Masern: Globale Krise

25.10.2019 | Politik


Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind die Masernfälle zum Vergleichszeitraum des Vorjahres weltweit um etwa 300 Prozent gestiegen. In 182 Ländern wurden fast 365.000 Masernfälle gezählt. Eine erhöhte Masern-Aktivität zeigt sich auch in den USA, Neuseeland und Australien, wo die Masern als ausgerottet galten.

Ulrike Haider-Schwarz

Während Sri Lanka erst im Juli 2019 die Masern für ausgerottet erklärt hat, ist laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit die Masernaktivität weiterhin erhöht. Zumindest in der EU ist aber in den letzten Monaten laut European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) ein rückläufiger Trend bei den gemeldeten Masernfällen erkennbar. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres stiegen die Masernfälle weltweit um etwa 300 Prozent zum Vergleichszeitraum des Vorjahres. So wurden bis Ende Juli dieses Jahres in 182 Ländern fast 365.000 Masernfälle gezählt.

Ukraine: 57.000 Fälle

Die Ukraine ist eines der Länder weltweit, in dem die meisten Masernfälle verzeichnet werden. Bis Anfang August 2019 wurden dem ukrainischen Gesundheitsministerium nur für dieses Jahr knapp 57.000 Krankheitsfälle gemeldet; 18 Menschen sind daran gestorben. Die Behörden führen die enorme Zahl an Masernfällen vor allem auf zwei Ursachen zurück: Einerseits sieht man sich mit vehementen Impfgegnern konfrontiert, die aufgrund von Falschinformationen über Impfkomplikationen immer mehr Anhänger finden. Andererseits war in den vergangenen Jahren die Versorgung mit MMR-Vakzinen durch Krieg, Korruption, etc. suboptimal. Beides führte zu einer niedrigen Durchimpfungsrate und folglich zum Anstieg der Fälle. Mittlerweile bietet das ukrainische Gesundheitsministerium Gratis-Impfungen an und hat allfällige Altersbeschränkungen für die kostenlosen Impfungen aufgehoben. In der WHO-Region Europa, zu der neben der EU auch Russland, die Türkei, Israel, Usbekistan und Aserbaidschan zählen, lag die Zahl der Masern-Erkrankungen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bei knapp 90.000, was die Gesamtzahl der Erkrankungen des Jahres 2018 mit insgesamt 84.462 Fällen schon jetzt übersteigt.

Global gesehen sind nach WHO-Angaben vor allem die Demokratische Republik Kongo, Madagaskar, Angola, Kamerun, der Tschad, Kasachstan, Nigeria, der Sudan, der Süd-Sudan, die Philippinen und Thailand betroffen. Madagaskar, wo die Durchimpfungsrate vor dem epidemischen Ausbruch im Herbst 2018 bei unter 60 Prozent lag, verzeichnete bis 2. Juni 2019 insgesamt 146.750 Masernfälle seit Anfang September 2018, so ein Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF. In den letzten Monaten ist die Neuansteckungsrate aufgrund landesweiter Impfkampagnen jedoch stark rückläufig. Auf den Philippinen war die Lage im Frühling 2019 ebenso prekär. Dem philippinischen Gesundheitsministerium (DOH) waren von 1. Jänner bis 30. März 2019 knapp 27.000 Masernfälle bekannt; die Zahl der an der Krankheit Verstorbenen belief sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf 381. Einen Grund für den massiven Ausbruch im südostasiatischen Land sieht das philippinische Gesundheitsministerium im Impfskandal der Jahre 2016 und 2017. Damals musste die Regierung das großangelegte Impfprogramm gegen Dengue-Fieber einstellen, nachdem mehrere der 830.000 Impflinge verstorben waren. Das Vertrauen der Bevölkerung in Impfungen ganz allgemein litt enorm und viele Eltern ließen in der Folge ihre Kinder auch nicht gegen Masern impfen. Als Reaktion lancierte die Regierung eine landesweite Impfkampagne, im Zuge derer mehr als 5,5 Millionen Kinder geimpft wurden.

Die Gründe für die Masern-Ausbrüche sind je nach Land verschieden: Impfgegner, die Impfungen grundsätzlich verweigern; der schwierige Zugang zum Gesundheitssystem – vor allem in weniger entwickelten Ländern; sicherheitspolitische Gründe wie Kriege oder Unruhen; gesundheitspolitische Ursachen oder religiöse Überzeugung. All diese Gründe führen zu unzureichenden Durchimpfungsraten in den jeweiligen Staaten.

Aber nicht nur in unterversorgten Regionen sind Masern (wieder) zu einem Problem geworden. Auch Länder, in denen die Krankheit als ausgerottet galt, haben mit auffallend vielen Masernfällen zu kämpfen. So wurden beispielsweise Anfang August 2019 im neuseeländischen Auckland innerhalb eines Tages 20 Masern-Neuerkrankungen gemeldet. Bis 9. August 2019 zählte man beim neuseeländischen Gesundheitsministerium insgesamt 516 Fälle. In Neuseeland galten Masern seit 2017 als offiziell ausgerottet.

