Gewalt in Arzt­pra­xen: Ein alar­mie­ren­der Trend

10.05.2019 | Aktuelles aus der ÖÄK


Die Hemm­schwel­len von immer mehr Pati­en­ten sin­ken, die Bereit­schaft zu Aggres­sion und Gewalt gegen Ärzte und ihre Mit­ar­bei­ter in Arzt­pra­xen steigt. Ein dra­ma­ti­scher Befund, der auf kei­nen Fall igno­riert wer­den darf.


Viele nie­der­ge­las­sene Ärz­tin­nen und Ärzte ken­nen die unmit­tel­ba­ren Aus­lö­ser von Aggres­sio­nen, Kon­fron­ta­tio­nen und zuneh­mend auch Gewalt­an­dro­hung in ihren Arzt­pra­xen aus unmit­tel­ba­rer Erfah­rung: Pati­en­ten wol­len eine Behand­lung, die jedoch medi­zi­nisch nicht ange­mes­sen ist und/​oder von den Kas­sen nicht bezahlt wird. Oder sie wün­schen eine Krank­schrei­bung, die der Arzt nicht ver­ant­wor­ten möchte. Oft bean­stan­den sie lange War­te­zei­ten in der Ordi­na­tion, und neh­men Anstoß daran, dass vor­ge­merkte Pati­en­ten, Schwan­gere oder Not­fall­pa­ti­en­ten vor ihnen zum Arzt vor­ge­las­sen werden.

„Sol­che Pro­bleme gab es schon immer. Neu ist jedoch ein zuneh­mend höhe­res Risiko der Eska­la­tion“, bilan­ziert Naghme Kama­leyan-Schmied, Obfrau der Sek­tion All­ge­mein­me­di­zin der Wie­ner Ärz­te­kam­mer. Am häu­figs­ten, so zeigt eine Stu­die, kommt es im Kon­flikt­fall zum Bei­spiel zu Belei­di­gun­gen und Beschimp­fun­gen, Sach­be­schä­di­gung, Ruf­schä­di­gung und Ver­leum­dung im Inter­net, also Cyber-Mob­bing. „In Berich­ten ist vom Bei­ßen, Spu­cken, Tre­ten oder Sto­ßen die Rede – das Spek­trum ist breit. Einem Kol­le­gen wurde von einem Pati­en­ten mit der Faust ins Gesicht geschla­gen, einem ande­ren das Nasen­bein gebro­chen“, berich­tet Kama­leyan-Schmied. „Natür­lich sind sol­che Vor­komm­nisse Aus­nah­men. Aber sie sind keine Ein­zel­fälle mehr, son­dern bil­den inzwi­schen einen alar­mie­ren­den Trend ab.“

Bis­her sind sol­che Fehl­ent­wick­lun­gen aus dem Aus­land, und in Öster­reich ins­be­son­dere aus den Not­auf­nah­men man­cher Kran­ken­häu­ser bekannt, die zum Teil bereits Secu­rity-Dienste ein­set­zen müs­sen. „Doch nun hat der Trend zur sin­ken­den Hemm­schwelle, zum Ein­schüch­tern und zum aggres­si­ven Ein­for­dern von Leis­tun­gen, von denen man glaubt, dass sie einem zuste­hen, auch unsere Arzt­pra­xen erreicht“, so Johan­nes Stein­hart, Obmann der Bun­des­ku­rie nie­der­ge­las­sene Ärzte und Vize­prä­si­dent der ÖÄK. „Das ist ein dra­ma­ti­scher Befund, den eine Ärz­te­ver­tre­tung, aber auch die Gesamt­ge­sell­schaft auf kei­nen Fall ein­fach hin­neh­men darf.“

