Dossier Virtual Reality Therapy: Ökonomisch und hochgradig wirksam

25.09.2018 | Themen


Virtual Reality ist erstmals bei der Therapie von Phobien zum Einsatz gekommen. Mittlerweile können diese Therapien bei Schizophrenie, Depressionen und Angststörungen eingesetzt werden. Voraussetzung dafür: große Autonomie und Selbstverantwortung.

Speziell bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen können mit Apps, Computerspielen, aber auch mit sozialen Netzwerken insgesamt therapeutisch sehr gute Resultate erreicht werden. „Besonders bei Jugendlichen kann dadurch die Compliance erhöht werden. Meist gelingt dies durch Belohnungssysteme und durch etwas Interessantes und Spielerisches“, erklärt Oswald Kothgassner von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien. Dass vielleicht zu Beginn nicht alles ausgesprochen wird und in der Folge mit dem Behandler spielerisch erarbeitet werden kann, bezeichnet er als „großen Vorteil“. Von nicht geringerer Bedeutung sind diese Programme bei Erwachsenen. Darüber hinaus ist es auch möglich, Bereiche zu erfassen, die in klassischen Therapiesettings nicht möglich sind – oder mit einem großen finanziellen oder zeitlichen Aufwand.

Bei den sogenannten selbst-administrierten Therapien agiert der Patient allein ohne direkten oder regelmäßigen Konnex zum Behandler. Dabei handelt es sich beispielsweise um Websites, die psychoedukativ aufklären oder mittels psychoedukativer Module soziale Kompetenzen vermitteln oder aber auch um Applikationen, die dem Betroffenen helfen, seinen Tag zu strukturieren. Speziell zu diesem Bereich gibt es im Internet eine Vielzahl an leicht zugänglichen Programmen (Apps, Handy Apps, Internetseiten, Foren). „Da wir hier keine therapeutische oder psychologische Begleitung haben, kommen diese Programme speziell bei denjenigen zum Einsatz, die schon ein gewisses Maß an Autonomie erreicht haben“, führt Anna Felnhofer von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der Medizinischen Universität Wien aus. Diese Programme können bei Schizophrenie, Depressionen und Angststörungen eingesetzt werden. Da jedoch eine große Autonomie und auch eine gewisse Selbstverantwortlichkeit notwendig sind, „kommt diese Form bei Kindern nicht notwendigerweise als erste Option zum Einsatz, sondern eher für Erwachsene bei der Rehabilitation sowie der Rückfallprävention“.

Hybride Technologien unterscheiden sich insofern, als es auch Kontakt zu einem Behandler gibt. Hier sind sehr wohl – selbstverantwortlich und selbstadministriert – eigene Aufgaben zu lösen, „jedoch stets mit Feedback vom Behandler“, betont Felnhofer. Diese Anwendungen können bei der Behandlung von Kindern ab zehn Jahren eingesetzt werden, die ein Handy besitzen und/oder über einen Internetzugang verfügen. Das Einsatzgebiet für hybride Technologien bei Kindern und Jugendlichen ist vielfältig: Es reicht von Ängsten (Sozialphobie oder spezifische Phobien), über Depressionen bis hin zu Essstörungen. In diesen Bereich fallen auch Computer-assistierte Technologien wie zum Beispiel Virtual Reality, ebenso auch kognitive Trainings mittels Virtual Reality oder klassische Desktop- Trainings. „Besonders bei Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen oder mit Störungen in der Informationsverarbeitung sind Computerprogramme sehr hilfreich, da immer ein Behandler anwesend ist und die Sitzung auch immer in einem ambulanten Setting stattfindet, weil sich Arzt und Patient in einem Raum befinden und es auch Vor- und Nachbesprechungen gibt“, unterstreicht Kothgassner. Ein für ihn „ganz wesentlicher Punkt“, weil bei wirklichen Therapiemethoden die Integration des Behandlers unerlässlich sei, da dieser auch direkt mit dem Patienten interagieren könne. Die erarbeiteten Erlebnisse wiederum, die der Betroffene beispielsweise bei einer Virtual Reality-Exposure (also der Konfrontation mit einem virtuellen Angst-besetzten Reiz) hat, kann der Behandelnde aufgreifen und mit dem Patienten bearbeiten – was auch garantiere, dass diese in den Alltag übertragen werden können.

