Porträt Karolin Luger: Wurzeln in Österreich – Flügel in den USA

15.07.2018 | Themen


Die Vorarlberger Strukturbiologin Karolin Luger erforscht an der Universität von Colorado die Verpackungskünste des Genoms. Ihre Expertise wurde kürzlich mit der Aufnahme in die National Academy of Sciences gewürdigt.
Ursula Jungmeier-Scholz

Karolin Luger braucht Berge um sich. Und diese erklimmt sie am liebsten im Laufschritt: beim Berglauf. Zum Teil auch der gebirgigen Landschaft wegen hat sich die gebürtige Dornbirnerin seinerzeit für einen Job an der Universität von Colorado in Fort Collins entschieden, obwohl sie nach ihrer Postdoc-Zeit an der ETH Zürich Jobangebote von mehreren Ivy League-Unis in der Tasche gehabt hätte. Außerdem hat sie die Pionierarbeit gereizt, an einer relativ unbekannten Universität eine Forschungsgruppe für Strukturbiologie aufzubauen. In ebenso atemberaubendem Tempo wie die Berge hat sie von Beginn an die Stufen ihrer Karriereleiter genommen – und das durchaus nicht immer in der vorgesehenen Reihenfolge. Zum Studium ging die jüngste von drei Geschwistern nach Innsbruck, weil die dortige Biochemie einen ausgezeichneten Ruf hatte und weil die Eltern das Nesthäkchen lieber in der Nähe haben wollten als im fernen Wien. Gewohnt hat Luger in einem Studentenheim direkt neben dem Biochemie-Gebäude: eine glückliche Fügung. Freitagnachmittags fanden Seminare für die Höhersemestrigen statt. Luger setzte sich unermüdlich schon im ersten Studienjahr hinein, mit der Idee „das möchte ich auch irgendwann einmal verstehen“.

Diese unorthodoxe Annäherung an die Materie sicherte ihr die Aufmerksamkeit und Achtung des dort lehrenden Professors Manfred Schweiger, der sie einlud, in seinem Labor mitzuarbeiten, in dem eigentlich ausschließlich Dissertanten und Postdocs forschten. „Dort durfte ich dann – mit der aus heutiger Sicht rudimentären Technik – Bakteriophagen klonen und ihr Erbgut sequenzieren.“ Für diese frühe Chance, praktisch zu arbeiten, ist Luger heute noch dankbar. „Denn es macht ja zusätzliche Arbeit, jemanden erst anzulernen, vor allem jemanden, der so ‚grün‘ ist.“ Heute gibt die Universitätsprofessorin selbst gerne Undergraduates die Gelegenheit, in ihrem eigenen Labor – mittlerweile an der University of Colorado in Boulder – mitzuarbeiten und initiiert auch Projekte mit Gymnasiasten. „Mein Ziel ist es, die kommende Generation an Wissenschaftern auszubilden und ihnen vorzuleben, wie man Probleme durch Logik löst.“ Einige ihrer ehemaligen Studierenden und Mitarbeiter sind bereits selbst Professoren.

Pioniergeist und Risikobereitschaft

Ihre eigenen Lehrjahre haben Luger nach dem Studienabschluss in Innsbruck in Richtung Basel geführt – zunächst zum Sommerjob bei Sandoz. „Ich wollte unbedingt angewandte Forschung betreiben, um der Menschheit etwas zurückzugeben.“ Heute ist ihr bewusst, welchen unschätzbaren praktischen Nutzen auch die Grundlagenforschung bringen kann. Beispielsweise wenn Luger’s Erkenntnisse die Basis für die Entwicklung von neuartigen Onkologika darstellen.

Aber zurück nach Basel. Über ihre Kontakte im Ferialjob hatte Luger ihr Doktoratsstudium in Basel organisiert. Auch ihren späteren Mann hat sie dort kennengelernt. Im Anschluss an das Rigorosum reisten die beiden ein Jahr im Camper durch Nordamerika. Pioniergeist und Risikobereitschaft erstrecken sich bei Karolin Luger nämlich nicht nur auf ihre Herangehensweise an Forschungsfragen, sondern auch auf den privaten Bereich. Nicht aber auf die Karriereplanung: Noch vor der Abreise hatte sie einen Arbeitsvertrag mit der ETH Zürich in der Tasche. Ihr Aufgabengebiet: die Struktur des Nukleosoms zu entschlüsseln. „Ein nahezu unmögliches Unterfangen“, urteilt sie im Rückblick. Fast ein halbes Jahrzehnt hatte sie keine nennenswerten Forschungserfolge. „So ist das in der Strukturbiologie: Entweder man findet etwas oder man findet nichts. Da gibt es nicht viel dazwischen.“ In dieser Zeit hat Luger gelernt, mit Rückschlägen umzugehen. „Das funktioniert nur in einem guten Team.“ Als ihr schließlich doch der Durchbruch gelang, konnte sie sich der Jobangebote von renommierten Universitäten nicht erwehren – und wählte ausgerechnet Colorado. Die wissenschaftliche Community der USA imponiert ihr durch Risikobereitschaft, aber auch aufgrund der spielerischen Art, wie man sich mit Forschungsfragen auseinadersetzt. „Mich interessiert immer der Prozess des Problemlösens – mindestens so sehr wie das Resultat.“

