USA: Digitale Patientenakte – Hoffnungen geplatzt

10.05.2019 | Politik


Mittlerweile hat man in den USA zehn Jahre Erfahrung mit der digitalen Gesundheitsakte: Sie offenbart viele Defizite, manche sprechen gar von einem Desaster. Im Zentrum der Kritik steht die schlechte Anwenderfreundlichkeit der Systeme.

Nora Schmitt-Sausen

Leichterer Zugang zu Patienteninformationen, mehr Sicherheit bei der Verschreibung von Medikamenten, eine übersichtliche Darstellung von Laborergebnissen: Die digitale Gesundheitsakte (Electronic Health Record; EHR) hat im US-amerikanischen Gesundheitswesen Vorteile gebracht. Doch nicht nur Vorteile. Vielmehr fällt die Bilanz zehn Jahre nach dem Startschuss für das papierlose Arbeiten ernüchternd aus: Die Electronic Health Record hat ihr Potential nicht abgerufen, darüber herrscht im Land Einigkeit. Nicht wenige Stimmen sprechen im Zusammenhang mit der Electronic Health Record gar von einem Desaster. Im Zentrum der Kritik: die schlechte Anwenderfreundlichkeit der Systeme – und die damit verbundenen negativen Folgen für die ärztliche Tätigkeit und die Versorgung.

Viel Aufwand, schlechte Systeme

Das Arbeiten mit der Gesundheits-IT stellt sich in der Praxis als sehr aufwändig dar. Landauf landab klagen die Ärzte Amerikas darüber, wie viel Zeit sie für das Aufrufen und Eingeben von Patientendaten aufbringen müssen – und wie schlecht viele der Systeme arbeiten. Viele Ärztinnen und Ärzte lehnen zwar nicht die Technik als solches, aber die komplexe und fehleranfällige Arbeit mit den gegenwärtigen Systemen ab. Dies hat inzwischen nicht nur für die Arbeitszufriedenheit von Ärzten Konsequenzen (siehe Kasten); das Klicken, Zoomen und Tippen birgt auch Gefahren für Patienten.

In einem umfassenden Beitrag, den die Zeitschrift Fortune in Zusammenarbeit mit dem anerkannten Gesundheitsinformationsdienst Kaiser Health News veröffentlichte, wurde kürzlich ein düsteres Bild gezeichnet: Die Digitalisierung der Gesundheitsakten hätte nicht – wie erhofft – ein landesweites „elektronisches Ökosystem an Informationen“ hervorgebracht, sondern sei vielmehr ein „wildwucherndes, abgekoppeltes Flickwerk“. Die Autoren, die sich für den Artikel auf Interviews mit mehr als 100 Ärzten, Patienten, IT-Experten, Gesundheitsexperten, Juristen, Regierungsvertretern und IT-Unternehmern berufen, skizzieren die Situation wie folgt: Die Geschichte der Electronic Health Record in den USA sei eine tragische Geschichte verschenkter Möglichkeiten. Gewinner sei bislang einzig und allein die IT-Industrie. Die Verlierer? Das sind neben den Ärzten Amerikas die Patienten. Es gebe im Land „Tausende von Berichten“ über Behandlungsfehler – herbeigeführt oder zumindest mitverursacht von mangelhafter Gesundheits-IT.

Im Beitrag werden teils dramatische Mängel aufgelistet: Lebenswichtige Untersuchungen, die von Ärzten über die Electronic Health Record am Bildschirm angeordnet, aber vom System nicht übermittelt wurden; Medikamentenlisten, die nicht verlässlich waren; Verschreibungen, die in der Electronic Health Record nicht auftauchten; abgesetzte Medikamente, die als laufende Medikation verbucht waren; ärztliche Notizen zu einem Patienten verknüpft in einer Bildschirmanzeige mit der Akte eines anderen Patienten; fehlende Hinweise auf noch ausstehende Laborergebnisse oder auch Testergebnisse, die in der falschen Patientenakte abgespeichert wurden.

Es gibt Patienten, die auf Grund solcher Fehler verstarben – und Angehörige, die vor Gericht ziehen. In den USA sind in Gerichtsverfahren rund um fehlerhafte Electronic Health Records und Ärztefehler im Umgang mit der Software laut Bericht inzwischen Hunderte Millionen Dollar an Entschädigungen geflossen. Menschliches Versagen von Ärzten und Schwestern, die die IT nicht beherrschen – oder Defizite einer komplexen und fehleranfälligen Technik? Diese Frage ist dabei oft nur schwer zu beantworten.

