Virtual Reality: Simulation in der Ausbildung

10.10.2019 | Politik


Wie sich die Welt für ein Frühchen anfühlt, das kann mit Hilfe von Virtual Reality nachempfunden werden. Aber auch beim Training von Notfall-Situationen oder der Arthroskopie des Knies kommt Virtual Reality zum Einsatz – sowohl im Medizinstudium als auch in der klinischen Ausbildung.

Sophie Fessl

Bei einem Notfall muss jeder Handgriff sitzen. Damit er sitzt, trainiert Helmut Trimmel Teams verschiedenster Fachrichtungen für den medizinischen Ernstfall. In dem von ihm im Jahr 2007 gegründeten niederösterreichischen Zentrum für medizinische Simulation und Patientensicherheit, das am Landesklinikum Hochegg betrieben wird, trainieren Trimmel und sein Team mit Mitarbeitern aller medizinischer Akutbereiche realitätsnah Notfallsituationen in der Intensivstation, im OP oder im Schockraum.

Für Trimmel ist Simulationstraining ein wichtiger Bestandteil der Ärzte-Ausbildung. „Durch die Reduktion der Arbeitszeiten wird die Anwesenheit im Spital kürzer und die klinische Erfahrung geht etwas zurück. Man wird also gerade in die Simulation sehr viel investieren, um Ärzte und Pflegende mit den Grundlagen des Notfallmanagements, aber etwa auch mit der Behandlung komplexer medizinischer Krankheitsbilder vertraut zu machen.“ So könnten in einem ein- oder zwei-tägigen Simulationstraining durchaus die kritischen Phasen einer Sepsis vermittelt werden – und zwar in einer Intensität, die auf einer Intensivstation erst durch viele Dienste möglich wären. Ein weiterer Aspekt, den Trimmel nennt: „Es ist nahezu alles gefahrlos möglich, weil der Simulator nicht zu Schaden kommen kann.“Der Begriff Simulation steht für mehrere Trainingsformen. „Simulation umfasst einerseits das Skills-orientierte Simulator-Training, das medizinische Fertigkeiten vermittelt, und andererseits das ‚Crisis Resource Management‘, also das Training von nicht-medizinischen Fertigkeiten“, erklärt Trimmel. Dazu gehört alles, was eine effektive Arbeit im Team – auch bei selten auftretenden Notfällen – ermöglicht: sichere Kommunikation, Entscheidungsfindung, Teamarbeit, Leadership, Durchsetzungsfähigkeit. Die beiden Aspekte der Simulation seien aber in Wirklichkeit oft sehr eng miteinander verbunden.

An relativ realistischen Patientensimulatoren („Manikins“) bewältigen kleine Gruppen kritische Situationen, während Instruktoren beobachten und etwa für das Szenario wichtige Befunde einspielen. Im Schockraum-Training kann ein gesamtes Schockraum-Team mit einem künstlichen Patienten konfrontiert werden: angefangen vom Notarzt, der den Patienten bringt, mit der Übergabesituation im Schockraum, über Erstversorgung und die Entwicklung der richtigen Therapiestrategie seitens der Unfallchirurgen und Anästhesisten, bis hin zur definitiven Entscheidungsfindung. Auch realitätsnahe Diagnostik kommt zum Einsatz: Das „Manikin“ wird auch ins CT gelegt, Befunde werden ebenso wie CT-Bilder von tatsächlich existierenden Patienten eingespielt. „Aber auch Konfliktsituationen lassen sich gut trainieren“, so Trimmel. An jedes Trainingsszenario schließt ein Debriefing an, bei dem alle Trainingsteilnehmer das Erlebte gemeinsam aufarbeiten, Entscheidungen und Alternativen diskutieren und Optimierungsstrategien entwickeln.