„Wissensnuggets“ würdigen

Mit jener ursprünglichen Neugier, mit der ihre Brüder Radios zerlegt haben und sie selbst als Jugendliche Pflanzensamen seziert hat, nähert sich Luger heute mittels Röntgenkristallografie und Elektronenkryomikroskopie den Verpackungsstrategien des Genoms. Ihre hochkomplexe Arbeit vermag sie problemlos anschaulich zu erklären: „Die rund 200 Zelltypen des menschlichen Körpers tragen alle dasselbe Erbgut in sich, nur lesen sie unterschiedliche Sequenzen ab. Dieser Prozess läuft ähnlich ab wie beim Hausbau, wo alle Handwerker die gleichen Baupläne erhalten. Nur dass der Elektriker den Angaben für die Klospülung keine Beachtung schenkt. So steckt die Leberzelle jene Informationen, die für den Aufbau einer Nervenzelle notwendig sind, bildlich gesprochen in eine Schachtel – weil sie sie nicht benötigt.“ Dieser Prozess erfolgt in der Epigenetik über Proteine, die dafür sorgen, dass die Zugänglichkeit von Informationen eingeschränkt wird. Lugers Spezialgebiet unter diesen Proteinen ist das Chromatin. Eigentlich sei der Forschungsansatz ihres Teams „very simple minded“, erläutert sie mit den typischen englischen Einsprengseln in ihrer Sprache. Aufbau und Funktionsweise der Verpackungsstrukturen versucht sie, mit ihrem Team zu enträtseln – Stück für Stück. „Wissensnuggets“ nennt Luger die kleinen Erkenntnisse, die letztlich ein großes Ganzes bilden sollen.

„Grundlagenforschung ist extrem wichtig, und unter dem Strich ist es die Grundlagenforschung, die große Wissenssprünge ermöglicht“, betont sie. Im Hinterkopf behält sie jedoch stets mögliche Anwendungen. „Wenn wir wissen, wie diese Strukturen im gesunden Organismus funktionieren, können wir vielleicht einmal Störungen gezielt beheben.“ Angedacht ist die Umsetzung in der Onkologie: Krebszellen sollen so manipuliert werden, dass sie ihre eigene DNA nicht mehr reparieren – so sollen potente Medikamente noch wirksamer gemacht werden und die Apoptose von Krebszellen bewirken.

Dieses Jahr wurde Karolin Luger als „Associate Member“ in die europäische Gesellschaft zur Förderung der Lebenswissenschaften (EMBO) aufgenommen – und nun auch als eines von 84 Neumitgliedern in die National Academy of Sciences (NAS), jenes 2.382-köpfige Gremium, das der US-Regierung beratend zur Seite steht. Luger sieht darin „in erster Linie eine Auszeichnung durch meine Kollegen“, die sie für diese Position vorgeschlagen haben.

Während sie die Tätigkeit in der NAS noch auf sich zukommen lässt, hat sie als Mitglied der American Academy of Arts and Sciences, die auch Künstler und Philosophen umfasst, bereits erste Erfahrungen gemacht. Albert Einstein zählte ebenso zu deren Mitgliedern wie Piotr Iljitsch Tschaikowski. In der Gemeinschaft von Expertinnen und Experten auf völlig unterschiedlichen Wissensgebieten „kommt man raus aus der Komfortzone der gleich Denkenden“, sagt Luger. So hat sie Kontakte zum Gründer des Museums of African American History and Culture ebenso geknüpft wie zu einem renommierten Architekten. Mit ihrer Bauplan-Metapher wird es ihr wohl auch gelungen sein, sein Interesse an ihrem Fachgebiet zu wecken.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2018