Leistungssport: Der Schatten im Sport

25.03.2018 | Themen


Spitzensportler befinden sich in einem höchst kompetitiven Umfeld unter dem Motto „Survival of the Fittest“. Das ist einer der Gründe für psychische Beeinträchtigungen von Sportlern, die sich noch dazu anders manifestieren als in der Normalbevölkerung wie zum Beispiel die Depression.
Christina Schaar

Bei der Sportpsychiatrie handelt es sich um ein relativ junges Teilgebiet der Sportmedizin. Die offiziell geltende Definition von Daniel Begel, der zu Beginn der 1990er Jahre in den USA die „International Society of Sport Psychiatry“ gründete, sieht in der Sportpsychiatrie die Anwendung des psychiatrischen Wissens und der Behandlungsmethoden in der Welt des Sports. In Deutschland formierte sich nach dem Suizid des deutschen Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke auf Initiative seines behandelnden Psychiaters Valentin Markser das Referat für Sportpsychiatrie und Sportpsychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Das österreichische Pendant dazu wurde 2016 im Rahmen der 16. Jahrestagung der ÖGPP in Gmunden als „Sektion für Sportpsychiatrie und Sportpsychotherapie“ gegründet, Vorsitzender ist der Wiener Psychiater Wolfgang Pennwieser. „Man kann davon ausgehen, dass es unter den Sportlern genauso viele psychische Erkrankungen gibt wie in der Allgemeinbevölkerung“, betont Pennwieser. Die Selektionshypothese, wonach ein Sportler psychisch gesünder sei, nur aufgrund der Tatsache, dass er Sportler ist, bestreitet Pennwieser. Die Sport-Psychotherapie wiederum setzt sich seinen Aussagen zufolge mit der Wirkung von Sport bei psychischen Erkrankungen auseinander – etwa bei Angststörungen, Depressionen, Panikattacken oder auch Sozialphobien.

Obwohl Spitzensportler oft sehr viele Betreuer um sich haben – angefangen vom Sportmediziner, Chirurgen, Physiotherapeuten, Fitnesstrainer bis zum Mentaltrainer und Sportpsychologen – kann es mitunter vorkommen, dass Depressionen nicht unmittelbar diagnostiziert werden, weil sie anders manifestieren als in der Normalbevölkerung. „Bei einem Sportler kann eine Depressionen andere Auswirkungen haben und zwar auf körperlicher Ebene“, erklärt Pennwieser. So kann sich beispielsweise die Regenerationszeit des Sportlers verlangsamen, die Verletzungsgefahr kann sich erhöhen, die Rekonvaleszenz nach einer Verletzung dauert länger – oder aber er ist anfälliger für Infekte. Der Sportler erholt sich vielleicht auch nicht so rasch von einer Verletzung oder ist infektanfällig.

Für gewisse psychiatrische Erkrankungen gibt es bei Sportlern jedoch eine erhöhte Prävalenz: So tritt beispielsweise ADHS im Sport bis zu dreimal häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Dort liegt der Anteil von ADHS im Erwachsenenalter zwischen ein und drei Prozent; unter Sportlern sind es rund neun Prozent. Was aber „nachvollziehbar“ sei, wie Pennwieser erklärt. Denn ein junger Mensch mit einem großen Bewegungsdrang fühlt sich verständlicherweise am Sportplatz wohler als zum Beispiel beim Klavierspielen. Neben ADHS zählen auch Angststörungen, Suizidalität, Suchtprobleme, Übertraining, Trauma-Folgestörungen, Essstörungen, Doping, aber auch Sport-bedingte Schäden des Gehirns zu häufigen psychischen Störungen bei Sportlern. Über konkrete Folgen der gesundheitlichen Risken von American Football berichtet etwa der 2015 produzierte US-amerikanische Film „Conclusion“, der unter dem Titel „Erschütternde Wahrheit“ in den heimischen Kinos gezeigt wurde. Der Film handelt von zwei Spielern der National Football League (NFL), die während ihrer Spielzeit mehrere Gehirnerschütterungen erlitten und schließlich Suizid begingen. Die postmortalen Untersuchungen zeigten, dass die wiederholten traumatischen Schädigungen des Gehirns gravierende Auswirkungen hatten und in der Folge zu Persönlichkeitsveränderungen der beiden Spieler führten.

