Adipositas: BMI steigt am Land stärker

10.06.2019 | Medizin


In den vergangenen 30 Jahren ist der durchschnittliche Body-Mass-Index weltweit um 2,1 kg/m² gestiegen. Dieser Anstieg von Übergewicht und Adipositas verteilt sich überraschend, wie eine im Mai 2019 in „Nature“ erschienene Prävalenzstudie zeigt: Nicht im urbanen, sondern im ländlichen Raum stieg die Zahl der fettleibigen Menschen stärker an.

Sophie Fessl

Die Studie der NCD Risk Factor Collaboration, einem weltweiten Netzwerk von Gesundheitswissenschaftern, der auch Epidemiologe und Biostatistiker Univ. Prof. Hanno Ulmer von der Medizinischen Universität Innsbruck angehört, analysierte die Daten von 2.009 Populationsstudien. Diesen Studien lagen Messungen von Gewicht und Größe von mehr als 112 Millionen Erwachsenen aus mehr als 200 Ländern und Territorien zugrunde, die zwischen 1985 und 2017 gesammelt wurden. Aus diesen Daten konnte der Body-Mass-Index berechnet werden.

Durchschnittlich fünf Kilogramm mehr

Die Meta-Analyse zeigte einen globalen Anstieg des BMI von Frauen und Männern um 2,1 kg/m². Das entspricht einer Gewichtszunahme von fünf bis sechs Kilogramm pro Person. Mehr als die Hälfte dieses globalen BMI-Anstiegs ist laut der Analyse auf einen Gewichtsanstieg am Land zurückzuführen. In manchen Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen war der Anstieg des BMI sogar zu mehr als 80 Prozent auf die Gewichtsentwicklung im ländlichen Raum zurückzuführen. Zwischen 1985 und 2017 ist der BMI bei Frauen durchschnittlich um 2 kg/m² und bei Männern um 2,2 kg/m² gestiegen. Bei Frauen belief sich die durchschnittliche Zunahme des BMI im urbanen Raum auf 1,3 kg/m² und im ländlichen Raum auf 2,1 kg/m², bei Männern im urbanen Raum auf 1,6 kg/m² und im ländlichen Raum ebenfalls auf 2,1 kg/m².

Österreich gehört ebenso wie Schweden, Tschechien, Irland, Australien und die USA zu der Gruppe an Industrieländern, bei denen der Unterschied zwischen Stadt und Land am stärksten ausgeprägt ist. In diesen Ländern ist der durchschnittliche BMI am Land mehr als 0,35 kg/m² höher als der durchschnittliche BMI im urbanen Raum. Die Analyse für Österreich basiert einerseits auf Daten der Stellungskommissionen des österreichischen Bundesheeres, andererseits auf Gesundheitsdaten des Vorarlberger Arbeitskreises für Vorsorge- und Sozialmedizin. Hanno Ulmer bereitete letztere Daten für die Meta-Analyse auf und analysierte sie. Außerdem wurde bei der Studie auf Gewichts- und Größendaten der Bruneck-Studie zurückgegriffen, die seit 1990 im Abstand von fünf Jahren Einwohner der Stadt Bruneck in Südtirol untersucht. Bei der Meta-Analyse wurde ein eigenes für Meta-Studien entwickeltes hierarchisches Bayes-Modell zur Analyse der weltweit gesammelten Daten verwendet.

Markante Veränderung der BMI-Verteilung

Global gesehen haben diese Trends zu einer markanten Veränderung in der Geographie des BMI geführt. So war im Jahre 1985 der BMI von Frauen und Männern, die in der Stadt lebten, höher als der BMI von Bewohnern ländlicher Regionen. Bis 2017 verringerte sich diese Kluft, in einigen Ländern kam es sogar zu einer vollständigen Umkehr: Der BMI ist nun im ländlichen Raum höher als in der Stadt. Nur in Subsahara-Afrika stieg der BMI im urbanen Raum stärker als im ländlichen Raum, sodass sich hier der Unterschied zwischen Stadt und Land vergrößerte. In Österreich allerdings war bereits 1985 der BMI am Land höher als in der Stadt und stieg über den Studienzeitraum hin an. In Österreich wie auch im weltweiten Durchschnitt ist bei Männern die stärkste Gewichtszunahme zu beobachten. Im ländlichen Raum Österreichs stieg der BMI von Männern von durchschnittlich 24,7 auf 27,0 kg/m², in der Stadt von 24,2 auf 26,6 kg/m².

