Paper of the Month: Nichtbeachtung von Dosierungswarnungen

25.05.2019 | Service


Ärztinnen und Ärzte übergehen den überwiegenden Teil von elektronischen Dosierungswarnungen, wie eine Studie auf Intensivstationen zeigt. Allerdings beurteilten Gutachter dies in 89 Prozent der Fälle als klinisch angemessen. Deswegen sollten die Algorithmen für Dosierungswarnmeldungen angepasst werden.

Wong A. et al. (2018) untersuchten auf sechs Intensivstationen eines Spitals, wie häufig Dosierungswarnungen übergangen beziehungsweise die Dosierungen angepasst werden. Ebenso wurde überprüft, ob diese Entscheidungen klinisch angemessen sind und ob mit dem Übergehen der Warnung das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelereignissen begünstigt wird. Warnmeldungen wurden dann ausgelöst, wenn die verordnete Dosis mindestens fünf Prozent über der Tagesdosis eines Medikamentes lag. Die klinische Angemessenheit der übergangenen Warnungen wurde durch zwei Experten begutachtet. Sie benutzten dafür ein in einer interdisziplinären Fachgruppe definiertes, für jedes Medikament spezifisches Kriterien-Set. Bei den Verordnungen mit übergangener Warnung und erfolgter Medikamentengabe wurde anhand der Krankenakte geprüft, ob die Medikamentengabe zu einem unerwünschten Arzneimittelereignis geführt hat. Zwei Gutachter bewerteten unabhängig voneinander die Wahrscheinlichkeit für ein unerwünschtes Arzneimittelereignis sowie dessen Schwere. Insgesamt wurden die Daten von 755 Patienten in die Studie aufgenommen.

Während der Beobachtungszeit gab das System 1.525 Dosierungswarnungen aus – 93 Prozent davon wurden übergangen. Am häufigsten wurden Warnungen zur Dosierung bei kontinuierlichen Insulininfusionen (18,5 Prozent der übergangenen Warnungen), Antibiotika (12,3 Prozent) und Benzodiazepine (9,7 Prozent) übergangen. 30 Prozent der übergangenen Warnungen bezogen sich auf eine kontinuierliche Infusion. Bei knapp einem Drittel der übergangenen Warnungen gaben die verordnenden Ärzte eine Begründung für ihre Entscheidung an. Dies waren vor allem „werde es beobachten“, „Nutzen überwiegt Risiken“ und „Patient tolerierte es zuvor“.

Von den 1.418 übergangenen Warnungen wurde das Übergehen durch die Gutachter in 89 Prozent als klinisch angemessen beurteilt. Bei vielen Medikamenten wurden alle übergangenen Warnungen als angemessen beurteilt (zum Beispiel bei Insulin, Heparin, Lorazepam, Fentanyl, Haloperidol). Bei nur zwei Medikamenten wurden weniger als 50 Prozent der übergangenen Warnungen als angemessen beurteilt (Ceftazidim, Cefepim). Insgesamt wurden elf unerwünschte Arzneimittelereignisse in den Krankenakten identifiziert, die im Zusammenhang mit den übergangenen Warnungen standen. Davon wurden vier als „definitives“ und sieben als „vermutliches“ unerwünschtes Arzneimittelereignis bewertet. Die Schwere des Ereignisses wurde in drei Fällen als „erheblich“ und in acht Fällen als „schwerwiegend“ eingestuft. Das Auftreten eines unerwünschten Arzneimittelereignisses war signifikant mit der Angemessenheit der Übergehung assoziiert: Die Rate der unerwünschten Arzneimittelereignisse lag bei 1,3/100 übergangenen Warnungen, die als klinisch angemessen beurteilt wurden und bei 5/100 übergangenen Warnungen, die als klinisch unangemessen beurteilt wurden.

Die Studie zeigt deutlich, dass der weit überwiegende Teil der Dosierungswarnungen von den verordnenden Ärzten übergangen wird. Dieses Übergehen ist in den meisten Fällen klinisch angemessen. Ganz offensichtlich sind die Warnmeldungen derzeit nicht so spezifisch, dass sie im klinischen Alltag hilfreich sind. Gleichwohl gibt es eine geringe Anzahl von Warnungen, deren Übergehen mit einem erhöhten Risiko für die Patienten verbunden ist. Als Konsequenz müssen die Algorithmen für Dosierungswarnmeldungen angepasst werden. Dies betrifft besonders klinische Bereiche, in denen typischerweise spezifische Dosierungen auch außerhalb der üblichen Spannbreite eingesetzt werden wie beispielsweise in der Intensivmedizin und der Neonatologie. Insbesondere ist wichtig, dass die Systematik der Warnmeldungen mit den internen Leitlinien in Einklang stehen, um das Auftreten widersprüchlicher Informationen zu reduzieren.

*) Prof. Dr. Dieter Schwappach, Patientensicherheit Schweiz

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2019