Gangstörungen bei älteren Menschen: Multifaktoriell bedingt

10.10.2019 | Medizin


Die Ursachen von Gangstörungen sind mit zunehmendem Alter oft multifaktoriell. Da das Gehen ein Indikator für den allgemeinen Gesundheitszustand darstellt und auch mit der Lebenserwartung korreliert, sollte jede Gangstörung sorgfältig abgeklärt werden.

Irene Mlekusch

Gangstörungen finden sich bei älteren Patienten häufig. Die Prävalenz steigt von zehn Prozent bei den 60- bis 69-Jährigen auf bis zu 60 Prozent bei den über 80-Jährigen. In geriatrischen Zentren und Pflegeeinrichtungen finden sich auch höhere Prävalenzraten. Generell nimmt mit zunehmendem Alter die selbstgewählte Gehgeschwindigkeit ab – ab dem 60. Lebensjahr um etwa ein Prozent pro Jahr. Dabei wird eher die Schrittlänge reduziert als die Schrittfrequenz. Das Gangmuster selbst wird aber, abgesehen vom Alter, auch von Persönlichkeit, Stimmung und soziokulturellen Faktoren beeinflusst.

Gangstörungen und Gangunsicherheit erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Stürze; die Angst vor einem Sturz wiederum schränkt die Mobilität ein und führt zu protektiven Gangstrategien. So bewegen sich Patienten etwa wie auf Eis oder einem glatten Boden, der Stand wird breitbeiniger, die Schritte kürzer und das Gehtempo deutlich verringert. Univ. Prof. Walter Pirker von der Neurologischen Abteilung im Wilhelminenspital in Wien bringt die Thematik auf den Punkt: „Wer nicht gehen kann, dem geht es nicht gut.” Daher ist es essentiell, physiologische Gangveränderungen des Alters von pathologischen Störungen abzugrenzen, um Unabhängigkeit und Lebensqualität so lange wie möglich zu erhalten.

Das Gehen ist ein komplexer Vorgang, dessen rhythmische Bewegungsmuster auf Rückenmarksebene festgelegt sind und einer abgestimmten Interaktion von neuronalem, muskuloskelettalem und kardiopulmologischem System bedürfen. Auch kognitive Fähigkeiten und psychologische Faktoren haben einen großen Einfluss auf das Gehen. Beispielsweise haben ältere Personen, die beim Sprechen stehen bleiben müssen, ein deutlich höheres Risiko zu Stürzen. Somit ist eine Störung auf verschiedenen Ebenen möglich. „Oft kommt es im Alter zur Überlagerung mehrerer Ursachen beim Auftreten einer Gangstörung“, gibt Pirker zu bedenken. Die Auswirkungen sind sehr variabel und können einschränkend bis verheerend sein; im schlimmsten Fall sind die Betroffenen gar nicht mehr in der Lage zu gehen. „Viele Gangstörungen beginnen oft schleichend und unbemerkt, dann tritt plötzlich eine Verschlechterung ein,“ so Pirker.

Neurologische Ursachen häufig

Gangstörungen können neurologische, orthopädische oder internistische Erkrankungen zugrundeliegen. Im Rahmen der Bruneck-Studie konnte an einer repräsentativen Population von über 60-Jährigen festgestellt werden, dass zwei Drittel der Patienten, die unter einer Gangstörung leiden, eine neurologische Ursache angaben; die Hälfte der Betroffenen verwies auf eine nicht-neurologische Ursache. Dieses Ergebnis macht deutlich, dass viele Patienten zeitgleich eine neurologische und eine nicht-neurologische Gangstörung aufweisen. Auch psychische Veränderungen und Nebenwirkungen von Medikamenten wie Sedativa, Antidepressiva oder Benzodiazepine, sowie Alkohol können eine Gangstörung verursachen. Vor allem Polypharmazie stellt einen wichtigen Risikofaktor für Stürze im Alter dar. Auch ein gestörter Visus oder Schmerzen können Auslöser sein. Für Assoz. Prof. Petra Schwingenschuh von der Forschungseinheit für Movement Disorders an der Universitätsklinik für Neurologie in Graz ist vor allem der zeitliche Verlauf entscheidend: Sie unterscheidet akute von langsam progredienten Gangstörungen. „Schlagartig auftretenden Gangstörungen liegt entweder ein Insult oder ein Trauma zu Grunde“, merkt Schwingenschuh an. Neben einer zerebrovaskulären Läsion sind auch andere akute Läsionen im Nervensystem möglich, ebenso ist an systemische Erkrankungen wie metabolische Entgleisungen, rheumatologische Erkrankungen und kardiopulmonale Beschwerden zu denken. Beide Experten empfehlen bei akutem Einsetzen einer Gangstörung eine rasche neurologische Abklärung. „Gangstörungen mit fokalen Zeichen gelten immer als akut“, ergänzt Pirker.

