Experten-Round-Table HNO: Miteinander statt gegeneinander

15.07.2018 | Themen


Mehr Patienten bei insgesamt knapperen Ressourcen – angesichts dieser Rahmenbedingungen ist das gegenseitige Verständnis von niedergelassenen HNO-Ärzten und Spitalsärzten umso wichtiger für eine zufriedenstellende fachärztliche Versorgung, erklärten Experten bei einem von der ÖÄZ veranstalteten Round-Table.
Agnes M. Mühlgassner

Jeder vierte der rund jährlich 40.000 Patienten, die ambulant an der Universitätsklinik für HNO am Wiener AKH betreut werden, kommt wegen eines Problems am Ohr. „Leider kommen viel zu viele Patienten ohne jegliche Zuweisung einfach zu uns in die Ambulanz“, sagt Univ. Prof. Wolf-Dieter Baumgartner von der Universitätsklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten der Med- Uni Wien. Zwei Faktoren hätten überdies zu einer Verschärfung der Situation beigetragen: zum einen die Umsetzung des Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetzes, zum anderen die Nicht- Aufstockung des medizinischen Personals. Wobei in den letzten Jahren die Ambulanzkontakte „mit Rückhalt der ärztlichen Direktion“ (Baumgartner) von ursprünglich rund 75.000 im Jahr 2013 um rund ein Drittel reduziert wurden. Er führt noch einen weiteren Aspekt ins Treffen: „Jeder zweite Patient hat nicht mehr Deutsch als Muttersprache. Das bringt im Alltag Anforderungen mit sich, für die wir nach wie vor weder strukturell noch personell gerüstet sind.“ All das vor dem Hintergrund, dass es zu einer Ausdünnung der HNO-fachärztlichen Versorgung im niedergelassenen Bereich gekommen ist: Derzeit gibt es weniger Kassenverträge für HNO als beispielsweise im Jahr 1975. „Allein in Wien fehlen mindestens zehn Kassenvertragsarztstellen“, so die Analyse von Baumgartner.

Univ. Doz. Wolfgang Luxenberger, Fachgruppenobmann HNO in der ÖÄK, bestätigt: „Für die GKK ist das aus betriebswirtschaftlicher Sicht sinnvoll, wenn Patienten in der Spitalsambulanz landen. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es natürlich ein Fehler.“ Medizinisch betrachtet seien speziell Mittelohr-Erkrankungen im Erwachsenenalter „a sign of bad medical care“ während der Kinder- und Jugendjahre, betont Luxenberger, was sich anhand gehäufter Mittelohrprobleme bei Patienten mit Migrationshintergrund zeige.

Thomas Keintzel, Leiter der Abteilung für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten am Klinikum Wels-Grieskirchen, ist mit einer vergleichbaren Entwicklung konfrontiert. Wels – eine Stadt mit einem höheren Anteil an Personen mit Migrationshintergrund – weise eine im Vergleich zur österreichischen Bevölkerung höheren Anteil an Ohrenerkrankungen auf. Die Erklärung dafür ist laut Keintzel einfach: „Die Basisversorgung ist in Österreich einfach eine andere als in den Ländern, aus denen die Migranten stammen.“ Unbehandelte Polypen und Rachenmandeln oder auch ein nicht behandelter Tubenkatarrh führten dann oft erst 20 oder 30 Jahre später zu einer chronischen Mittelohrerkrankung, die dann oft nur noch chirurgisch zu sanieren sei.

Doch auch bei heimischen Kindern häufen sich die Fälle, dass bei notwendigen Eingriffen, wenn konservative Maßnahmen nicht zum erwünschten Erfolg geführt haben, mit größtem Widerstand der Eltern zu rechnen ist. Was hier verschleppt wird, sieht Baumgartner an der Klinik und „es sind mehr als Einzelfälle“. Er registriert eine gewisse Verschiebung des Patientenguts mit mehr und mehr Cholesteatomen ähnlich den Erkrankungszahlen wie in den 1970er Jahren und dann Anfang der 1980er Jahre. Auch gäbe es zunehmend Fälle von otogenen Abszessen – „speziell bei Kindern von postmodernen-bio-alternativen Eltern, wo es dann wirklich zu dramatischen Situationen kommt.“

Einen einfachen Tipp für die Praxis, wie man leicht überprüfen kann, ob es sich um eine Schallleitungsstörung handelt, hat Baumgartner: Wenn der Patient mit dem Handy vor dem Ohr weniger hört als wenn er das Handy direkt an den Knochen presst. Dann hat er eine Mittelohrproblematik – und nicht alle müssen operiert werden. Es gibt hier sehr viele Erkrankungen, bei denen man mit der konservativen Therapie durchaus weiterkommt.

