EuGH zu Rufbereitschaft: Zu kurze Anreisevorgabe ist Arbeitszeit

10.04.2018 | Themen


Der EuGH hat im Februar 2018 neuerlich klargestellt, dass zu Lasten der Arbeitnehmer gehende Verwässerungen des Arbeitszeitbegriffes unzulässig sind. Er erteilte damit dem Versuch der belgischen Feuerwehr eine Abfuhr, ihren Dienstnehmern zwar formal Rufbereitschaft anzuordnen, jedoch eine so kurze „Einrückungsfrist“ vorzusehen, dass de facto kaum der Arbeitsplatz verlassen werden kann.
Lukas Stärker*


Ausgangssachverhalt

Der Ausgangssachverhalt betraf einen belgischen Feuerwehrmann. Dieser wurde von Seiten seines Dienstgebers zwar formal in Rufbereitschaft geschickt, er wurde aber verpflichtet, im Einsatzfall „bei normalem Verkehrsfluss binnen höchstens acht Minuten“ die Feuerwehrkaserne zu erreichen. Zu klären war nun für den EuGH, ob es sich bei einer so kurzen Einsatzfrist noch um Rufbereitschaft handelt oder nicht.

Arbeitzeit und Rufbereitschaft
Die EU-Arbeitszeit-RL 2003/88 definiert in arbeitnehmerfreundlicher Weise Arbeitszeit als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.“ Hinsichtlich Bereitschaftszeiten differenziert der EuGH in ständiger Rechtsprechung danach, ob diese am Arbeitsplatz, an einem anderen, vom Arbeitgeber festgelegten Ort oder an einem vom Arbeitnehmer frei wählbaren Ort verbracht werden. Im ersten Fall nennt er diese Zeiten „Bereitschaftsdienste am Arbeitsplatz“, im zweiten Fall – der deutschen Terminologie folgend – Bereitschaftszeiten und im dritten Fall Rufbereitschaft.
• „Bereitschaftsdienst, den ein Arzt in Form persönlicher Anwesenheit im Krankenhaus leistet“ – nach österreichischer Terminologie „Arbeitsbereitschaft“ – stellt in vollem Umfang Arbeitszeit im Sinne der EU-Arbeitszeit-RL dar, auch wenn es dem Betroffenen in Zeiten, in denen er nicht in Anspruch genommen wird, gestattet ist, sich an seiner Arbeitsstelle auszuruhen (vgl. u.a. EuGH-Urteile Matzak, Dellas, Jaeger, Vorel).
• Bereitschaftszeiten (in Österreich ebenfalls Arbeitsbereitschaft), die ein Arbeitnehmer in Form persönlicher Anwesenheit an dem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort leistet, sind in vollem Umfang als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie anzusehen, unabhängig davon, dass der Betroffene während dieses Dienstes tatsächlich keine ununterbrochene berufliche Tätigkeit ausübt (vgl. u.a. EuGHUrteile Jaeger, Pfeiffer).
• Rufbereitschaftszeiten, konkret Zeiten, in denen der Dienstnehmer zwar nicht am Arbeitsplatz anwesend zu sein hat, dennoch aber sowohl in örtlicher als auch in physischer Hinsicht eingeschränkt ist und überdies jederzeit erreichbar zu sein hat, gelten nicht als Arbeitszeiten im Sinn der EU-Arbeitszeitrichtlinie. Bei Rufbereitschaft ist laut EuGH nur die Zeit, die für die tatsächliche Erbringung von Leistungen aufgewandt wird, als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 anzusehen (vgl. u.a. EuGHUrteile Matzak, Jaeger, SIMAP).

EuGH Urteil vom 22. Februar 2018

Im vorliegenden Fall entschied der EuGH, dass Feuerwehrleute nicht von den Arbeitszeitvorgaben der EU-Arbeitszeit-RL 2003/88 ausgenommen werden dürfen. Weiters erteilte der EuGH Überlegungen eine klare Absage, den Arbeitszeitbegriff weniger restriktiv zu definieren. Somit dürfen auch die EU-Mitgliedstaaten keine weniger strenge Arbeitszeitdefinition vorsehen, als in der EU-Arbeitszeit-RL 2003/88 enthalten.

Kommentar

Das vorliegende EuGH-Urteil bestätigt die bisherige EuGH-Judikaturlinie zum Thema Arbeitszeit. In klarer Weise wird Versuchen, den Arbeitszeitbegriff zu Lasten von Dienstnehmern aufzuweichen, eine Absage erteilt. Diese Absage umfasst auch Verwässerungsversuche via „Rufbereitschaftsflanke“, wie im vorliegenden Fall. Während bei wirklicher Rufbereitschaft, wo man als Mitarbeiter zwar nicht am Arbeitsplatz anwesend sein, aber binnen bestimmter Frist zur Arbeitsaufnahme bereit sein muss, die Bereitschaftszeit nicht als Arbeitszeit gilt, ist es bei Bereitschaft am Arbeitsplatz – sogenannter Arbeitsbereitschaft – gerade umgekehrt: Sämtliche Zeiten der Arbeitsbereitschaft zählen als Arbeitszeit. Im vorliegenden Fall versuchte die belgische Feuerwehr mittels viel zu kurzer „Anreisevorgabe/ Einrückungsfrist“ die „Leine“ für die Arbeitnehmer so kurz zu halten, dass zwar formal von Rufbereitschaft gesprochen wurde, de facto jedoch mangels entsprechender Dispositionsmöglichkeiten der Arbeitnehmer aber Arbeitszeit vorlag. Und der EuGH stellte hier dankenswerter Weise fest, dass dies nicht funktioniert. Vorschnell betrachtet könnte man zum Ergebnis kommen, dass der EuGH hier nicht viel Neues judiziert hat, da ja vorwiegend die bisherige Judikaturlinie bestätigt wurde.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieses Urteil insofern von großer Bedeutung ist, als ein anderer Ausgang wohl die Ermöglichung sogenannter inaktiver Bereitschaftszeiten via Rufbereitschaftsanordnung zur Folge gehabt hätte. Dies wiederum hätte in weiterer Folge Dienstgebern die Möglichkeit einer Übertragung des unternehmerischen Risikos auf die Dienstnehmer eröffnet, was Sinn und Zweck des Arbeitsrechts fundamental widersprochen hätte. Mit dem vorliegenden Urteil bleibt die Kirche im Dorf und der EuGH hat keine Politik im Sinne der Dienstgeber gemacht.

Dieser Problematik der zu kurzen Zeitspanne bis zur Arbeitsaufnahme bei Rufbereitschaft war sich der österreichische Gesetzgeber schon anno 1996 bewusst, als er bei der Einführung der Rufbereitschaftsregelungen in das Krankenanstaltenrecht eine im ursprünglichen Ministerialentwurf enthaltene 15 Minuten- Einsatzfrist richtigerweise aus dem Gesetz wieder entfernte, da andernfalls derartige Dienste keine Rufbereitschaftsdienste, sondern Arbeitsbereitschaft und damit Arbeitszeit gewesen wären.

*) Dr. Lukas Stärker ist Kammeramtsdirektor der ÖÄK

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2018