Grenzerfahrung: Sich helfen lassen können

10.05.2019 | Politik


Vielen Ärzten fehlt die Kraft, für sich selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen – was oft aus einem Mangel an Selbstwahrnehmung resultiere. Dabei gehört es zur Professionalität des Arztes, sich helfen zu lassen – betonen Experten.


Die Fähigkeit, sich selbst helfen zu lassen, gehört zur Professionalität eines Arztes“, erklärt Univ. Prof. Michael Lehofer von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 1 am Landeskrankenhaus Graz Süd-West. Die Grenze der eigenen Belastbarkeit ist demnach dann gegeben, wenn man nicht mehr klar denken kann, sich operative Hektik einstellt und es im Schlaf nicht mehr zur Erholung kommt. „Man schläft zwar todmüde ein, wird jedoch vom hohen Stresslevel aufgeweckt, wenn die Erschöpfung sozusagen weggeschlafen ist. Der eigentliche Erholungsschlaf bleibt aus“, erklärt der Experte.

Wissen zur Burnout-Prävention

Wissen zu Selbstbewusstsein, emotionaler Kompetenz, Burnout-Prävention sowie zur Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung vermittelt Univ. Doz. Michael Fröhlich an der Medizinischen Universität Wien. Er weiß, wovon er spricht: Der Facharzt für Innere Medizin und Intensivmedizin hat viele Jahre eine Intensivstation am Wiener AKH geleitet. Mittlerweile ist er seit zwölf Jahren in der Lehre tätig; seit 15 Jahren auch im Bereich der Supervision und des Coachings. Dass er seit 2003 nicht mehr klinisch tätig ist, bereut er nicht im Geringsten – ist er doch durch die Supervision nach wie vor nahe am Geschehen. „Dass ich mich vielleicht mehr als je zuvor in meinem Element als Arzt fühlen darf, ist darauf zurückzuführen, dass ich mithelfen kann, Krisen zu überwinden“, erläutert Fröhlich. Aus rund 5.000 dokumentierten Beratungsstunden – sowohl in Einzelsupervision als auch in Team- und Gruppensupervisionen – in den vergangenen Jahren weiß Fröhlich, dass „vielen Ärzten die Kraft fehlt, für sich selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen“. Dies resultierte oft aus einem Mangel an Selbstwahrnehmung. Viele Ärzte suchen meist erst dann Hilfe, wenn „die Belastung weit fortgeschritten ist und es schon zur Lethargie gekommen ist, wie Fröhlich auch aus eigener Erfahrung bestätigen kann.

Diese Dauerbelastungen können auch infolge von immer wieder kehrenden Grenzerfahrungen auftreten, erklärt Fröhlich. Wenn etwa ein Arzt einem Kind mitteilen muss, dass seine 30-jährige Mutter im Sterben liegt. Und daneben müssen auch alle erforderlichen medizinischen Abläufe entsprechend geregelt werden. Hier zeigt sich – ist Fröhlich überzeugt – ein großer Unterschied zwischen strukturellem Vorgehen (beispielsweise ein Gespräch bezüglich Organtransplantation) und emotionaler Berührtheit: In dem Moment, in dem man mit dem Kind spricht, denkt man auch an die eigenen Kinder. „Hier habe ich wieder gemerkt, wie wichtig diese Arbeit ist, emotional kräftig sein zu dürfen und dass jemand in dieser Situation standhalten kann, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sprechen“, unterstreicht Fröhlich.

Ein Teil des Supervisionsprogrammes befasst sich auch mit der Neuroplastizität, die ein Ausdruck für den Gestaltungsraum und die Entwicklungsfähigkeit von Neuronen ist. Konkret kann es sich dabei um die Begeisterung für eine Sache handeln, und die gegenseitige Unterstützung, die Kooperation – kurz zusammengefasst der „mutual support“. „Zu den beiden Tragsäulen meiner Lehrtätigkeit zählt es, dass jeder für sich herausfindet: Was begeistert mich, wofür stehe ich und wo bin ich mir sicher in meinem Wert?“ Die emotionale Tiefe des Menschen sei nicht nur deshalb wichtig, um Mitgefühl mit anderen zu haben, sondern sie stehe auch für die Begeisterungsfähigkeit im eigenen Leben. Die Selbstwahrnehmung zu stärken, zählt darüber hinaus ebenso zu den fokussierten Zielen einer gut geführten Supervision: Dies reicht von körperlichen Symptomen wie zum Beispiel dem Schlaf, aber auch dem Umgang mit der engsten Familie und vielleicht auch bei der Beschäftigung mit der Frage, ob man sich vielleicht verändert habe und womöglich jemand ganz anderer geworden sei.

Auch Dauerstress könne zu Reaktionen führen oder aber wenn andauernd berufliche Probleme „mit nach Hause genommen werden“. Fröhlich berichtet von einem Pfleger, der sich aufgrund der personellen Situation in einem Dauerprovisorium befand. So hätten drei geriatrische Patienten gleichzeitig die Glocke betätigt, was den Pfleger dann dazu brachte, einen der Betroffenen anzuschreien. „Gerade solche Grenzsituationen zeigen auf, wie wichtig es ist, das ansprechen zu dürfen“, führt Fröhlich aus. Der Betroffene merkt im Gespräch, dass er nicht allein ist. Das Erlebte kann im Zuge des Austausches besprochen und die Situation abgeschlossen werden.