Das virtuelle Knie

Univ. Prof. Stefan Nehrer, Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie sowie Dekan der Fakultät für Gesundheit und Medizin der Donau-Universität Krems, nutzt virtuelle Realität für die Ausbildung von Fachärzten speziell bei der Knie-Arthroskopie. „In einem sicheren Bereich kann man sich an Instrument oder Implantat annähern.“ Seit drei Jahren kennt er den ArthroS Simulator von VirtaMed, der auch bei internationalen medizinischen Ausbildungskongressen zum Einsatz kommt. Nehrer dazu: „Wir können nachspielen, wie man vorgehen soll, wenn der Meniskus oder das Kreuzband gerissen ist.“

Im virtuellen Knie sieht der Experte eine Möglichkeit, Ärzten in der Ausbildung entsprechende Grundlagen zu vermitteln. „Wir nutzen die Vorteile der Virtual Reality, damit der Einschulungsprozess schneller geht. Wenn jemand 20 oder 30 virtuelle Arthroskopien gemacht hat, tut er sich natürlich leichter, weil das System sehr ähnlich ist.“ Dabei ist ein Knie-Modell am Arthroskopie-Turm montiert; operiert wird mit adaptierten Instrumenten. Der Operateur erhält einen Score, wie oft er falsche Bewegungen gemacht hat, wie oft den Knorpel berührt. Um eine Arthroskopie durchführen zu können, sei großes räumliches Vorstellungsvermögen notwendig, wie Nehrer betont. „Es ist ein wenig wie Videospielen. Die Skills für die Grundlagen kann man durch Virtual Reality sehr gut lernen.“

Technologie-Entwicklung

„Wir befassen uns kontinuierlich mit Neuerungen im Bereich Medical Education, was die Technologie-Entwicklung mit beinhaltet“, erklärt Univ. Prof. Anita Rieder, Vizerektorin für Lehre an der Medizinischen Universität Wien. Das habe man schon immer getan, „auch wenn man es vielleicht nicht unter dem Begriff der Technologie-Entwicklung gesehen hätte“, führt sie weiter aus. Simulation im engsten oder im weitesten Sinne gäbe es bereits im Kommunikationstraining im Medizinstudium, bei dem Studierenden an Schauspielern lernen, wie sie mit Patienten kommunizieren und auch lernen, sie zu untersuchen.

Für die Medizinische Universität Wien stellt virtuelle Realität auch in Zukunft ein wichtiges Thema in der Ausbildung dar. „In unserem Entwicklungsplan ist eine Professur für Medical Education Technology vorgesehen“, gewährt Rieder einen Einblick in die künftige Strategie. Bereits in Planung ist ein Virtual Reality Zentrum, das am MedUni Campus Mariannengasse im neunten Wiener Gemeindebezirk, dem neuen Forschungs- und Lehrzentrum der MedUni Wien, realisiert werden soll. „Dort wird es ein eigenes Simulationszentrum für studentische Lehre geben.“

Derzeit wird Virtual Reality im Medizinstudium im Rahmen von Wahlfächern angeboten, etwa an der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der MedUni Wien. Rieder sieht den Vorteil der Virtual Reality vor allem darin, dass Studenten so an kritische Situationen herangeführt werden können. Angesichts des relativ großen finanziellen Aufwandes müsse man sich daher auch fragen: Was ist der Zusatznutzen für den Lerneffekt? Es sei vor allem für diejenigen, die in ein Setting neu einsteigen und in der virtuellen Realität handeln können, aber nicht die realen Konsequenzen erleben müssen, geeignet.

„Es geht nicht nur darum die Brille aufzusetzen und das Szenario alleine durchzumachen“, betont Michael Wagner von der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie an der MedUni Wien und Spezialist für Simulations-basiertes Training. Es müssten die gestellten Situationen und auch die gesetzten Handlungen strukturiert nachbesprochen werden, so Wagner. Auf diese Weise ist der Lerneffekt deutlich höher, „wenn man Feedback bekommt, was man beim nächsten Mal umsetzen sollte und wie man sich verbessern kann“.