Beatrix Thalhammer, HNO-Fachärztin an der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, gibt zu bedenken, dass das Spektrum der Mittelohrerkrankungen sehr breit gefächert ist und deshalb die Therapien – sei es konservativ oder operativ – für jeden Patienten individuell angepasst werden müssen. Auch die Krankenanstalt Rudolfstiftung verzeichnet einen deutlichen Zuwachs an HNO-Patienten in den letzten Jahren. „Grund dafür sind immer mehr operative Möglichkeiten, Indikationen und das Bevölkerungswachstum, weshalb auch die OP-Kapazität erhöht werden musste.“

Enormer Patientenzustrom

Und auch die Krankenhäuser mussten auf den enormen Patientenzustrom reagieren, wie Thalhammer weiter ausführt: „Der große Patientenandrang an unsere Ambulanz hat schon vor vielen Jahren dazu geführt, dass wir zusätzliche OP-Kapazitäten bekommen haben. Es sind auch quer über alle Bereiche in unserem Fach die Zahl der Operationen insgesamt mehr geworden, was zu einem Teil ja dadurch begründet ist, dass die Bevölkerung ständig wächst.“

Die Universitätsklinik habe „Schrittmacherfunktion“ für sämtliche Implantate, betont Baumgartner. Er begrüßt, dass mittlerweile Implantationen auch an anderen Krankenhäusern erfolgen, denn „wir haben gar nicht die budgetären Möglichkeiten, alle Patienten, die implantiert werden müssten, im AKH zu versorgen.“ Derzeit werden jährlich rund 100 Cochlea-Implantate am AKH gesetzt sowie rund 15 Soundbridge/Bonebridge.

Den Bedarf an Cochlea-Implantaten für Wels-Grieskirchen beziffert Keintzel mit rund 100 pro Jahr; aktuell können derzeit rund 70 Implantate (aktive Mittelohrimplantate plus Cochlea- Implantate) eingesetzt werden – wobei derzeit schon mit einer Wartezeit von rund einem Jahr zu rechnen ist. „Auch die Politik sollte hier ein entsprechendes Bewusstsein dafür haben“, unterstreicht Keintzel. Zwar könne man anhand der Geburtenrate bei Kindern den ungefähren jährlichen Bedarf errechnen, „nicht antizipierbar“ seien allerdings Unfälle, etwa Motorradunfälle, die eine entsprechende Versorgung erfordern.

Einhellige Zustimmung in der Expertenrunde findet der Vorschlag von Luxenberger, im Mutter-Kind-Pass eine zusätzliche HNO-fachärztliche Untersuchung einzuführen – idealerweise zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr, weil die Kinder zu diesem Zeitpunkt schon eine gewisse Reife erreicht haben. Auch sollte künftig das Ergebnis des Neugeborenen-Screenings dokumentiert werden, fordert Alexandra Zamberger, niedergelassene HNO-Fachärztin in Wien. Sie hat mittlerweile sogar zwei Hörkabinen, die „rund um die Uhr in Betrieb sind“. Hörtests beispielsweise führt sie „erfolgreich“ (Zamberger) schon bei Drei- und Vierjährigen durch. „Die Kinder sind dann geistig so reif, dass sie den normalen Sprach-Hör-Test gut machen können und auch schaffen.“

In Oberösterreich habe man seit vielen Jahren ein entsprechendes System etabliert, berichtet Thomas Keintzel. In Zusammenarbeit mit der Gesundheitsabteilung des Landes Oberösterreich und dem Institut für Sinnes- und Sprachneurologie wurde ein Tracking-System entwickelt, in das alle im Spital geborenen Kinder gemeldet werden. „So haben wir auch einen Überblick, ob alle Kinder zum Screening kommen. Wenn nicht, wird nachtelefoniert“, so Keintzel. Auf diese Weise werden 96 Prozent aller Säuglinge – Hausgeburten ausgenommen – erfasst.

Luxenberger macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam: „Es ist auch wichtig, dass man einander versteht. Ein Kliniker muss wissen, wie es in einer Ordination zugeht, dass man nicht Stunden Zeit hat, sich mit einem Patienten zu befassen. Aber man kennt den Verlauf der Erkrankung meist über Monate und wenn man sich schließlich zu einer Einweisung ins Spital entschließt, dann hat sich derjenige in der Regel auch etwas überlegt. Das sollte ernst genommen werden.“ Mindestens ebenso wichtig ist seiner Ansicht nach die Schnittstelle zwischen Allgemeinmediziner und dem HNO-Facharzt. Dass die HNO in der Ausbildung von Allgemeinmedizinern nur noch ein Wahlfach ist, könnte „in Zukunft Probleme machen“, fürchtet Luxenberger. „Denn mit gut ausgebildeten Kollegen arbeitet man einfach besser zusammen als mit jenen, die sich nur darauf konzentrieren, Überweisungen zu schreiben.“ Dass die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen HNO-Fachärzten und dem Spital wichtig ist, darin sind sich die Diskussionsteilnehmer einig. Und sie konstatieren, dass in der HNO die Zahl der jungen Ärztinnen und Ärzte insgesamt abnimmt. Liegt es am mangelnden Interesse für das Fach? „Nein“, meint Baumgartner. „Es gibt einfach zu wenig und es studieren auch viel weniger als früher. Jetzt beginnt einfach der Ärztemangel. Und das merkt man auch.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2018