Im Bereich der Computer-assistierten Interventionen mit Virtual Reality Training werde auch „intensiv“ geforscht, berichtet Felnhofer. Bei dieser Methode wird der Betroffene mit Hilfe einer virtuellen Brille (VR-Brille) in die virtuelle Umgebung versetzt. Der Behandler ist immer anwesend und stellt ein „zentrales Element“ der Behandlung dar, wie Felnhofer unterstreicht. Neben der virtuellen Exposition mit einem virtuellen Stimulus bilden Vor- und Nachbesprechung sowie der Transfer in den Alltag entscheidende Elemente. Die Virtual Reality Therapy lässt sich den Aussagen von Kothgassner zufolge bei Kindern ab dem achten Lebensjahr sehr gut umsetzen, aber auch bei Jugendlichen und Erwachsenen wird sie vor allem bei spezifischen Phobien empfohlen.

Erster Einsatz bei Phobien

Die Virtual Reality kam erstmals bei Phobien zum Einsatz, was nicht nur naheliegend ist, sondern auch um vieles einfacher als die Konfrontation mit realen Angstsituationen – denkt man beispielsweise an Flugangst oder Höhenangst. „Es ist ökonomischer und hochgradig wirksam. Außerdem kann man es besser steuern. Außerdem entsprechen die Reaktionen der Personen, die sich in der virtuellen Umgebung befinden, den Reaktionen, die wir in ähnlichen Realsituation sehen“, erzählt Felnhofer aus der Praxis. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht in einer gewissen Sicherheit und dennoch kann mit den physiologischen Reaktionen – ausgelöst durch den Angststimulus – sehr gut gearbeitet werden. Für die Therapie und für die Behandlung bedarf es einer entsprechenden Stressreaktion. Ebenso muss mit dem Patienten im Vorfeld eingeübt werden, wie Entspannung erfolgen kann, um ihm auch Möglichkeiten zu zeigen, mit solchen Angst-auslösenden Situationen umgehen zu können, sie auszuhalten und auch zu bewältigen. Die grafische Darstellung und auch die Bildqualität müssen bei dieser Art der Intervention nicht unbedingt von sehr guter Qualität sein, denn „das Wichtigste dabei ist die Interaktion mit der Umgebung“, betont Felnhofer. Der Betroffene soll das Gefühl haben, dass er sich tatsächlich in einer anderen Umgebung befindet und die virtuelle Umgebung auf ihn reagiert. Setzt die Person einen Schritt nach vorne, geht auch die Umgebung weiter; bewegt sie den Kopf beim Umherschauen, soll sie den Eindruck haben, die Umgebung geht hinter ihr weiter. „Es ist auch ganz einfach evolutionsbiologisch zu erklären, da wir darauf programmiert sind, Gefahren zu fürchten, sie schnell zu erkennen und dementsprechend auch schnell auf diese zu reagieren und zu handeln“, erklärt Kothgassner. Geht man beispielsweise über eine Hängebrücke, die über eine Schlucht führt, und Angst steigt auf, weil die Brücke nicht stabil ist. Die Stressparameter im Körper – kardiovaskuläre und endokrinologische – steigen an. Um diese Reaktion auszulösen, brauche es nicht viele Parameter, betont Kothgassner. „Im Grunde genommen muss man schnell reagieren und das Gehirn kann nicht sofort alles verarbeiten. Also werden nur gewisse Cues, also Schlüsselreize, notwendig sein, mit denen die Situation automatisch als Gefahr eingeschätzt und dementsprechend gehandelt wird.“

