Por­trät Chris­tine Preiß­mann: „Ich reagiere nicht emotional”

25.02.2019 | Themen


Als Fach­ärz­tin für All­ge­mein­me­di­zin und Psy­cho­the­ra­peu­tin hat Chris­tine Preiß­mann unzäh­lige Bücher über Autis­mus geschrie­ben und führt seit kur­zem eine Ambu­lanz für betrof­fene Men­schen. Dass sie nicht emo­tio­nal reagiert, erweist sich bei der Behand­lung von Sucht­kran­ken als beson­dere Stärke. Denn: Preiß­mann ist selbst Autis­tin.
Ursula Jung­meier-Scholz

Was macht eine Ärz­tin, die Emo­tio­nen ihrer Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten nur schwer deren Gesichts­aus­druck ent­neh­men kann? Sie erkun­digt sich nach dem Befin­den. „Wo Kol­le­gen eher fra­gen: ‚Warum sehen Sie heute so trau­rig aus?´ frage ich: ‚Was ist los mit Ihnen?“, erklärt Chris­tine Preiß­mann. „Anhand der Ant­wort kann ich dann gut ein­schät­zen, wie beein­träch­tigt der Pati­ent ist.“

Preiß­mann meis­tert nicht nur ihren All­tag in einer süd­hes­si­schen psych­ia­tri­schen Kli­nik, wo die 48-jäh­rige Fach­ärz­tin für All­ge­mein­me­di­zin seit fast zwei Jahr­zehn­ten arbei­tet. Sie hat auch – nebst vie­len ande­ren – ein Buch namens „Autis­mus und Gesund­heit“ geschrie­ben, in dem sie Ärz­ten Ein­bli­cke in die Lebens­welt von Men­schen mit Autis­mus gibt. Dabei führt sie vor Augen, durch wel­che Ver­hal­tens­an­pas­sung ein für beide Sei­ten ange­neh­mes Arzt-Pati­en­ten-Ver­hält­nis ermög­licht wer­den kann.

Klare Spra­che erwünscht

Die Rede­wen­dung „vor Augen füh­ren“ wäre für Preiß­mann selbst aber mög­li­cher­weise bereits der erste Anlass für Ver­wir­rung. Wie nah jetzt heran an die Augen? Und wie kann man ein Abs­trak­tum wie eine Aus­wir­kung zum Auge brin­gen? Dass die Asper­ger-Autis­tin heute nur noch sel­ten von bild­haf­ter Spra­che ver­wirrt wird, liegt daran, dass sie meh­rere tau­send Redens­ar­ten und Sprich­wör­ter samt Bedeu­tung aus­wen­dig gelernt hat.

Einige ihrer Anre­gun­gen für das medi­zi­ni­sche Per­so­nal bezie­hen sich daher auch auf sprach­li­che Acht­sam­keit: „Beson­ders wich­tig sind ein­deu­tige For­mu­lie­run­gen“, erklärt sie. „Und ganz kon­kre­tes Nach­fra­gen, wel­che Art von Unter­stüt­zung der Pati­ent benö­tigt.“ Gleich nach dem Fra­gen kommt das Erklä­ren: „Men­schen mit Autis­mus müs­sen sich dar­auf ein­stel­len kön­nen, was sie erwar­tet und soll­ten nur nach Abspra­che berührt wer­den.“ Sie möch­ten alle Details über ihre Krank­heit erfah­ren, über die bevor­ste­hende The­ra­pie und den nächs­ten kon­kre­ten Schritt. Da sie Berüh­run­gen oft als schmerz­haft erle­ben, wäh­rend sie jenen Schmerz, der aus der Krank­heit oder Ver­let­zung resul­tiert, kaum wahr­neh­men, ist bei jeder manu­el­len Unter­su­chung viel Fin­ger­spit­zen­ge­fühl ange­sagt. „Und auch wenn sich Autis­ten oft umständ­lich aus­drü­cken und lang­sam arti­ku­lie­ren, sollte man sie immer aus­re­den las­sen.“ Im kli­ni­schen Umfeld emp­fiehlt die Exper­tin – wenn mög­lich – für Gesprä­che mit autis­ti­schen Pati­en­ten einen ruhi­gen Ort abseits des Tru­bels einer Ambu­lanz aufzusuchen.

Dia­gnose hat erleichtert

Als Preiß­mann selbst gegen Ende ihres Medi­zin­stu­di­ums die Dia­gnose Autis­mus erhielt, war sie froh dar­über, end­lich eine Erklä­rung für ihre Anders­ar­tig­keit gefun­den zu haben. An ihrem Berufs­wunsch hat diese Lebens­zä­sur aber nichts geän­dert. Die Vision vom Arzt­be­ruf war ent­stan­den, als sie in ihren Jugend­jah­ren wegen anhal­ten­der – ver­mut­lich psy­cho­so­ma­ti­scher – Knie­schmer­zen diverse Ärzte auf­su­chen musste, deren Tätig­keits­be­reich sie sofort fas­zi­nierte. Wohl aber hat sich durch die Dia­gnose ihre fach­li­che Aus­rich­tung geän­dert: in Rich­tung Psy­cho­the­ra­pie. Auf die­sem Weg ist sie auch zu ihrer aktu­el­len Arbeits­stelle gekom­men. „Ich brauchte für meine tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Wei­ter­bil­dung ein Pra­xis­jahr an einer psych­ia­tri­schen Kli­nik. Dort hat es mir so gut gefal­len, dass ich schließ­lich geblie­ben bin.“