In Öster­reich gibt es zum Thema Gewalt in Arzt­pra­xen – anders als zum Bei­spiel seit eini­ger Zeit in Deutsch­land – noch kaum reprä­sen­ta­tive Daten. Nach den Anga­ben des deut­schen „Ärz­te­mo­ni­tors 2018“ kommt es in deut­schen Arzt­pra­xen täg­lich zu ins­ge­samt 75 Fäl­len kör­per­li­cher und 2.870 Fäl­len ver­ba­ler Gewalt. Jeder vierte nie­der­ge­las­sene Arzt wurde zumin­dest ein­mal im Berufs­le­ben mit kör­per­li­cher Gewalt durch Pati­en­ten kon­fron­tiert. Basis die­ser Ergeb­nisse ist die Befra­gung von etwa 7.000 Ärz­ten. „Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass sich sol­che Ergeb­nisse auf Öster­reich umle­gen las­sen“, so Steinhart.

Natür­lich kön­nen kranke Men­schen und ihre Ange­hö­ri­gen ver­letz­lich sein, räumt Stein­hart ein. Tref­fen jedoch Angst, Unsi­cher­heit und Hilf­lo­sig­keit auf ver­meint­lich man­geln­des Ent­ge­gen­kom­men auf Sei­ten der Ärzte oder ihrer Mit­ar­bei­ter, seien Miss­ver­ständ­nisse oft pro­gram­miert. Stein­hart: „Es darf aber nicht sein, dass sich diese durch aggres­si­ves oder bedroh­li­ches Ver­hal­ten entladen.“

An davon betrof­fe­nen Ärz­ten, Sprech­stun­den­hil­fen und ande­ren Mit­ar­bei­tern in Arzt­pra­xen gehen sol­che Über­griffe nicht spur­los vor­über: Es kann zum Bei­spiel zu Angst, Gereizt­heit, gedrück­ter Stim­mung, oder dem Ver­lust der Arbeits­freude kom­men, oft sind Kri­sen­in­ter­ven­tio­nen oder psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Beglei­tung nötig.

„Des­halb ein kla­res Nein zu Aggres­sion gegen Ärzte und ihre Mit­ar­bei­ter. Gewalt in den Ordi­na­tio­nen darf nicht still­schwei­gend hin­ge­nom­men und als indi­vi­du­el­les Pro­blem Betrof­fe­ner ver­harm­lost wer­den“, so Stein­hart. „Hier sind Poli­tik und Sozi­al­ver­si­che­run­gen gefor­dert, über die­ses Thema auf­zu­klä­ren. Bedro­hun­gen und Gewalt in Arzt­pra­xen müs­sen gesell­schaft­lich geäch­tet wer­den. Es geht darum, das auf brei­ter Basis zu ver­mit­teln.“ Es dürfe nie wie­der „zum popu­lis­ti­schen Ärzte-Bas­hing der ver­gan­ge­nen Jahre kom­men oder unsere Berufs­gruppe unter einen Gene­ral­ver­dacht gestellt wer­den, wie zum Bei­spiel beim skan­da­lö­sen Mys­tery Shop­ping. Hier muss die Poli­tik einen Kul­tur­wan­del einleiten.“

Keine Kava­liers­de­likte

Über­griffe, so Stein­hart, seien keine Kava­liers­de­likte, son­dern erheb­li­che Ver­ge­hen gegen das Wohl­be­fin­den und die Unver­sehrt­heit von Men­schen. Sie kön­nen klare Rechts­brü­che und kri­mi­nelle Taten dar­stel­len und müs­sen ent­spre­chend geahn­det wer­den. Ärz­te­ver­tre­tun­gen in Ita­lien und Deutsch­land for­dern hier bereits schär­fere Stra­fen. „Wir wer­den diese Ent­wick­lun­gen sehr sorg­fäl­tig im Auge behal­ten, not­falls Gegen­maß­nah­men ergrei­fen und Ärz­tin­nen und Ärzte unter­stüt­zen, wenn sie Rat und Hilfe brau­chen“, so der ÖÄK-Vizepräsident.

