BKNÄ: „Lösungsvorschläge liegen schon lange auf dem Tisch“

25.02.2019 | Aktuelles aus der ÖÄK


Nach langen Jahren, in denen die Ärztekammer vor dem Ärztemangel gewarnt hat, ist das Thema nun in der Politik angekommen. ÖÄK-Vizepräsident Dr. Johannes Steinhart nennt die Fakten und die dringend notwendigen Schritte.

Der Ärztemangel ist jetzt auch ein Thema der Politik. Ein Erfolg der Aufklärungsarbeit der Ärztekammer?
Sicherlich. Wir waren über viele Jahre so ziemlich die Einzigen, die vor der Ärzteknappheit, die sich ohne geeignete Gegenmaßnahmen im nächsten Jahrzehnt zu einem massiven Ärztemangel verschärfen wird, gewarnt haben. Die Resonanz bei Regierung und Sozialversicherungen war leider stets enden wollend, wir mussten uns anhören, dass Österreich genügend Ärzte, aber „ein Verteilungsproblem“ habe – was immer das auch sein mag. Ich hoffe, dass das Thema auch bei den Regierungsparteien angekommen ist, und nicht nur bei der größten Oppositionspartei, die von diesem Thema früher, als sie noch den Kanzler stellte, auch nichts wissen wollte.

Auf Länderebene tut sich aber bereits einiges.
Überfüllte Ordinationen, lange Wartezeiten in den Ambulanzen und nicht zuletzt Engpässe bei der ärztlichen Versorgung immobiler Menschen zu Hause werden natürlich von Regional- und Lokalpolitikern intensiver wahrgenommen. Als Konsequenz gibt es zum Beispiel in der Steiermark und in Wien Startförderungen, oder im Burgenland Ausbildungs-Unterstützungen. Das kann aber nur ein Anfang sein.

Wo sehen Sie die Perspektive Ärztemangel am bedrohlichsten?

Die Ärzteknappheit zieht sich durch Österreich, durch die Fächer und die verschiedenen Ärztetypen. Heute haben wir in Österreich die höchste Alters-Konzentration bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten mit einem Lebensalter um die 56 bis 58 Jahre. In zehn Jahren werden die meisten aus dieser Gruppe das Pensionsalter erreicht haben. Von den Ärztinnen und Ärzten mit einem GKK-Vertrag werden in zehn Jahren 55 Prozent das Pensionsalter erreicht haben, bei den Fachärzten sind es sogar 60 Prozent. Bei den Wahlärzten, die eine unverzichtbare Säule der niedergelassenen ärztlichen Versorgung sind, ist es mit 42 Prozent geringfügig besser.

Gibt es besonders bedrohte Fächer?

Es gibt nur wenige Fächer, die nicht bedroht sind. Von den heute praktizierenden Orthopäden mit GKK-Vertrag etwa werden in zehn Jahren 64 Prozent das Pensionsalter erreichen, bei den Frauenärzten sind es 65 Prozent, bei den Urologen 58 Prozent, und bei den Fachärzten für Innere Medizin 61 Prozent. Das fällt insofern besonders ins Gewicht, als es sich hier um zahlenmäßig recht kleine Ärztegruppen handelt, und wenn davon bis zu zwei Drittel in Pension gehen, haben wir ein echtes Versorgungsproblem. Alarm schlagen aber zum Beispiel auch die Fachgesellschaften für Anästhesie und Pathologie: Ohne ausreichend viele Repräsentanten dieser Fächer wird das Operieren und das Diagnostizieren zum Problem. Das sind dramatische Aussichten.

Welche Herausforderungen ergeben sich aus den regionalen Unterschieden?
Ärzteknappheit und Versorgungslücken sind kein Problem einzelner Regionen, ländliche Gegenden sind davon genauso betroffen wie zum Beispiel Wien. Aber natürlich können die Ursachen und Auswirkungen unterschiedlich sein, und das erfordert einen differenzierten Zugang. Es ist eine Aufgabe der politischen Architekten der künftigen „Österreichischen Gesundheitskasse“, dafür zu sorgen, dass lokale und regionale Spezifika ausreichend berücksichtigt werden und jeweils maßgeschneiderte Lösungen gemeinsam mit der Ärzteschaft gesucht und gefunden werden. Alles über einen Kamm zu scheren wäre ein krasser Rückschritt.