Professor Majid Ezzati vom Imperial College London, der die Studie leitete, zieht in einer Aussendung gesundheitspolitisch relevante Schlüsse. „Die Ergebnisse dieser großen globalen Studie kippen die gängige Wahrnehmung, dass die Hauptursache für den globalen Anstieg der Fettleibigkeit die Tatsache ist, dass mehr Menschen in der Stadt leben. Wir müssen also überdenken, wie wir dieses globale Gesundheitsproblem angehen.“

In der Studie werden auch mögliche Ursachen für den Stadt-Land-Unterschied genannt. Die Wissenschafter vermuten, dass dieser auf Nachteile zurückgeführt werden kann, die Menschen weltweit betrachtet außerhalb von Städten eher erfahren: geringeres Einkommen und Bildung, begrenzte Verfügbarkeit und höherer Preis für gesunde Lebensmittel sowie weniger Freizeit- und Sportanlagen. „Gesundheits-politische Diskussionen tendieren dazu, sich auf die negativen Aspekte des Stadtlebens zu fokussieren“, erklärt Ezzati in der Aussendung weiter: „Tatsächlich bieten Städte eine Fülle an Möglichkeiten, sich gesünder zu ernähren, sich körperlich zu betätigen und zu erholen und die Gesundheit im Allgemeinen zu verbessern. Diese Angebote sind im ländlichen Raum oft schwerer zu finden.“

Tipp: „Rising rural body-mass index is the main driver of the global obesity epidemic in adults”, Nature 569, 260–264 (2019)


Fokus auf Landbevölkerung

Der Fokus für Übergewichts-Präventionsprogramme sollte mittlerweile mehr auf dem Land liegen, resümiert Univ. Prof. Hanno Ulmer vom Department für medizinische Statistik, Informatik und Gesundheitsökonomie der Meduni Innsbruck. Auch seien in der Prävention viele Fehler gemacht worden, betont er im Gespräch mit Sophie Fessl.

Welches Ergebnis hat Sie bei dieser Studie am meisten überrascht? Die überraschende Neuigkeit dieser Studie ist, dass global gesehen Übergewicht offenbar am Land stärker ausgeprägt ist als in der Stadt – und zwar in allen industrialisierten Staaten, mit Ausnahme von Subsahara-Afrika. Die meisten Experten haben ja vermutet, dass Übergewicht eher in der Stadt beheimatet ist. Das ist ein großer Unterschied zur Verteilung, die wir hier zeigen.

Wie sieht die Situation in Österreich aus? Österreich gehört zu den Staaten mit dem am stärksten ausgeprägten Unterschied zwischen Stadt und Land in Bezug auf den durchschnittlichen BMI. Der Unterschied liegt bei knapp einer BMI-Einheit, also durchschnittlich über die gesamte Bevölkerung gesehen bei zwei bis drei Kilogramm. Das ist gravierend und resultiert in deutlich erhöhten Adipositas-Raten am Land. Wenn man die Schweiz als Nachbarland hernimmt: Hier ist der Unterschied geringer.

Gibt es eine Erklärung, wie es zu diesem Stadt-Land-Gefälle kommen kann?
Bei der Studie handelt es sich um eine reine Prävalenzstudie, aber es gibt Vermutungen. In der Stadt sind gesunder Lifestyle und gesunde Ernährung vielleicht größere Themen; hier gibt es in dieser Hinsicht viele Angebote. Am Land gibt es zwar die Möglichkeit, sich in der Natur zu bewegen. Aber offenbar wird das nicht in dem bisher vermuteten Ausmaß genutzt. Einerseits wird am Land weniger körperlich gearbeitet als früher, andererseits ist Pendeln vermutlich ein Faktor. Wenn man lange Autofahrten benötigt, um zum Arbeitsplatz zu kommen, hat man weniger Zeit für Sport und andere Freizeitbetätigungen.

Was bedeutet der stetige Anstieg des BMI für die Prävention? Leichtes Übergewicht an sich ist noch nicht besorgniserregend. Aber der Trend ist insgesamt bedenklich, vor allem wenn man an Kinder und Jugendliche denkt. Hier haben wir steigende Übergewichtszahlen. Das ist eine große Herausforderung für die Prävention. Leider sind bei der Prävention in den letzten 20, 30 Jahren viele Fehler gemacht worden wie etwa sehr einseitige Empfehlungen. In den USA hat die Idee, dass man Fett vermeiden soll, wo es nur geht, die Übergewichtswelle sogar noch getriggert. Die zweite Säule der Prävention ist natürlich Sport und die Frage, wie man sich körperlich betätigen kann.

Sollten als Konsequenz aus der Studie verstärkt Präventionsmaßnahmen am Land gesetzt werden? Das ist eine Botschaft der neuen Studie. Der Fokus für ÜbergewichtsPräventionsprogramme sollte mittlerweile mehr auf dem Land liegen und man sollte entsprechende Programme mit der Zielgruppe Landbevölkerung andenken.

Welche Fragen müssen für Österreich noch beantwortet werden? Man müsste sich die Daten der Regionen anschauen und auf Basis von kleinräumigen Analysen versuchen, Gebiete für spezielle Präventionsprojekte zu definieren. Ich werde mir die Situation bei Kindern und Jugendlichen ansehen. Das ist wichtig, weil Studien zeigen, dass übergewichtige Kinder zu einem höheren Prozentsatz übergewichtige Erwachsene werden. Hier ist besonders interessant, ob schon Kinder am Land übergewichtiger sind als Kinder in der Stadt. Ich würde vermuten, dass es nicht so ist und Kinder die ländliche Umgebung nutzen, um sich zu bewegen. Aber vielleicht erleben wir da die nächste Überraschung.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2019