Stand­punkt – Vize-Präs. Her­wig Lind­ner: Weni­ger Sys­tem, mehr Freiheit!

10.02.2018 | Standpunkt

© Bernhard Noll

Ein Fak­tum geht in den Köp­fen der Gesund­heits­öko­no­men und Poli­ti­ker nicht zusam­men: Wir errei­chen bei den Ärz­te­zah­len Jahr für Jahr neue Rekord­stände und haben doch einen Man­gel an Ärz­ten. Zuge­ge­ben, das ver­wirrt. Es ver­wirrt aber nur jene, die das Gesund­heits­sys­tem nur vom Reiß­brett ken­nen. Von jähr­lich etwa 1.400 Absol­ven­ten der Medi­zin­unis ver­las­sen 500 bis 600 Öster­reich. Logisch kal­ku­lie­rend hat der Milch­mäd­chen- Aktio­nis­mus prompt die ent­waff­nende Lösung parat: Wir ver­dop­peln ein­fach die Studienplätze!

Das kann viel­leicht sogar funk­tio­nie­ren, weil dann eben von 2.800 Absol­ven­ten 1.600 hier­blei­ben. A conto des Kol­la­te­ral­scha­dens, dass dann statt 600 auch weit über 1.000 Jung­ärzte Öster­reich ver­las­sen, ist dies volks­wirt­schaft­lich aber eine Kata­stro­phe. Bei etwa Euro 450.000,- Stu­di­en­kos­ten pro Medi­zin­stu­dent*) bedeu­tet dies einen zusätz­li­chen Abfluss von zumin­dest 250 Mil­lio­nen Euro ins Aus­land. Jährlich!

Über einen wei­te­ren Kol­la­te­ral­scha­den wird nicht ein­mal nach­ge­dacht: Die Schutz­quote von 75 Pro­zent für öster­rei­chi­sche Matu­ran­ten würde bei einer deut­li­chen Zunahme der Stu­di­en­plätze mit Sicher­heit fal­len. Unsere Uni­ver­si­tä­ten wür­den von Nume­rus clau­sus Resi­den­ten überrannt.

In kol­lek­ti­ver Über­ein­stim­mung schwei­gen Poli­tik, Sozi­al­ver­si­che­run­gen, Spi­tals­trä­ger die wah­ren Ursa­chen für die Unlust der Jung­ärzte, für das öster­rei­chi­sche Spi­tals- und Kas­sen­arzt­sys­tem tätig zu wer­den, tot. Zu viel Büro­kra­tie, zu viele Regle­men­tie­run­gen, zu vie­les, was nicht zur eigent­li­chen ärzt­li­chen Tätig­keit gehört, und eine unzu­läng­li­che Hono­rar­struk­tur: Das sind die Ursa­chen dafür, dass wir trotz einer kon­stant hohen Zahl an Medi­zin­ab­sol­ven­ten in Öster­reich – und auch einer laut OECD Sta­tis­tik hohen abso­lu­ten Zahl an Ärz­ten – einen immer viru­len­ter wer­den­den Ärz­te­man­gel haben. Fak­tum ist, dass uns die Stu­den­ten aus Deutsch­land nach dem Stu­dium wie­der dort­hin ver­las­sen. Und Fak­tum ist auch, dass die Zahl der Jung­me­di­zi­ner, die die Hei­mat ver­las­sen, im Stei­gen ist. Das zei­gen Befra­gun­gen von Medi­zin­stu­den­ten kurz vor Stu­di­en­ende und das zeigt auch die Sta­tis­tik. Exakt 38,8 Pro­zent der Medi­zin-Absol­ven­ten neh­men in Öster­reich nie eine ärzt­li­che Tätig­keit auf. Die Ent­wick­lung ist durch­aus dra­ma­tisch: Waren es im Stu­di­en­jahr 2005/​2006 rund 17 Pro­zent der Absol­ven­ten, die in Öster­reich nicht ärzt­lich tätig gewor­den sind, so waren es sechs Jahre spä­ter fast 30 Prozent.

Was macht es für junge Ärz­tin­nen und Ärzte so attrak­tiv, ins Aus­land zu gehen? Fragt man sie, wird ganz schnell klar: Die Rah­men­be­din­gun­gen dort sind ein­deu­tig bes­ser. Im Umkehr­schluss heißt das: In Öster­reich pas­sen die Rah­men­be­din­gun­gen nicht.

Unsere jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen wol­len mehr Zeit für ihre Pati­en­ten haben und mehr Zeit für ärzt­li­che Tätig­keit. Und sie wol­len auch die Rah­men­be­din­gun­gen frei wäh­len kön­nen: Wie sie arbei­ten, mit wem, und sie wol­len auch das Aus­maß ihrer ärzt­li­chen Tätig­keit selbst bestim­men. Weni­ger Zwang und mehr Freiheit.

Natür­lich spielt dabei für die jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auch das Ein­kom­men eine Rolle. Hier wird sich die Sozi­al­ver­si­che­rung – rasch -– bewe­gen müs­sen, und end­lich der Gesprächs­me­di­zin nicht nur mehr Raum im Kas­sen­ver­trag geben und die Limits abschaf­fen, son­dern auch die Hono­rie­rung end­lich ent­spre­chend gestal­ten. Dass viele der büro­kra­ti­schen Auf­la­gen auch oft nur um der Büro­kra­tie wil­len gesche­hen, ist ein ande­res Kapi­tel, das nicht weni­ger drin­gend ange­gan­gen wer­den muss.

Nur mit attrak­ti­ven Rah­men­be­din­gun­gen wird es gelin­gen, die Ärz­te­flucht ins Aus­land zu stop­pen, damit junge Ärz­tin­nen und Ärzte in Öster­reich Per­spek­ti­ven sehen und haben.
 

Her­wig Lind­ner
1. Vize-Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 3 /​10.02.2018