Hori­zonte: Leo­nard Bern­stein: Ein New Yor­ker in Wien 

25.10.2018 | Service


Leo­nard Bern­stein – eine der Musik­grö­ßen des 20. Jahr­hun­derts – kam vor allem durch seine Arbeit mit den Phil­har­mo­ni­kern häu­fig nach Wien. Als Kind einer jüdi­schen Ein­wan­de­rer­fa­mi­lie hatte er aber ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur öster­rei­chi­schen Haupt­stadt. Das Jüdi­sche Museum in Wien erin­nert in einer Aus­stel­lung an den Diri­gen­ten und Kom­po­nis­ten, der heuer 100 Jahre alt gewor­den wäre.
Marion Huber

Es sind welt­be­rühmte Musi­cals wie „West Side Story“ und „On the Town“ – in dem Fall vor allem durch die Ver­fil­mung mit Gene Kelly und Frank Sina­tra –, die man mit sei­nem Namen ver­bin­det: Leo­nard Bern­stein. Dar­auf redu­zie­ren sollte man den 1918 gebo­re­nen All­roun­der aber nicht: „Lenny“ war nicht nur ein begna­de­ter Kom­po­nist, son­dern auch einer der größ­ten Diri­gen­ten des 20. Jahr­hun­derts, Pia­nist, Musik­ver­mitt­ler und Show­man. Heuer wäre er 100 Jahre alt geworden. 

Louis Bern­stein – wie „Lenny“ eigent­lich hieß – wurde als Sohn einer jüdi­schen Ein­wan­de­rer­fa­mi­lie, die aus der Ukraine stammte, in Mas­sa­chu­setts gebo­ren. Er stu­dierte in Har­vard Kla­vier, und Kom­po­si­tion und wurde 1943 zwei­ter Diri­gent des New York Phil­har­mo­nic Orches­tra. Es war kurz danach, im Novem­ber 1943, als der dama­lige Gast­di­ri­gent kurz­fris­tig erkrankte und aus­fiel – Bern­stein, gerade 25 Jahre alt, musste ein­sprin­gen und diri­gierte in der Car­ne­gie Hall Richard Strauss‘ Don Qui­xote. Sein spon­ta­nes Debut wurde im Rund­funk lan­des­weit über­tra­gen und machte ihn einer brei­te­ren Öffent­lich­keit quasi über Nacht bekannt. Ange­regt durch sein jüdi­sches Erbe schrieb Bern­stein seine erste Sin­fo­nie – „Jere­miah“ (1942/​43) –, die er sei­nem Vater Samuel widmete. 

Die Som­mer in Tanglewood 

In den 1940er-Jah­ren nahm Bern­stein in Tan­gle­wood, Mas­sa­chu­setts, dem Ort der Som­mer­kon­zerte des Bos­ton Sym­phony Orches­tra, an Som­mer­kur­sen im Diri­gie­ren teil; sein bedeu­tends­ter Leh­rer und größ­ter För­de­rer wurde kein Gerin­ge­rer als der legen­däre Serge Kous­se­vitzky. Zeit­le­bens hatte Bern­stein ein fast väter­li­ches Ver­hält­nis zum rus­sisch-stäm­mi­gen Diri­gen­ten. Auch Jahre spä­ter kehrte Lenny fast jeden Som­mer zurück nach Tan­gle­wood, um selbst zu diri­gie­ren und Meis­ter­kurse zu geben. Ein Jahr, nach­dem er 1957 sei­nen Welt­erfolg „West Side Story“ schrieb, wurde er als ers­ter gebür­ti­ger US-Ame­ri­ka­ner zum Musik­di­rek­tor des New York Phil­har­mo­nic Orches­tra ernannt. Als Gast­di­ri­gent trat er immer wie­der mit dem Lon­don Sym­phony Orches­tra, dem Bos­ton Sym­phony Orches­tra und nicht zuletzt mit den Wie­ner Phil­har­mo­ni­kern auf. 

Seine ers­ten wirk­li­chen Ver­bin­dun­gen mit Öster­reich knüpfte Bern­stein, als er 1959 erst­mals mit dem New York Phil­har­mo­nic Orches­tra bei den Salz­bur­ger Fest­spie­len auf­trat. Im April 1963 fand im gro­ßen Sen­de­saal des Funk­hau­ses Wien die erste Auf­füh­rung von Bern­steins Musi­cal „Can­dide“ in deut­scher Spra­che statt. Eigent­lich war „Can­dide“ in der Urfas­sung eine Ope­rette in zwei Akten, basie­rend auf der Novelle „Can­dide oder der Opti­mis­mus“ von Vol­taire. Als Ope­rette im Mar­tin Beck Theatre in New York City aller­dings auf­grund des Miss­erfolgs abge­setzt, wurde das Stück 17 Jahre spä­ter zu einem Musi­cal umge­ar­bei­tet. Mit neuem Libretto und neuen Gesangs­tex­ten – aber der ursprüng­li­chen, erfolg­rei­chen Musik von Bern­stein – wurde „Can­dide“ als Musi­cal 1974 am Broad­way Theatre in New York urauf­ge­führt und brachte es auf mehr als 700 Vorstellungen. 