Auch in Australien ist die Krankheit erneut ausgebrochen, ebenso in den USA, wo seit Jahresbeginn bis 1. August 2019 in 30 Staaten 1.175 Fälle bekannt wurden. Den Angaben der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) handelt es sich dabei um die höchste Zahl an Fällen seit 1992 und dem Zeitpunkt der offiziellen Masern-Elimination im Jahr 2000. Die USA verfolgen eine sehr strikte Impfpolitik, weswegen die Durchimpfungsrate generell hoch ist. Wie es trotz der hohen Durchimpfungsraten zum signifikanten Auftreten von Masernfällen kommen kann, soll der Ausbruch der vergangenen Monate in den USA erläutern.

Der Erreger soll vor allem durch Reisende eingeschleppt worden sein, die sich in Regionen angesteckt haben, in denen die Masern bereits ausgebrochen waren (zum Beispiel Israel, die Ukraine oder die Philippinen) und danach eingereist sind.

USA: Ausbruch prognostiziert

Ein Forscherteam der University of Texas und der Johns Hopkins University in Baltimore veröffentlichte im Frühjahr 2019 eine Studie in „The Lancet Infectious Diseases“, in der der Masern-Ausbruch in den USA prognostiziert wurde. In der Studie wurden vier relevante Faktoren einbezogen: nicht-medizinische Ausnahmen von Impfpflichten (zum Beispiel religiöse Überzeugung), das internationale Reiseaufkommen in den Counties beziehungsweise die Nähe zu internationalen Flughäfen, die Bevölkerungszahl der Counties und die Herkunftsländer der Reisenden beziehungsweise die dort jeweils vorherrschende Masern-Situation. Die Forscher identifizierten 25 US-Counties, die einem erhöhten Ausbruchsrisiko ausgesetzt sind. Die Ergebnisse der Risiko-Analyse stimmten mit den tatsächlichen Ausbruchsregionen großteils überein. Wenn auch der massivste – jener in Williamsburg (Brooklyn) – nicht vorhergesagt werden konnte, grenzen Kings County, Brooklyn und andere betroffene Counties zumindest unmittelbar an jene Gebiete, für die Masern-Ausbrüche vorhergesagt wurden.

Ein Gutteil der in diesem Jahr gemeldeten Fälle in den USA konzentrierte sich den Angaben der CDC zufolge auf New York und New York City, wobei sich das Virus innerhalb von vorwiegend ungeimpften Bevölkerungsgruppen verbreiten konnte. 75 Prozent der Masernfälle der vergangenen fünf Jahre, die vom CDC dokumentiert wurden, traten bei ethnischen Minderheiten auf wie etwa bei den Amish in Ohio, der somalischen Bevölkerungsgruppe in Minnesota, Bevölkerungsgruppen im pazifischen Nordwesten mit osteuropäischen Wurzeln und der ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinde in New York. Alle zeichnen sich vor allem durch engen persönlichen Kontakt innerhalb der Gruppe aus; in vielen Gemeinschaften vertraut man auf eigene medizinische Versorgung. Auch Impfgegner, die Falschinformationen über Impfungen verbreiten, gewinnen an Boden. Das führt dazu, dass viele innerhalb dieser teils stark isolierten Gruppen nicht geimpft sind. Beim aktuellen Ausbruch in New York soll sich Berichten der Washington Post zufolge der Erreger von „Patient Zero“ über die ultra-orthodoxe jüdische Bevölkerung in Brooklyn über Westchester County und Rockland County in New York, Oakland County in Michigan und Baltimore County in Maryland verbreitet haben. „Patient Zero“ soll aus Israel nach Brooklyn (New York) eingereist sein und das Virus so in die USA gebracht haben. Innerhalb von zwei Wochen reiste der Mann durch mehrere US-amerikanische Städte, um Geld für wohltätige Zwecke zu sammeln. Dabei infizierte er 39 Menschen, mit denen er in Synagogen, privaten Häusern und koscheren Supermärkten in Kontakt gekommen war. Im Epizentrum New York City reagierte man mit verpflichtenden Impfungen für Personen, die in bestimmten Stadtteilen wohnen, und hob per Gesetz religiöse und nicht-medizinische Ausnahmen bei den verpflichtenden Schulimpfungen auf. Jenen, die in Kontakt mit Erkrankten standen und unzureichend immunisiert sind, drohen Strafen bis zu 1.000 US-Dollar. In Rockland County (New York) wurde definierten Risikogruppen der Aufenthalt an öffentlichen Plätzen unter Androhung einer Geldstrafe bis zu 2.000 US-Dollar untersagt.

(1) Sahotra Sarkar, Aleksa Zlojutro, Kamran Khan, Lauren Gardner. Measles resurgence in the USA: how international travel compounds vaccine resistance. The Lancet Infectious Diseases, 2019

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2019