit­auf­wand müsste jeden­falls auch finan­zi­ell abge­gol­ten wer­den, was dem Ziel der Ein­spa­rung abträg­lich ist“, erläu­terte Freissmuth.

„Aut idem ist also ins­ge­samt weder für Pati­en­ten noch für Ärzte noch für phar­ma­zeu­ti­sche Unter­neh­men noch für das soli­da­ri­sche Gesund­heits­sys­tem eine gute Lösung. Man sollte diese nicht emp­feh­len“, so Freiss­muth abschließend.

„Rigo­ros abzulehnen“

„Die the­ra­peu­ti­sche Ent­schei­dungs­ho­heit muss beim Arzt ver­blei­ben“, fasste Johan­nes Stein­hart die Posi­tion der Ärz­te­schaft zusam­men. „In der Gesund­heits­ver­sor­gung sollte jeder Gesund­heits­be­ruf das tun, was er am bes­ten kann: Der Arzt soll Medi­ka­mente ver­schrei­ben, der Apo­the­ker abge­ben. Eine Über­tra­gung der Ent­schei­dung über die indi­vi­du­ell abge­ge­bene Arz­nei­spe­zia­li­tät vom Arzt auf den Apo­the­ker wäre rein wirt­schaft­lich moti­viert und ginge auf Kos­ten der Ver­sor­gung. Sol­che Schein­lö­sun­gen sind aus der Sicht der Ärz­te­ver­tre­tung rigo­ros abzulehnen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2020