Das hat nicht nur Patientenorganisationen, Gesundheitseinrichtungen, Medizingesellschaften und Denkfabriken wachgerüttelt. Auch Regierungsvertreter beäugen die Entwicklung kritisch. Dies ist kein Wunder. Der Staat war maßgeblich daran beteiligt, die Visionen von einer digitalen Revolution in der Versorgung ins Land zu tragen. Unter der Regierung von Barack Obama wurde im Jahr 2009 die – lange geplante – Einführung der Electronic Health Record forciert und mit erheblichen finanziellen Mitteln gefördert. 36 Milliarden Dollar sind in das Projekt geflossen.

Scott Gottlieb, der scheidende Chef der Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA), formulierte als Reaktion auf den Fortune-/Kaiser Health News-Beitrag, dass der US-amerikanische Kongress für mehr Aufsicht über die Electronic Health Record sorgen müsse; der FDA fehle es dazu an Kompetenzen. Der Hintergrund: Als in der US-Politik der Startschuss für die Electronic Health Record gegeben wurde, wurde die FDA außen vorgelassen. Es wurde befürchtet, zu viel Regulation könne die Modernisierung der Medizin verlangsamen.

Startschuss während Finanzkrise

Ein weiterer Aspekt zur Einführung der Electronic Health Record: Der Startschuss zur  Digitalisierung der Gesundheitsakten in den USA fiel in den Zeitraum der großen Finanzkrise. Die staatlichen Gelder dafür wurden aus einem schnell gestrickten Konjunkturpaket bezahlt. Das heißt: Viel Zeit für die Entwicklung blieb den IT-Unternehmen nicht; die an die Systeme gestellten Ansprüche aber waren groß. Ein möglicher weiterer Grund für die große Schere zwischen Theorie und Praxis könnte auch dies sein: Die US-Regierung propagierte, dass Electronic Health Records die Gesundheitsversorgung besser, sicherer und günstiger machen würden – und Patienten in die Lage versetzen, Zugriff auf ihre Daten zu haben. Nicht wenige Kliniken führten die Electronic Health Record aber vor allem mit einem Ziel ein: das Abrechnungswesen zu verbessern.

Als hoch problematisch erweist sich zehn Jahre nach dem Start des papierlosen Arbeitens auch dies: Es wurden Hunderte von verschiedenen Electronic Health Record-Systemen zugelassen. Allerdings: Sie sind nicht miteinander kompatibel. Gesundheitseinrichtungen haben eigene, geschlossene Systeme aufgebaut. Die Möglichkeit des Datenaustauschs mit anderen Häusern? Fehlanzeige. Auch ist es für US-amerikanische Patienten selbst im Digitalzeitalter in der Regel nicht möglich, Zugriff auf die eigenen Daten zu bekommen. Zumindest das soll sich nun ändern: Erst vor einigen Wochen wurde der Weg freigemacht, dieses Problem zu beheben. Die Regierung Trump will Standards etablieren, um den Austausch von Gesundheitsdaten System-übergreifend möglich zu machen.

Wie auch immer die Bewertung über Amerikas Gesundheits-IT ausfällt, Einigkeit besteht jedenfalls in einem Punkt: Die Electronic Health Record-Systeme benötigen dringend eine Generalüberholung. Und Einrichtungen reagieren.

Penn Medicine beispielsweise, zu dem die Perelman School of Medicine sowie das mehrere Kliniken umfassende Health System der Universität von Philadelphia gehören, hat Ende 2018 läuft!

angekündigt, das hauseigene Electronic Health Record-System umfassend transformieren zu wollen. Die Einrichtung konzentriert sich in einer Mitteilung nicht allein auf die bekannten Defizite, sondern verweist auf das große Potential der digitalen Gesundheitsakten. „Gesundheitsinformationstechnologie spielt eine grundlegende Rolle in jedem Bereich unserer Arbeit: Patientenversorgung, Ausbildung der nächsten Generation von Ärzten und Wissenschaftern sowie der biomedizinischen Forschung. Innovationen in der elektronischen Gesundheitsakte sind der Schlüssel, um unsere Wirkung in jeder dieser Missionen zu steigern“, formulierte es J. Larry Jameson, Executive Vice-President des University of Pennsylvania Health System und Dekan der Perelman School of Medicine. Penn Medicine will mit der Electronic Health Record die Arbeit von Klinikärzten erleichtern und die Versorgung verbessern. Das soll vor allem dadurch erreicht werden, dass bei der Entwicklung stärker auf die Erfahrungen der an der eigenen Klinik tätigen Ärzte und auf die Bedürfnisse der Patienten gesetzt wird. Penn Medicine sieht in der Electronic Health Record einen festen Bestandteil der Versorgung. Sie sei weit mehr als ein administratives Werkzeug, sondern ein klinisches Werkzeug „wie ein Skalpell, ein Medikament oder ein Röntgengerät“.