Essstörungen

Je nach Sportart und Geschlecht variiert das Risiko eines Athleten, eine Störung beim Essverhalten zu entwickeln. Besonders bei Sportlerinnen und Sportlern, deren Disziplin von einem hohen ästhetischen Charakter geprägt ist, besteht ein hohes Risiko, dafür. Sportarten mit einer subjektiven Beurteilung von Leistung und Ästhetik sind hier genauso vertreten wie auch Sportarten, bei denen aus biomechanischer Sicht ein kindlicher Habitus von Vorteil ist: etwa Eiskunstlauf, Kunstturnen, Synchronschwimmen und rhythmische Sportgymnastik. Sportarten, bei denen Körper-betonte Kleidung getragen wird wie Kunstturnen oder Wasserspringen, zählen zu den Haupt-Risikosportarten. „Speziell bei Sportarten, bei denen das ästhetische Bild eine große Rolle spielt, beurteilen Preisrichter natürlich auch den Körper als Gesamtkunstwerk“, berichtet Univ. Prof. Ursula Bailer von der Spezialambulanz für Essstörungen an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien. Ist die Ernährung unterkalorisch und nicht dem Bedarf angepasst, kann dies „die gesamte Bandbreite von Störungen des Essverhaltens bis hin zu klassischen Essstörungen betreffen“. Kommt es durch das Training zu einem höheren Kalorienverbrauch, der nicht durch vermehrte Ernährung gedeckt wird, beginnt ein Ungleichgewicht, das letztendlich zu einem Defizit führt. Ausdauersportarten, Gewichtsklassesport und Antigravitations- Sportarten – hier hat das Gewicht Einfluss auf die Leistung – wie zum Beispiel Schispringen, Klettern und Hochsprung sind weitere Gruppen von Risiko-Sportarten.

Je nach epidemiologischen Studien weisen 25 bis 31 Prozent der Sportlerinnen eine Essstörung auf; zum Vergleich: Bei untrainierten Vergleichspersonen liegt der Anteil zwischen sechs und neun Prozent. Sind Männer in einer Sportart mit einem hohen Druck für einen schlanken Habitus aktiv, beträgt der Anteil derjenigen mit einer Essstörung zwei Prozent.

Triade der Frau

Darunter versteht man bei Sportlerinnen die wechselseitigen Beziehungen von Energieverfügbarkeit, Menstruationsstatus und Knochengesundheit, wenn mit der Nahrung über einen längeren Zeitraum hinweg eine zu geringe Menge an Energie zugeführt wird. Dazu kommen meist Störungen im Menstruationszyklus – beginnend von anovulatorischen Zyklen, Corpus luteum-Insuffizienz bis hin zur Amenorrhoe. Das kann bis hin zur Osteoporose gehen.

Aber auch beim Sportler gibt es eine Triade. „Hier kann es zu Veränderungen im reproduktiven System kommen und durch das chronische Kaloriendefizit auch zu einer Demineralisation der Knochen“, erklärt Bailer. Die sogenannte Anorexia athletica, die bei Leistungssportlern auftritt, kann in kein ICD 10-Kriterium eingeordnet werden. Sie kann jedoch leichte bis klassische Anzeichen einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa aufweisen.

Hoch kompetitives Umfeld

Nachdem Sportler meist im Team trainieren oder den Sport im Team betreiben, befinden sie sich in einem hoch kompetitiven Umfeld. „Jedes psychische Problem und jede Erkrankung wird sofort als Schwäche ausgelegt“, analysiert Psychiater Pennwieser. Unter dem Motto „Survival of the Fittest” gehe es um den „Stärksten”, der überlebt – und die meisten Sportler seien sich der Tatsache bewusst, austauschbar zu sein. Was Pennwieser außerdem betont: „Sportler erkranken meist nicht durch den Sport psychisch, sondern haben die Beschwerden meist schon vorher gehabt.“ Jedoch gibt es auch Mechanismen im Sport, die psychische Erkrankungen fördern können: Durch permanente Stressfaktoren wie Wettkampfdruck, hohe Leistungsvorgaben und Kräfte zehrende Trainingseinheiten können Sportler in psychische Krisen geraten. Die Tatsache, dass sich Sportler oft davor fürchten, in der Öffentlichkeit über ihre Beschwerden zu reden – „sie könnten ja stigmatisiert werden (Pennwieser) – mache für die Betroffenen den Weg zum Psychiater und die Behandlung schwierig.

Während es die vorrangige Aufgabe der betreuenden Sportpsychologen ist, die Athleten psychisch bei der Leistungssteigerung und der Leistungsoptimierung zu unterstützen, ist der Teamarzt der erste Ansprechpartner bei medizinischen Problemen. Wenn dieser auch entsprechende psychiatrische Vorkenntnisse hat, wird er einen Sportpsychiater hinzuziehen. Dass dieser nicht Teil des Teams ist und auch zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, „unterstreicht seine neutrale Funktion mit dem Ziel der Prävention von psychischen Erkrankungen und der Optimierung der individuellen therapeutischen Betreuung des Sportlers“, unterstreicht Pennwieser.

Nicht zu unterschätzen ist auch der „Pensionsschock“ bei Sportlern: Ist die Karriere zu Ende, fällt der Großteil der Identität weg. „Man weiß, dass Sportler in der Pension in Depressionen verfallen können.“ Nicht nur die Sportleridentität fehlt; darüber hinaus kann es auch zu Alkoholsucht, Medikamenten- und Schmerzmittelmissbrauch kommen. Der Rat des Sportpsychiaters: „Hier sollte man schon in der aktiven Zeit als Sportler vorbeugen und sich Gedanken über die Zeit danach machen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2018