Univ. Prof. Wolfgang Weninger von der Abteilung für Anatomie an der Medizinischen Universität Wien sieht den Nutzen von Virtual Reality gerade in der anatomischen Lehre differenziert. „Virtuelle Realität macht dort Sinn, wo man etwas simuliert, das real nicht verfügbar ist. Es gibt Bereiche wie die Anatomie, wo es sinnhafter ist, mit richtigen Körpern zu arbeiten – weil es hier dank Körperspenden auch möglich ist.“ Denn die virtuelle Realität sei immer nur so gut wie die Bilddaten, mit denen man sie füttert. Weninger: „Wenn Simulationen auf CT- oder MR-Daten basieren, können viele klinisch wichtige Nerven- und Gefäßäste sowie Organdetails wegen der zu geringen Auflösung der Bilddaten nicht virtuell dargestellt werden, und was natürlich völlig fehlt, ist das Manuelle, dass man weiß, wie sich ein Nerv oder ein Gefäß anfühlt und simultan zum Lernen manuelle Skills erwirbt.“ Weninger erhielt 2018 den Ars-docendi-Staatspreis in der Kategorie „Digitale Lehr- und Lernelemente in Verbindung mit traditionellen Vermittlungsformen“. Speziell in der anatomischen Lehre habe man sehr stark auf Blended Learning gesetzt und bildgebende Techniken in die praktischen anatomischen Sezier-Einheiten integriert, was zu einem „hochwertigen, die Klinik und Vorklinik vernetzenden Unterricht“ geführt habe.

Am Comprehensive Center for Pediatrics im AKH Wien werden sowohl Virtual Reality als auch Simulationstrainings mit Hilfe von künstlichen Patienten eingesetzt. In der Ausbildung werden sie für interprofessionelles Training sowie für das Abarbeiten von pädiatrischen Notfall-Algorithmen genutzt, erklärt Wagner. „In der Ausbildung sieht man zum Beispiel vielleicht einen anaphylaktischen Schock, vielleicht aber auch nicht. Speziell das Notfall-Management bei Anaphylaxie ist aber etwas, was sehr strukturiert ablaufen kann und was man auch in der virtuellen Realität sehr gut nachbilden kann.“

Die hochmodernen Simulatoren für Früh- und Neugeborene können realistisch Atmung, Zyanose, Herz- und Atemgeräusche, Pulse und Bewegungen darstellen. Gleichzeitig können Fähigkeiten wie Atemwegsmanagement, das Verlegen eines intraossären Zugangs oder eines Nabelvenenkatheters am Simulator geübt werden. Virtual Reality habe den Vorteil, gewisse Eigenschaften noch realistischer und flexibler abzubilden, erläutert Wagner. „Das Erkennen eines bestimmten Zustandsbilds oder das Ergänzen von stressigen Impulsen ist ein Vorteil von Virtual Reality. Bei einem Simulator kann man nicht zeigen, dass die Haut bei einer Anaphylaxie fleckig rot wird. Mit Virtual Reality kann man die zunehmend angestrengte Atmung und die fleckige Haut gut zeigen und die notwendigen Abläufe strukturieren, analysieren und nachbesprechen.“

Dieses virtuelle „Nachstellen“ der Realität stelle eine Herausforderung für die Virtual Reality dar. „Um ein Setting zu erstellen, benötigt man Menschen in einem mit Sensoren bestückten Ganzkörperanzug, die sich entsprechend bewegen. Sie werden gefilmt und das wird in virtuelles Bildmaterial übergeleitet.“ Doch auch das lösen Wagner und seine Kollegen kreativ. „Wir haben eine 360-Grad-Kamera in einen Inkubator gelegt und gefilmt. Mit der Brille sieht man dann, wie sich die Welt für ein Frühchen anfühlt. Das ist auch für Medizinstudenten spannend.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2019