Ruhe wirkt sich posi­tiv aus

Über viele Jahre arbei­tete Preiß­mann auf Sta­tion und beglei­tete Sucht­kranke bei der Ent­gif­tung. Ihre Beson­der­heit im Umgang mit Men­schen erwies sich dort als Stärke: „Ich reagiere nicht emo­tio­nal, son­dern bewahre auch dann Ruhe, wenn andere in Panik oder Wut gera­ten. Diese Ruhe wirkt sich posi­tiv aus, vor allem wenn die Pati­en­ten selbst gerade große Angst oder Schmerz erle­ben.“ Schwie­rig­kei­ten emp­fin­det sie dabei, ande­ren direkt in die Augen zu schauen – und dar­auf haben sie Pati­en­ten auch schon ange­spro­chen. „Dafür musste ich mir ein paar Sätze als Stan­dard­re­ak­tion zurecht­le­gen. Bei­spiels­weise dass jeder Mensch eben seine Stär­ken und Schwä­chen hat.“

Seit Okto­ber des Vor­jah­res hat sich das Auf­ga­ben­ge­biet von Preiß­mann ver­la­gert und erwei­tert: Nun führt sie an der­sel­ben Kli­nik auch eine eigene Ambu­lanz für autis­ti­sche Men­schen. Das Stun­den­aus­maß hat Preiß­mann trotz­dem bewusst bei ihrer 75-Pro­zent-Anstel­lung belas­sen. Nicht nur, weil sie der enge Umgang mit wech­seln­den Men­schen schnel­ler ermü­det als das bei Nicht-Autis­ten der Fall ist, son­dern auch weil sie lau­fend neue Bücher über Autis­mus schreibt und außer­dem im gesam­ten deutsch­spra­chi­gen Raum einer sehr regen Vor­trags­tä­tig­keit nach­geht. Mit die­sem Enga­ge­ment bringt sie Fach­leu­ten wie Betrof­fe­nen und deren Eltern näher, was Autis­mus ist und wie man trotz beson­de­rer Bedürf­nisse ein erfüll­tes Leben füh­ren kann.

Stille Mäd­chen – späte Diagnose

Ein gro­ßes Anlie­gen ist es ihr, auf die spe­zi­el­len Bedürf­nisse von autis­ti­schen Mäd­chen und Frauen auf­merk­sam zu machen. „Da sie sich meist stil­ler und zurück­hal­ten­der ver­hal­ten als autis­ti­sche Jun­gen, erhal­ten sie oft erst spät eine Dia­gnose.“ Spe­zi­ell in der Puber­tät benö­ti­gen sie mehr Zeit für die Iden­ti­täts­fin­dung, haben Schwie­rig­kei­ten, die in der Peer Group übli­chen tief emo­tio­na­len Freund­schaf­ten zu füh­ren – und ver­ein­sa­men daher leicht. „So erschre­ckend es klingt: Stu­di­en­ergeb­nisse bele­gen, dass das am häu­figs­ten von Autis­ten selbst wahr­ge­nom­mene Gefühl die Angst ist.“

Die als kri­sen­haft erleb­ten Jugend­jahre hat Preiß­mann bewäl­tigt – und auch so man­che depres­sive Phase in ihrem Leben. Freund­schaf­ten und Lie­bes­be­zie­hun­gen fal­len ihr mit autis­ti­schen Men­schen leich­ter als mit Men­schen, denen sie ihre Beson­der­heit erst erklä­ren muss. Eine große Stütze waren und sind ihre Eltern. Erst vor vier Jah­ren hat Chris­tine Preiß­mann ihren eige­nen Haus­halt gegrün­det, den sie mit Unter­stüt­zung einer Ergo­the­ra­peu­tin führt.

Anker­punkt im Jahr

Zwar benö­tigt sie beim Ein­kau­fen oder dem Woh­nungs­putz Hilfe; den Flug­plan von Frank­furt kann sie dafür aus­wen­dig. Am Flug­ha­fen fühlt sie sich beson­ders wohl – unter vie­len Men­schen, von denen ihr nie­mand emo­tio­nal zu nahe tritt. Aber auch ihre gelieb­ten Fern­rei­sen star­ten hier und haben sie schon bis in die Ant­ark­tis geführt. Dem­nächst steht Costa Rica auf dem Pro­gramm; den Rei­se­ab­lauf hat sie bereits minu­tiös durch­ge­plant. Denn nicht nur beim Arzt weiß sie gerne, was als nächs­tes ansteht.

Besucht Preiß­mann aus­wärts eine Fort­bil­dung und muss sich unter­tags auf viel Neues ein­stel­len, führt sie zum Aus­gleich eine Weih­nachts­zeit­schrift mit im Gepäck. Beim abend­li­chen Durch­blät­tern fin­det sie ihre Ruhe wie­der. Neben Plä­nen – von Weih­nachts­märk­ten wie Flug­plät­zen – und Fern­rei­sen bezeich­net sie näm­lich „Weih­nach­ten“ als ihr per­sön­li­ches Spe­zi­al­in­ter­esse. Der jähr­lich gleich­blei­bende Ablauf des Fes­tes, der reli­giöse Hin­ter­grund, die Lie­der, die Rituale und die Ver­ei­ni­gung der Groß­fa­mi­lie geben ihr nicht nur Sicher­heit und Halt, son­dern sind ein all­jähr­li­cher Quell der Freude.

Mit ihren Vor­trä­gen und Büchern, die so peni­bel getex­tet sind, dass sie kein Lek­to­rat mehr benö­ti­gen, ist Preiß­mann mitt­ler­weile selbst so etwas wie ein Weih­nachts­stern: eine weit­hin sicht­bare Ori­en­tie­rungs­hilfe für Men­schen mit Autis­mus und für all jene, die ihnen zur Seite stehen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 4 /​25.02.2019