Entscheidend ist also, dass bestimmte Reize gesetzt werden. Die dreidimensionale Umgebung bezeichnet Felnhofer als „hilfreich, aber das ist mittlerweile bei Virtual Reality-Brillen ohnehin Standard“. Denn all das trage dazu bei, die Umgebung noch plastischer erscheinen zu lassen und virtuelle Situationen realitätsähnlich zu vermitteln – etwa dass man in eine Schlucht blickt. Bei einer sozialen Phobie etwa reicht ein Stimulus von Augen oder Mund – wobei es sich dabei nicht einmal um einen Menschen handeln muss. Sofort folgt eine Reaktion darauf, dass man beobachtet wird. Felnhofer dazu: „Diese Observanz wird unmittelbar wahrgenommen und dementsprechend verarbeitet.“ Zum Einsatz kommen virtuelle Realitäten derzeit bei Kindern und Jugendlichen bei der Behandlung von ADHS. „Dabei nützen wir einerseits den Vorteil von virtuellen Umgebungen, dass diese realitätsnah Reaktionen hervorrufen. So kann auch der Transfer von der Trainingseinheit in den Alltag besser gelingen. Andererseits nützen wir aber auch die Möglichkeit, das Ganze in spielerischer Form zu tun“, erklärt Felnhofer. Dies erfolgt in Form von Serious Games: Technologien oder Spiele, die ganz gezielte therapeutische oder behandlerische Elemente enthalten. Diese Spiele verfügen über ein konkretes Spielziel, erhöhen die Motivation mittels Incentives und verfolgen zugleich ein ganz klares Trainingskonzept bei der Behandlung von speziellen Problemen. „Wir evaluieren derzeit ein Training, mit dem wir konkrete Fähigkeiten bei Kindern mit ADHS trainieren“, berichtet die Expertin von aktuellen Entwicklungen. Trainiert wird dabei, dass die Kinder unter anderem lernen, sich für längere Zeit auf etwas zu konzentrieren und ihre Impulse zu kontrollieren. Durch die Verbesserung des „Arbeitsgedächtnisses“ sei es dann auch möglich, dass sich die betroffenen Kinder Zahlenfolgen merken und auch kurzfristig andere Informationen speichern können.

Soziale Komponente

Nicht zu vergessen im spielerischen Setting ist die soziale Komponente – bieten doch viele dieser Serious Games Gruppenprogramme an. Hier können soziale Bezugssysteme entstehen, da auch mehrere Patienten gleichzeitig solche Spiele spielen. So geht es bei einer Reihe von Spielen um Spannungsregulation und auch darum, die sozialen Interaktionen der Patienten zu bessern. Dazu ein Beispiel: In einem Schulhof-Setting soll ein Kind mit ADHS, das neu an die Schule gekommen ist, seinen Klassenkollegen dabei helfen, so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Dabei stehen vier Spiele, die konkrete Fähigkeiten trainieren, zur Verfügung. Es ist möglich, den Schwierigkeitsgrad zu steigern. Ebenso verfügen die Spiele über einen additiven Aspekt: Merkt sich das Kind das Spiel, steigt es dort wieder ein; eine Über- oder Unterforderung ist somit nicht möglich. Auch können damit Therapiezeiten verkürzt werden, was ein großer Vorteil im Setting ist. In der Regel spielen die Kinder diese virtuellen Spiele allein in der Klinik oder in der Ordination; Gespräche über das Erlebte und Erspielte sind jederzeit möglich. Felnhofer weiter: „Die Kinder können das Erlernte mit entsprechenden Instruktionen in den Alltag integrieren, weil sie mögliche Situationen in der virtuellen Umgebung schon durchgespielt und somit schon erlebt haben“.

Eine zentrale Voraussetzung ist jedoch, Kindern auch Medienkompetenz zu vermitteln: Wie gehe ich mit den neuen Medien um? Wieviel Zeit am Computer oder am Handy ist gut für mich? Kothgassner dazu: „Diese selbstständige Einteilung, wieviel Zeit ein Kind tatsächlich mit dem Computer oder dem Handy verbringt, das kann in ein paar Einheiten von diesen Medienkompetenzen erlernt werden“. CS 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2018