Anamnese und klinische Untersuchung

Erste Hinweise auf die Ursache bringen die Anamnese und klinische Untersuchung. Dabei wird empfohlen den Patienten ohne Schuhe auf einer längeren Gehstrecke zu beobachten. Um Veränderungen orthopädischer Natur zu erfassen, sollte die Untersuchung weitgehend ohne Kleidung erfolgen. Asymmetrische Gangbilder sind häufig orthopädischen Ursprungs. „Klagen die Patienten beim Gehen zusätzlich über Schmerzen kann ein Röntgen der Lendenwirbelsäule weitere Hinweise liefern,” rät Schwingenschuh. Pirker sieht in der Abklärung von Schädel, Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule mittels Bildgebung einen wesentlichen diagnostischen Schritt, da sich bei älteren Patienten häufig Vertebrostenosen finden. Bei der Claudicatio spinalis treten beim Gehen nach einer individuell charakteristischen Zeit zunehmende Schmerzen und neurologische Ausfälle in den Beinen auf, die sich beim Hinsetzen rasch beruhigen. Ähnliche Beschwerden finden sich bei einer peripher arteriellen Verschlusskrankheit. Allerdings bessert sich die Claudicatio intermittens schon alleine durch das Stehenbleiben; die Schmerzen haben vorwiegend einen krampfartigen Charakter. Zusätzlich zur internistischen und orthopädischen Untersuchung, kann eine ophthalmologische Untersuchung notwendig sein. „Fühlen sich die Patienten schwindelig, können ihre Beschwerden nicht näher beschreiben und weisen zusätzlich einen Nystagmus und eine gerichtete Fallneigung auf, so ist an eine vestibulopathische Gangstörung zu denken und an einen HNO zu überweisen,” erklärt Schwingenschuh. Typischerweise fällt Patienten mit vestibulär bedingter Gangstörung das rasche Gehen und Laufen leichter als langsames Gehen. Außerdem verstärkt sich die Gangunsicherheit bei Dunkelheit und unebenem Grund.

Die Erhebung der Sturzanamnese ist für Schwingenschuh essentiell, da Gang- und Gleichgewichtsstörungen im Alter häufiger für Stürze verantwortlich sind als Synkopen, Anfälle und akute Insulte. „Patienten, die häufig stürzen, sollten unbedingt einem Neurologen vorgestellt werden”, rät Schwingenschuh. Der vorsichtige Gang – auch als senile Gangstörung bezeichnet – entwickelt sich meist nach dem ersten Sturz und kann den Betroffenen in seiner Mobilität und Lebensqualität massiv einschränken. Die Patienten gehen langsam, breitbasig und mit kleinen Schritten. In der maximalen Ausprägung – der phobischen Gangstörung – sind Einschränkungen bis zur Gehunfähigkeit möglich. Schwingenschuh sieht den vorsichtigen Gang im Alter durch Sturzangst als eine Ausschlussdiagnose, rät aber unbedingt zu einem Gehtraining, um eine Progredienz zu verhindern.

Die häufigsten neurologischen Ursachen für Gangstörungen stellen sensorisch-ataktische Gangstörungen, Parkinson-Gangstörungen, frontale Gangstörungen und zerebellär-ataktische Gangstörungen dar. Einige Patienten leiden auch an einer Mischung verschiedener neurologischer Gangstörungen. „Zusätzliche neurologische Symptome wie Halbseitenlähmung, Zittern oder Gedächtnisstörungen weisen auf eine neurologische Ursache hin”, weiß Schwingenschuh. Die Ursachen für eine zerebelläre Ataxie können vaskulär, toxisch, degenerativ, inflammatorisch oder neoplastisch sein. Der zerebellär-ataktischen Gangstörung liegt eine Beeinträchtigung des Gleichgewichts und der Bewegungskoordination zugrunde. Das Gangbild erscheint vorsichtig mit leichter Vorwärtsneigung; Wenden und komplexe Gangprüfungen führen zu einer deutlichen Verschlechterung. Bei der sensorisch-ataktischen Gangstörung werden die Beine höher gehoben und das Gangbild erhält dadurch einen stampfenden Charakter. Der Ausfall der visuellen Kontrolle führt zu einer massiven Zunahme der Ataxie. „Ein vaskuläres Problem am Auge kann somit bei bestehender kontralateraler Visusbeeinträchtigung zu einer Verschlechterung der Gangstörung führen“, sagt Pirker. Beide Experten merken an, dass die Polyneuropathie oft im Rahmen der Abklärung eines Diabetes mellitus entdeckt wird und umgekehrt. Die zerebelläre Ataxie kann bei manchen hereditären Ataxien auch gemeinsam mit einer sensibel-ataktischen Gangstörung auftreten.

