Dossier Medizin und Raumfahrt: Wissen aus dem All

10.09.2018 | Themen


Schon nach rund drei Tagen Aufenthalt im Weltall können leichte Veränderungen in der Mikrostruktur des Muskels und leichte Defizite der Muskelfunktion nachgewiesen werden. Mit dem Wissen über die Prozesse, die im Weltall im Körper ablaufen, ist speziell die Neurorehabilitation bereichert worden – etwa bei der Behandlung von Langzeit-immobilen Personen.
Christina Schaar

Tritt ein Astronaut seine Reise ins Weltall an, so beginnen relativ schnell nach dem Unloading der Schwerkraft, verschiedene Körpersysteme darauf zu reagieren, allen voran das muskuloskelettale System, wobei die Muskeln ihre Struktur, ihre Funktion und ihre Kontraktilität verändern. Bereits nach sechs bis sieben Stunden im All kann beobachtet werden, dass sich Myofilamente abbauen und die Muskelfunktion leichte Defizite aufweist. Aufgrund der Schwächung der Muskelkraft demineralisiert der Knochen mit daraus resultierenden osteoporotischen Erscheinungen. Auch das kardiovaskuläre System ist betroffen: Der Herzmuskel baut sukzessive ab und ist nicht – wie unter normalen Bedingungen der Schwerkraft – in der Lage, kraftvoll zu pumpen. Die Gefäße können sich nicht mehr weit und eng stellen. Sie bleiben dauerhaft in der Kontraktion, was den Widerstand im peripheren Gefäßsystem erhöht. „Dadurch wird auch die Blutversorgung in der Peripherie schlechter“, betont Stefan Golaszewski von der Universitätsklinik für Neurolgie an der SALK und Leiter des Karl Landsteiner-Instituts für Raumfahrt- Neurologie Salzburg.

Darüber hinaus kommt es im All zur Veränderung des Blutbildes und der Blutviskosität insgesamt: Die Zahl der Erythrozyten nimmt ab, die Thrombozyten sind beeinträchtigt, das Immunsystem insgesamt geschwächt mit einer daraus resultierenden erhöhten Anfälligkeit für Infekte. „Deswegen kann ein gesunder Mensch, der unter normalen Bedingungen kein Risiko aufweist, unter diesen Voraussetzungen Thrombosen oder eine Lungenembolie entwickeln“, unterstreicht Golaszewski. Um diesem degenerativen Prozess im Körper gegenzusteuern, unterziehen sich Astronauten einem umfangreichen Trainingsprogramm, besonders im Hinblick auf Muskeltraining, Koordination beim Gehen und zielgerichtete Bewegungen. Ziel ist es, sich im Weltraum auf den Beinen halten zu können und in der Schwerelosigkeit ganz banale Tätigkeiten – zum Beispiel das Essen anzugreifen – durchführen zu können. Besonders bei Langzeitaufenthalten, die länger als ein Jahr dauern, muss der Astronaut ein intensives Trainingsprogramm absolvieren, um nicht dauerhafte Schäden zu erleiden. Golaszewski dazu: „Ist der Körper permanent der Schwerelosigkeit ausgesetzt, wird der Betreffende nicht lange leben, weil er möglicherweise nach einigen Monaten infolge der aufgetretenen Komplikationen stirbt.“ So sind nach einem dermaßen langen Aufenthalt beispielsweise die Knochen derart entmineralisiert, dass der Betreffende nicht mehr in der Lage ist, auf seinen Beinen zu stehen. Ebenso wäre keine Muskelmasse mehr vorhanden, was das Aufstehen verunmöglicht – abgesehen davon, dass es zuvor noch zu einer Lungenembolie, einer Beinvenenthrombose oder einem Infarkt kommen könnte.

Veränderungen nach drei Tagen

Schon nach drei Tagen im Weltall können leichte Veränderungen nachgewiesen werden: etwa in der Mikrostruktur des Muskels oder eine Atrophie. Kürzere Aufenthalte im All – also zwischen drei und sechs Wochen – wurden besonders in USA beforscht, weiß Golaszewski. Mit den Auswirkungen von Langzeitaufenthalten haben sich speziell russische Wissenschafter beschäftigt.