Kaum Entwicklung bei Gesundheits-IT

Dass ein solches Engagement offensichtlich gefragt ist, zeigte kürzlich auch ein Artikel im Journal der American Medical Association (JAMA). Darin heißt es: Während sich Smartphones, Bürocomputer-Software und andere Software-Tools in den vergangenen Jahren schnell und stetig weiterentwickelt hätten, sei dies bei digitalen Informationssystemen im Gesundheitswesen nicht der Fall. Als einen der vielen Gründe dafür nennt der Gemeinschaftsbeitrag der Autoren Ratwani, Reider und Singh, dass die IT-Anbieter in der Vergangenheit wenig dafür getan hätten, ihre Systeme zu verbessern. Ein oft und vielerorts gehörter Vorwurf in den USA.

In dem Artikel werden darüber hinaus fünf Punkte aufgelistet, um das Dilemma rund um Amerikas elektronische Gesundheitsakten zu verbessern: 1) Etablierung eines nationalen Reporting-Systems für Usability- und Sicherheitsprobleme; 2) Einführung von grundlegenden Standards für das Design; 3) Offenes Ansprechen von verursachten Behandlungsfehlern; 4) Vereinfachung der digitalen Dokumentationspflichten und 5) Entwickelung von Standards, um Systeme vergleichbar zu machen.

Auch die Schlussfolgerung der Autoren lässt wenig Spielraum: Eine weitere Dekade schlecht funktionierender Gesundheits-IT könne sich niemand leisten – die Politik nicht, die IT-Anbieter nicht, Gesundheitseinrichtungen nicht, Ärzte nicht – und erst recht nicht die Patienten.


Trigger für Burnout bei Ärzten

Die USA beklagen bereits seit Jahren hohe Burnout-Zahlen bei Medizinern – und diskutieren seit geraumer Zeit die Frage, in welchem Zusammenhang dieses Phänomen mit den Electronic Health Records (EHR) steht. Immer mehr Studien belegen inzwischen: Die EHR sind mindestens Teil des Problems. Denn: Computer und digitale Dokumentation sind heute fester Bestandteil des medizinischen Alltags und beeinflussen die Arbeitsabläufe massiv; gleichzeitig gilt das Arbeiten mit der neuen Technik aber als hochgradig ineffizient.

Ärzte quält vor allem die schlechte Usability vieler Systeme – sie verbringen viele Stunden des Tages mit Klicken, Zoomen und Alerts bedienen. Doch nicht allein das ist ein Problem. Viele Mediziner haben zudem das Gefühl, durch die Digitalisierung der Dokumentation Mehrarbeit aufgedrückt bekommen zu haben – die sie aus Zeitmangel im Dienst teils noch nach Feierabend oder am Wochenende von zu Hause aus erledigen. Amerikas Ärzte betrauern zudem eine sich wandelnde Interaktion mit den Patienten; selbst wenn man in einem Raum sei, stehe der Computer wortwörtlich zwischen Patienten und Behandler.

All dies führe, so belegen inzwischen zahlreiche Studien, zu zusätzlichem Stress, viel Frust und sei ein Trigger für ärztlichen Burnout. So zeigen etwa Studien der Stanford Universität, die seit vielen Jahren zum Thema forscht, und eine aktuelle Erhebung der Harvard School of Public Health, dass die Frustration über das medizinische Arbeiten im Digitalzeitalter Mediziner aus dem Arztberuf treibt.

Fakt ist: Fast jeder zweite US-Mediziner kämpft Erhebungen der American Medical Association zufolge mit Burnout-Symptomen. Eine andere viel zitierte Studie von Merritt Hawkins aus dem Jahr 2018 geht gar von 78 Prozent aus.

Die überdurchschnittlich hohen Burnout-Zahlen von Amerikas Ärzten und die Bürden, die schlecht laufende EHR auf die Schultern der Mediziner gepackt haben, werden inzwischen nicht nur in Fachkreisen, sondern bereits in der Publikumspresse breit diskutiert.

Einen Ausweg aus dem Dilemma sehen nicht alle allein in der Überarbeitung der IT-Systeme – sondern auch in besseren und intensiveren Schulungen der Ärzte. Das bessere Beherrschen der Elektronischen Gesundheitsakten steigere die Effizienz bei der Arbeit, schaffe Souveränität und helfe dabei, Zufriedenheit bei der medizinischen Tätigkeit im 21. Jahrhundert zu schaffen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2019