Wie viele zusätzliche Ärzte braucht Österreich, um das Versorgungsniveau zu halten?
Den mittelfristigen jährlichen Nachbesetzungsbedarf im niedergelassenen Bereich haben wir mit 938 Ärzten errechnet. So viele benötigen wir zur Aufrechterhaltung des Status quo in fünf Jahren, um die pensionsbedingten Abgänge zu kompensieren. Die Realität schaut aber so aus: In Österreich gab es 2017 an den öffentlichen Universitäten 1.665 Absolventen eines Medizinstudiums, und es ist davon auszugehen, dass vier von zehn nicht in Österreich als Ärzte arbeiten werden. Rein rechnerisch müssten also alle in Österreich verbleibenden Absolventen niedergelassene Ärzte werden, um den Bedarf zu decken. Das kann sich nicht ausgehen.

Welche sind Ihre Vorschläge gegen den Ärztemangel?
Lösungsvorschläge der Ärztekammer liegen schon lange auf dem Tisch. Generell brauchen wir mehr Mediziner im Land, mehr ärztlichen Nachwuchs und attraktivere Rahmenbedingungen für die ärztliche Tätigkeit. Diese Dinge hängen natürlich zusammen. Hier ist die Bildungs- und die Gesundheitspolitik gefordert, gute Lösungen zu erarbeiten.

Wie ließe sich das Interesse am Medizinstudium erhöhen?
Wenn in Österreich von 100 Interessenten nur rund zehn zum Medizinstudium zugelassen werden, dann ist das vor dem Hintergrund der Ärzteknappheit verwunderlich. In Deutschland zum Beispiel ist man dazu übergegangen, mehr Medizinstudienplätze zu schaffen. Dort gibt es auch attraktive Landarztstipendien: Wer sich verpflichtet, nach dem Studium einige Jahre als Landarzt zu arbeiten, bekommt von der öffentlichen Hand ein Stipendium. Auch private Kliniken machen bereits solche Angebote. Der Fantasie sind also keine Grenzen gesetzt.

Welchen Optimierungsbedarf sehen Sie bei der Medizinerausbildung?

Zum Beispiel muss die Allgemeinmedizin im Studium unbedingt forciert werden. Ein wichtiger Fortschritt ist die Finanzierung der Lehrpraxis. Die Lehrpraxis ist ein Hebel, um mehr Ärzte in den niedergelassenen Bereich zu bringen.

Ist die E- und Online-Medizin ein geeignetes Rezept gegen den Ärztemangel?

Beim deutschen Nachbarn befürworten immer mehr Ärztekammern die Online-Betreuungen von Patienten auch ohne vorangegangenen persönlichen Kontakt, in der Schweiz gibt es das schon länger. Das kann in Einzelfällen eine pragmatische Notlösung sein, als Regelfall wünsche ich mir das nicht. Auch deshalb, weil es den Arzt-Patient-Kontakt entpersönlicht. Ich halte auch vom Marketing-Trend „Algorithmen statt Ärzte“ nichts. Technik soll Ärzte unterstützen, aber nicht ersetzen. Wir müssen aufpassen, dass der Ärztemangel nicht den willkommenen Vorwand bietet, um solche Fehlentwicklungen zu promoten.

Sind höhere Honorare die Lösung des Problems Ärzteknappheit?
Zum Teil sicherlich. Wenn ein in Österreich ausgebildeter Arzt in einem deutschsprachigen Nachbarland bessere Verdienstmöglichkeiten vorfindet, dann muss er nicht einmal eine Fremdsprache erlernen, um zu besseren Bedingungen zu arbeiten. Es dürfen also die Honorarbedingungen bei uns zumindest nicht schlechter sein als anderswo. Es geht aber auch um andere Facetten des Arbeitslebens, zum Beispiel weniger nervtötende und zeitraubende Bürokratie für Kassenvertragsärzte, und an die jeweilige Lebenssituation angepasste Arbeitsbedingungen.

Wie soll das alles praktisch umgesetzt werden?
Das ist ein sehr multifaktorieller Prozess, dazu bedarf es österreichweiter Bemühungen aller involvierten Institutionen und Interessensvertretungen. Entscheidend ist, dass die Politik das Thema erkennt und ernst nimmt und diesen Prozess endlich startet. Dass wir dabei sehr gerne mit unserer Expertise unterstützen, kann inzwischen als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2019