So waren die Kosmonauten nach sieben Tagen im All zwar ataktisch und instabiler; die Veränderungen insgesamt konnten jedoch relativ gut kompensiert werden. Andere Untersuchungen nach Langzeitaufenthalten von bis zu sechs Monaten im Weltall zeigten: je länger der Aufenthalt, umso gravierender die gesundheitlichen Auswirkungen. „Diese Langzeitflieger mussten nach der Landung aus der Raumkapsel herausgetragen werden, da sie nicht mehr gehen konnten“, betont Golaszewski. Ursache dafür sind Veränderungen im propriozeptiven System. „Diese zuvor topfitten Männer mussten nun über einen längeren Zeitraum rehabilitiert werden“, führt der Neurologe weiter aus. Als besonders zielführend hat es sich erwiesen, die Betroffenen auf bestimmten Platten zu positionieren, die sich unter den Füßen bewegen und leichte Vibrationen beziehungsweise propriozeptive Stimulationen an den Fußsohlen bewirken.

Eine der Folge-Untersuchungen in Folge der Forschungen im Weltall in Österreich befasste sich mit Menschen, die immobil in waagrechter Position liegen und sich krankheitsbedingt aus eigener Kraft nicht mehr selbst aufrichten können. Vom Prinzip her sei dies in vielen Bereichen – von muskulo-skelettal, kardiovaskulär, über das Blutbild bis hin zur Immunologie – vor allem im Hinblick auf degenerative Erscheinungen durchaus mit den Veränderungen im Weltall vergleichbar. In den Jahren 1996/97 wurden dazu in Innsbruck Versuche durchgeführt, bei denen Probanden 48 Stunden in Wasserbetten gelegen sind. Dabei liegen die Probanden auf Plastikplanen im Trockenen und sind durch den Auftrieb im Wasser in einer sogenannten Microgravity – einer simulierten Schwerelosigkeit – eingebunden. Anschließend wurden sie auf Gangplatten gestellt und im Hinblick auf Stabilität, Reflexe und zielgerichtete koordinative Bewegungen getestet; die Augenbewegungen wurden beobachtet und die Augensakkaden getestet. Der Experte dazu: „Bei den Probanden in Wasserbetten kann man parallel zu den Prozessen im Weltraum sehen, wie sich die Körpersysteme unter dieser simulierten Schwerelosigkeit verändern.“ In weiterer Folge hätte man sich bei den Forschungen jedoch mehr auf die medizinisch- rehabilitative Seite konzentriert, die ein ähnliches Krankheitsbild und ähnliche Entwicklungen aufweise wie die Degeneration im Weltraum.

Heutzutage versucht man in Krankenhäusern, Betten in verschiedene Positionen – auch vertikal – zu bringen, um so auch beispielsweise komatöse Patienten zumindest zeitweise wieder der Schwerkraft auszusetzen. „Liegt beispielsweise jemand eine Woche waagrecht im Bett, ist er nicht mehr in der Lage, aufzustehen und seinen Körper in eine vertikale Position zu bringen“, betont Golaszewski. Mit dem Wissen über die Prozesse, die im Weltall im Körper ablaufen, sei speziell die Neurorehabilitation bereichert worden.

Aktuelles Projekt

Zum „Bedrest-Syndrom“ wurde erst im Juni 2018 ein von der Nationalbank finanziertes Projekt abgeschlossen. Ziel war es, die Prozesse und den Verlauf von Patienten mit einem verlängerten Komastadium zu untersuchen und systematisch zu beschreiben. Dabei handelte es sich beispielsweise um Veränderungen, die im Rahmen eines Apallischen Syndroms häufig Sekundärschäden durch länger andauernde Bettlägrigkeit verursachen. „Diese Schäden beinhalten besonders Veränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem, im muskulo-skelettalen System sowie im Bereich der kardiovaskulären Funktionen“, unterstreicht Golaszewski. Die Ergebnisse dieser explorativen Studie sollen helfen, ein klares Bild der Symptomatologie und ein besseres Verständnis für die pathophysiologischen Veränderungen des „Bedrest-Syndroms“ zu erhalten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2018