Interview Karl Nessmann: Aus der Hölle retour 

25.10.2018 | Themen

Von einem Top-Job als Medien- und Kommunikationswissenschaftler ins Burnout, in die Depression und schließlich in die Alkoholabhängigkeit. Über sein tief berührendes Schicksal und die Kraft, die es auf dem Weg aus der Krise braucht, erzählt Dr. Karl Nessmann im Gespräch mit Lisa Türk.

Herr Dr. Nessmann, nach Ihrer „Höllenfahrt“ durch Burnout, Depression und Abhängigkeit haben Sie wieder zurück ins Leben gefunden. Zu welchem Zeitpunkt in Ihrer Krankengeschichte haben Sie bemerkt, dass Sie Hilfe benötigen? Rein objektiv betrachtet, habe ich alles gehabt, was man sich wünschen kann: eine Familie, einen guten Job, gesellschaftliches Ansehen. Doch innerlich habe ich mich nach und nach ausgebrannter, erschöpfter gefühlt. Ich habe begonnen, Suchtmittel zum Zwecke der Selbstmedikation einzusetzen und bin dadurch in einen regelrechten Teufelskreis geraten. Eigentlich wollte ich jedoch nur wissen, was mit mir los war, was mir gefehlt hat. Dieses Gefühl, zu wissen, dass etwas mit der eigenen Person nicht stimmt, die genauen Gründe dafür jedoch nicht zu kennen, das war enorm belastend. Hatte ich nun ein Burnout? War ich depressiv? Oder alkoholkrank? Lange Zeit haben mich diese Fragen gequält. Bis ich mir eingestanden habe, dass ich wegen meiner Erschöpfungszustände Hilfe brauche, hat es drei Jahre gedauert. Ein Burnout wurde festgestellt. Was meinen damaligen Alkoholkonsum betrifft, so habe ich mir erst nach einigen Entzügen im Krankenhaus eingestanden, dass ich zusätzlich zum Burnout und zur Depression, wie später diagnostiziert wurde, alkoholabhängig war. Auch die fachlichen Standpunkte meiner behandelnden Ärzte waren bis dahin nicht eindeutig gewesen.

Wie ist es Ihnen mit dieser Selbsterkenntnis gegangen – Stichwort soziale Stigmatisierung? Aus gesellschaftlicher Perspektive ist es mir auf jeden Fall leichter gefallen, mir ein Burnout einzugestehen. Dieses fungiert wohl für viele Betroffene als eine Art relativierender Schutzbegriff unter dem Deckmantel, man hätte hart gearbeitet, Leistung erbracht und sei deshalb ausgebrannt. Lange Zeit habe ich, wohl aus Selbstschutz, mein Burnout vorgeschoben, depressive Phasen und Alkoholabhängigkeit jedoch abgeschwächt oder gar verschwiegen.

In Bezug auf Burnout – in welcher Relation standen dabei Ihre Persönlichkeitsstruktur und die damals für Sie gegebenen Arbeits- und Umweltbedingungen? Als Perfektionist mit überaus hohem Leistungs- und Pflichtbewusstsein habe ich meine eigenen Bedürfnisse meist hintan gestellt. In meiner Funktion als Hochschullehrer bin ich eindeutig dem Helfersyndrom unterlegen. Ein „Nein“ haben meine Studenten und Kollegen kaum gehört, ich wollte jedem von ihnen helfen, habe es nur selten geschafft, mich abzugrenzen. Ich war also in jedem Fall eine für Burnout prädestinierte Persönlichkeit, meine „inneren Antreiber“ waren stets präsent. Betrachtet man all das in Kombination mit äußeren Auslösefaktoren, wie beispielsweise Zeit- und Leistungsdruck, so wird deutlich, dass ein Burnout beide Perspektiven vereint. Als Betroffener vertrete ich allenfalls den Standpunkt der Eigenverantwortung und nehme mich selbst damit nicht in Schutz. Denn Vieles liegt schon auch im Inneren eines Patienten begründet, nicht nur in Gesellschaft und Unternehmensstruktur.

Wie können Ärzte betroffenen Patienten bestmöglich zur Seite stehen? Auch wenn zeitliche Ressourcen in der Praxis knapp bemessen sind, empfinde ich es als essenziell, dass sich Ärzte Zeit für ihre Patienten nehmen. Um den Patienten und dessen Geschichte auch wirklich kennenzulernen. Stellt der Arzt schlussendlich eine Diagnose, so befinde ich Aufklärungsarbeit hinsichtlich verschiedenster Therapieoptionen als besonders wichtig, darunter auch begleitende Maßnahmen wie Akupunktur, Entspannungstechniken und Bewegungsformen.

Was hat Sie dazu veranlasst, mit Ihrer eigenen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen? Zunächst waren meine Beweggründe wohl meine Forscherneugierde und der selbsttherapeutische Ansatz, zu schreiben. Abgesehen davon habe ich das starke Bedürfnis gehabt, ein Nachschlagewerk für Betroffene und ihre Angehörigen zu verfassen. Denn zum einen ist es ungemein schwierig, seinem Umfeld, der Familie, den engsten Freunden zu erklären, wie man sich als ausgebrannter, depressiver und abhängiger Mensch fühlt und warum man sich für sein Umfeld derart unverständlich verhält. Zum anderen ist es mir darum gegangen, allen Betroffenen zu zeigen, dass es hier keineswegs um die Schuldfrage geht. Viele Patienten fühlen sich schuldig und fragen sich, wie sie ihren Familien Derartiges antun können. Daran muss man arbeiten, denn darum geht es nicht, es führt zu nichts. Zu guter Letzt ist es mir sehr am Herzen gelegen, allen Betroffenen, ganz gleich ob Patienten, Angehörigen, Therapeuten oder Ärzten Mut zu machen. Demnach sehe ich mich selbst nun zumindest zeitweilig als Öffentlichkeitsarbeiter für stigmatisierte Gruppen wie Ausgebrannte, Depressive und Alkoholiker. Ich möchte aufklären, Zusammenhänge darlegen und Fakten vermitteln. All das in Verbindung mit Emotionen, um Zuversicht und Hoffnung zu spenden.

Zur Person

Ass. Prof. Mag. Dr. Karl Nessmann wurde 1956 in Villach geboren und wuchs in Arnoldstein im Dreiländereck an der Grenze zu Italien auf. Er war bis 2015 Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Klagenfurt sowie PR-Berater und Coach für Organisationen und Personen. In seinem autobiografischen Buch „Dreimal Hölle und retour. Ausgebrannt, depressiv und abhängig. Ursachen, Symptome und Wege aus der Krise“ setzt Nessmann seine persönliche Leidensgeschichte mit aktuellen Forschungsergebnissen in Zusammenhang.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2018