Frontale Gangstörungen oder „higher level gait disorders“ können bei frontalen Läsionen zwar in jedem Alter auftreten, finden sich aber bei älteren Menschen häufiger. Liegt zusätzlich zur Gangstörung ein Tremor vor, besteht die Gefahr der Fehldiagnose eines Morbus Parkinson. Die Patienten haben Schwierigkeiten aufzustehen und in Gang zu kommen; das Gehen an sich erscheint erschwert und zappelnd, als würden die Füße am Boden festkleben. Freezing-Episoden treten immer wieder beim Überwinden von Hindernissen wie zum Beispiel Türschwellen auf. Im Sitzen sind viele Betroffene dagegen in der Lage regelrechte Schreitbewegungen durchzuführen. Frontale Gangstörungen werden durch frontale vaskuläre Läsionen, Raumforderungen des Frontalhirns, fortgeschrittene Demenz vom Alzheimertyp oder fronto-temporale lobäre Degeneration verursacht. Auch Patienten mit Normaldruckhydrocephalus leiden an einer frontalen Gangstörung. „Der Normaldruckhydrocephalus ist sehr selten,” merkt Schwingenschuh an, „aber beim Vorliegen der typischen Trias von Gangstörung, Harninkontinenz und kognitiven Defiziten sollte mittel Schädel-CT weiter abgeklärt werden.”

Gangstörung bei Morbus Parkinson

Die rigid-aktinetische Gangstörung oder Parkinson-Gang ist verlangsamt, klein-schrittig, engbasig mit vorgeneigter Körperhaltung. Das Gangbild erscheint schlurfend, das Aufstehen aus dem Sitzen ist erheblich erschwert und Sprechen während des Gehens führt zu einer Gangverschlechterung. „Finden sich Zusatzsymptome in Richtung Parkinson wie Bradykinese, Ruhetremor, Rigor oder posturale Instabilität, sollte der Patient unbedingt zum Neurologen überwiesen werden“, rät Schwingenschuh. Das Treppensteigen fällt den Patienten interessanterweise leichter als das Gehen in der Ebene. Das Vollbild der Gangstörung beim Morbus Parkinson zeigt sich normalerweise aber erst nach einigen Erkrankungsjahren.

Als weitere neurologische Ursachen für Gangstörungen sind die spastische Hemiparese und die spastische Paraparese zu nennen, außerdem die Multisystematrophie, die progressive supranukleäre Paralyse, Dystonien, Morbus Huntington, Myoklonien durch zerebrale Ischämie, periphere Paresen und orthostatischer Tremor. Die choreatische Gangstörung kann auch bei Patienten mit tardiven Dyskinesien, L-Dopa-induzierten Dyskinesien beim Morbus Parkinson oder hypoxischen Basalganglienläsionen etwa nach kardiopulmonalem Bypass als sogenannte „post pump“-Chorea auftreten. Nach einseitigen Läsionen in Thalamus oder Linsenkern kommt es zur thalamischen Astasie, die im Sitzen und Stehen zu einer Fallneigung nach hinten oder zur Gegenseite führt. Diese Störung tritt akut auf; sie ist dem Patienten zwar bewusst, aber nicht steuerbar und bessert sich für gewöhnlich nach Tagen bis Monaten. „Funktionelle oder psychogene Gangstörungen können in jedem Alter auftreten und finden sich bei älteren Menschen eher selten“, betont Schwingenschuh und macht auf die Abgrenzung zum vorsichtigen Gang aufmerksam.

Aufgrund der Beeinträchtigung der Lebensqualität ist die Abklärung von Gangstörungen für die Betroffenen essentiell. „Viele Ursachen für Gangstörungen sind behandelbar, einige leider nicht“, fasst Pirker zusammen. Einige Erkrankungen sind pharmakologisch oder chirurgisch behandelbar beziehungsweise lässt sich eine Verbesserung erzielen. Auch die Physiotherapie hat in der Behandlung einen wichtigen Stellwert. „Die Patienten müssen darüber aufgeklärt werden, dass sie von einer Physiotherapie und einem Gangtraining nur profitieren können“, so Schwingenschuh abschließend.


Prüfung von Gangstörungen

Klinische Gangprüfung

  • Freies Sitzen
  • Aufstehen aus dem Sitzen (selbständig?, ohne/mit Zuhilfenahme der Arme?)
  • Haltung (Rumpf, Hals, Kopf, aufrecht? gebeugt? asymmetrisch?)
  • Stand (engbasig/breitbasig)
  • Ganginitiierung (Starthemmung?)
  • Gehen (flüssig? gebremst? steif? unsicher? symmetrisch? hinkend?)
  • Schrittlänge, Fußhebung, Bodenkontakt, Basis (engbasig/breitbasig)
  • Gehtempo
  • Mitbewegungen (insbesondere der Arme)
  • Freezing
  • Wenden
  • Posturale Reflexe („pull”- oder „push”-Test)
  • Hinsetzen („motor recklessness”)

Erschwerte Stand- und Gangprüfungen

  • Seiltänzergang
  • Blindgang
  • Rückwärtsgehen
  • rasches Gehen
  • Laufen
  • rasches Wenden
  • Drehen am Stand
  • Romberg-Stand
  • Unterberger Tretversuch
  • Fersenstand- und -gang
  • Zehenballenstand und -gang
  • Einbeinhüpfen
  • Dual task-Maneuver (Sprechen bzw. Tragen beim Gehen)
  • Greifen aus dem Stand (functional reach)

Quelle: Pirker W., Katzenschlager R. Gait disorders in adults and the elderly – a clinical guide. Wiener Klinische Wochenschrift 2017;129:81-95

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2019