Zurück nach Wien: Eigent­lich hatte man sich hier bald nach dem Zwei­ten Welt­krieg um den Star aus New York bemüht. Meh­rere Ein­la­dun­gen wur­den aus­ge­spro­chen – doch Bern­stein zögerte. Sicher­lich nicht nur wegen der jün­ge­ren öster­rei­chi­schen Geschichte, son­dern auch wegen der NS-Ver­gan­gen­heit der Wie­ner Phil­har­mo­ni­ker selbst. 

Als er 1966 erst­mals mit den Wie­ner Phil­har­mo­ni­kern an der Staats­oper arbei­tete – er debü­tierte mit Giu­seppe Ver­dis Oper „Fal­staff“ –, schrieb er in einem Brief an seine Eltern: Ich genieße Wien unglaub­lich – so sehr man das als Jude über­haupt kann. […] Aber es ist bes­ser zu ver­ge­ben, und wenn mög­lich, über­haupt zu ver­ges­sen. […] Euer Wie­ner Schnit­zel, Lenny 

In den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren lei­tete Bern­stein in der Staats­oper Auf­füh­run­gen von „Der Rosen­ka­va­lier“ (Musik: Richard Strauss, Libretto: Hugo von Hof­manns­thal) und „Fide­lio“ von Lud­wig van Beet­ho­ven. Durch die jah­re­lange Zusam­men­ar­beit ent­wi­ckelte das Orches­ter ein nahes, wenn auch nicht kon­flikt­freies Ver­hält­nis zu sei­nem Ehren­mit­glied Bern­stein. Er war es, der den Phil­har­mo­ni­kern – gegen anfäng­li­che Wider­stände – den ver­dräng­ten Gus­tav Mahler wie­der näher brachte. Als er seine Tätig­keit mit den Phil­har­mo­ni­kern auf­nahm, diri­gierte er Mahlers „Das Lied von der Erde“. Es ist wahr­schein­lich nicht zu viel gesagt, dass Bern­stein maß­geb­lich dazu bei­getra­gen hat, Mahler zurück in die Kon­zert­säle zu brin­gen. Von 1967 bis 1976 hat er sämt­li­che Sin­fo­nien von Mahler dirigiert. 

1990 diri­gierte Bern­stein das Bos­ton Sym­phony Orches­tra in Tan­gle­wood – gesund­heit­lich bereits schwer ange­schla­gen und gezeich­net. Dort, wo er im Juli 1940 sei­nen ers­ten offi­zi­el­len Auf­tritt als Diri­gent hatte, sollte er auch sein letz­tes Kon­zert geben. Bern­stein starb noch im sel­ben Jahr. So manch geplan­tes musi­ka­li­sche High­light konnte durch den Tod Bern­steins nicht mehr umge­setzt wer­den: So hatte Her­bert von Kara­jan eine gemein­same Tour­nee mit den Wie­ner Phil­har­mo­ni­kern nach Japan initi­iert. Auch das Neu­jahrs­kon­zert, für das Bern­stein in die­sem Jahr als Diri­gent vor­ge­se­hen war, musste ohne den Aus­nah­me­künst­ler stattfinden. 

Lebe­mann und lie­be­vol­ler Vater 

Bern­steins Lebens­stil war zeit­le­bens „inten­siv“ – könnte man sagen: Er war umtrie­big, über­schwäng­lich; manch einer mag ihn als maß­los bezeich­nen. Er rauchte, trank, blieb näch­te­lang auf – wie er es selbst ein­mal beschrieb. Obwohl Bern­stein 1951 die aus Chile stam­mende Schau­spie­le­rin Feli­cia Mon­tealegre hei­ra­tete, war er in der Musik­welt für seine Pro­mis­kui­tät bekannt. Er war lie­be­vol­ler Vater – mit Feli­cia hatte er zwei Mäd­chen und einen Sohn –, hatte aber zugleich homo­se­xu­elle Bezie­hun­gen. Mitte der 1970er-Jahre trennte sich das Ehe­paar, nach­dem Bern­stein sich für einen jun­gen Stu­den­ten und gegen Feli­cia ent­schied. Eine Ent­schei­dung, die er bereute, als bei Feli­cia Krebs dia­gnos­ti­ziert wurde – er kehrte zu ihr zurück und blieb bis zu ihrem Tod 1978 bei ihr. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 20 /​25.10.2018