Dauerhaft im Stress

Befindet sich das Nervensystem dauerhaft unter Stress in „Dauerfeuer“ und es gibt niemanden, mit dem man das besprechen kann, „ist das Transmittersystem unter Umständen nicht in der Lage, auf Entlastung umzuschalten“, erklärt Fröhlich. Nicht selten erfolge dann der Griff nach einem anderen Reiz oder einer Droge, um auf andere Weise das Nervensystem zu beruhigen; dies geschieht oft in Form von Alkohol, Medikamenten oder diversen digitalen Angeboten.

Auch wenn es viele Grenzsituationen in der Medizin gäbe, dürfe man nicht außer Acht lassen, dass es „eine sehr schöne Aufgabe ist, Menschen zu helfen, die sich in extremen Lebenssituationen befinden und dass diese Tätigkeit auch viel Freude und viel Energie liefern kann“, so Lehofer. Es sei von enormer Wichtigkeit, in seinem Beruf „sinnvolle Tätigkeiten auszuüben und sich mit dem Wesentlichen im Leben zu beschäftigen und sich nicht so wie viele Menschen mit relativ sinnlosen Tätigkeiten und Unwesentlichkeiten in ihrem Berufsleben herumzuschlagen“. Was die emotionalen Belastungen im eigenen Leben anbelangt, empfiehlt Lehofer, darauf zu achten „Energie-fressende Lebensumstände“ möglichst zu eliminieren. „Daher ist es immer gut, Extremsituationen regelmäßig zu reflektieren und im Sinn einer Supervision zu kommunizieren“, meint Lehofer.

Das Leben als Erlebnis

Die Grenzen des Lebens erzeugten überhaupt erst jene existentielle Dimension, die  das Leben zum Erlebnis mache. „Der Tod ist etwas, was uns im Leben die existentielle Dimension überhaupt ermöglicht“, betont Lehofer. Die Begrenztheit mache die Qualität unseres Lebens und der Leidenschaftlichkeit in diesem Leben aus. „Würden wir mehr an die Begrenztheit unseres Lebens denken, würden wir unsere Beziehungen anders führen und den Moment auch anders genießen“, betont Lehofer abschließend. (cs)


Interview: „Ich bereue nichts“

In einer neuen Form der ärztlichen Aufgabe findet sich Univ. Doz. Michael Fröhlich heute: Als Facharzt für Intensivmedizin hat Fröhlich viele Jahre am AKH Wien gearbeitet; heute hilft er durch Coaching und Supervision anderen Ärzten, mit Belastungssituationen im Klinikalltag umzugehen. Dass er seine klinische Tätigkeit aber keinesfalls bereut, betont er im Gespräch mit der ÖÄZ.

Sie sind seit mehr als zwölf Jahren nicht mehr im klinischen Bereich tätig. Fehlt Ihnen diese ärztliche Tätigkeit? Auch wenn ich nicht mehr klinisch tätig bin, bin ich doch sehr nahe am klinischen Geschehen. Ich darf mich auch in meinem Element als Arzt fühlen, da ich mithelfen kann, Krisen zu überwinden, Erleichterung zu schaffen und Menschen wieder von den schwierigsten Seelenzuständen ins Lebendige zu bringen. Das ist eine ärztliche Aufgabe und hierbei fühle ich mich sehr wohl.

Wie beurteilen Sie heute Ihre Erfahrungen als Intensivmediziner? Im Alter von 24, 25 Jahren habe ich das Glück gehabt, im Freundeskreis die ersten Selbsterfahrungsgruppen zu machen. Ich lernte zum ersten Mal Wut, Trauer und Angst kennen und das hat mir sehr dabei geholfen, alles über viele Jahre gut zu überstehen. Später habe ich vieles selbst nicht richtig wahrgenommen und auch unterdrückt. Ich war zwischen 40 und 45 Jahren, in einem Alter, wo man nicht gerade angehalten wird, leiser zu treten. Forschungslabor, Kongressreisen, klinisches Arbeiten, Nachtdienste, Vorträge, Studierende, Habilitation, meine Familie, ein zweiter Anlauf mit einer zweiten Ehe. Da will man natürlich alles gut machen und in dieser Phase habe ich vieles auch übersehen, auch meine Symptome. Das habe ich auch in meinen Büchern beschrieben. Damals wäre gut es gewesen, ein Früherkennungssystem bei sich entwickelt zu haben, das ich wahrscheinlich nicht hatte.

Welche Unterstützung haben Sie damals erhalten? Damals war es eher die Ausnahme in meiner Ausbildung, dass es vereinzelt Professoren, Primarärzte oder Ärzte gab, die sagten: komm, ich nehme dich mit, ich zeige dir, wir machen das schwierige Gespräch der Angehörigenbetreuung jetzt gemeinsam. Ich möchte das heute anders machen und gebe dieses Erfahrungswissen frühzeitig an die Medizinstudenten weiter. Aus diesem Grund ist mein Unterricht schon ab dem ersten Semester ein freies Wahlfach. Ich mache heute das, was ich früher selbst vermisst habe und meine Tätigkeit wird sehr geschätzt und dafür bin ich sehr dankbar.

Haben Sie Ihren Ausstieg je bereut? Ich bereue nichts. Ich bin sehr dankbar für jeden Tag, den ich am AKH in meiner damaligen Position verbringen konnte – auch für das Schwierige, weil so kann ich heute genau mit diesem Ohr zuhören. Die Menschen spüren ganz genau, ob man ihnen emotional folgen kann oder nicht. Oft trauen sie sich, dann selbst eine Tür zu öffnen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas Platz hat. In meiner Supervisionstätigkeit heute erlebe ich viele ähnliche und viel schwierigere, schlimmere und tragischere Situationen. Wie gesagt: Ich bereue keine Sekunde, bin aber auch sehr froh, dass ich diese Zeit gut überstanden habe.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2019