„Beim Thema Aggres­sio­nen und Gewalt in Arzt­pra­xen geht es in aller­ers­ter Linie um Prä­ven­tion. Also darum, das Geeig­nete zu tun, damit Kon­flikte gar nicht erst ent­ste­hen“, sagt Oberst Alfred Czech, Geschäfts­füh­rer eines auf Risiko- und Kri­sen­ma­nage­ment spe­zia­li­sier­ten Sicher­heits­un­ter­neh­mens. Im Detail sei das Ziel, poten­zi­elle Aggres­so­ren zu iden­ti­fi­zie­ren, Gefähr­dun­gen und Eska­la­tio­nen früh­zei­tig zu erken­nen, Dees­ka­la­ti­ons­me­tho­den zu üben, Stra­te­gien und Tak­ti­ken zur Beherr­schung von Gefah­ren­si­tua­tio­nen zu erler­nen, und sich im Falle von nicht ver­meid­ba­ren Angrif­fen in Sicher­heit zu brin­gen und Hilfe zu holen.

„Der ent­glei­sende Kon­flikt ist das Ende einer Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Kette. Bei sol­chen Inter­ak­tio­nen spielt auch das eigene Ver­hal­ten eine wich­tige Rolle“, plä­diert Oberst Czech für Sen­si­bi­li­sie­rung und Selbst­re­fle­xion. Dazu sollte man eini­ges wis­sen: Wie wirkt das eigene Ver­hal­ten auf ein bedroh­li­ches Gegen­über? Was sind Trig­ger für Aggres­si­ons­ver­hal­ten? Was beschwich­tigt? „Hier kommt es zum Bei­spiel auf die Spra­che und Kör­per­hal­tung an. Man sollte signa­li­sie­ren, dass man sich nicht fürch­tet, aber auch nicht in einen Kampf ein­tritt“, so der Sicherheitsexperte.

Zur Dees­ka­la­tion kon­flikt­träch­ti­ger Situa­tio­nen kann zum Bei­spiel die Soli­da­ri­sie­rung mit den Anlie­gen des Aggres­sors bei­tra­gen. Oberst Czech: „Dabei hilft es, die Per­spek­tive der Pati­en­tin oder des Pati­en­ten ein­zu­neh­men. Sich also bewusst zu machen, in wel­cher Situa­tion – oder viel­leicht Aus­nah­me­si­tua­tion – ein Pati­ent sich gerade befin­det.“ Kann zum Bei­spiel ein bestimm­tes Medi­ka­ment nicht ver­schrie­ben wer­den, kann es hel­fen, Ver­ständ­nis für die Situa­tion des Aggres­sors zu zei­gen: „Nach dem Motto: Ich ver­stehe Sie, aber schuld bin nicht ich, son­dern über­ge­ord­nete Stel­len“, so Oberst Czech. „Durch so ein Ver­bin­den und Ver­bün­den kann die Aggres­sion von Ihnen weg­ge­lei­tet werden.“

Zur Prä­ven­tion gehö­ren auch bau­li­che oder Ein­rich­tungs-Ele­mente, die zu einer Erhö­hung der per­sön­li­chen Sicher­heit bei­tra­gen. Zum Bei­spiel eine Schutz-bie­tende Bar­riere im Ein­tritts­be­reich zwi­schen der Sprech­stun­den­hilfe und den ein­tre­ten­den Pati­en­ten. Im Ernst­fall kann auch ein Rück­zugs­ge­biet wich­tig sein. Etwa ein Zim­mer, zu dem man leicht und unbe­hin­dert Zutritt hat, das man ver­schlie­ßen kann und von wo aus tele­fo­nisch Hilfe her­bei­ge­ru­fen wer­den kann. Möbel soll­ten so auf­ge­stellt wer­den, dass ein geord­ne­ter Rück­zug mög­lich ist.

„Ärzte und ihre Mit­ar­bei­ter sind gegen­über aggres­si­ven oder gewalt­be­rei­ten Pati­en­ten nicht wehr­los, wenn sie Kom­pe­ten­zen erwer­ben, die es ihnen ermög­li­chen, im rich­ti­gen Moment das Rich­tige zu tun“, so Oberst Czech. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2019