Horizonte: Die bittere Lehre von Minamata

25.09.2018 | Service


Quecksilber aus der Chemiefabrik in Minamata war die Ursache für das gleichnamige Krankheitsbild, von dem mehr als 2.200 Menschen betroffen waren. Ein Museum in der japanischen Stadt erinnert an die Vergiftungen vor 50 Jahren. Mittlerweile versteht sie sich als ökologische Modellstadt und hat sich dem Kampf gegen die Umweltverschmutzung durch Quecksilber verschrieben.
Rudolf Stumberger

Minamata ist eine kleine Stadt mit rund 25.000 Einwohnern an der Westküste von Kyushu, der südlichsten der fünf Hauptinseln von Japan. Der Ort in der Präfektur Kumamoto besteht vor allem aus der lang gezogenen Hauptstraße mit ihren Kaufhäusern und anderen Läden. Am Hafen stehen noch immer die alten Fabriksgebäude und nicht weit davon ein moderner Baukomplex mit einer großen Rasenfläche. Hier in Minamata entstand 1971 ein Foto, das um die Welt ging: Ryoko Uemura badet ihre behinderte Tochter Tomoko in einem traditionellen japanischen Bad. Der Fotograf war Eugene W. Smith, ein Amerikaner, der später von Fabriks-Arbeitern zusammengeschlagen wurde. Tomoko hatte schwere Schäden durch eine Quecksilbervergiftung erlitten. Grund dafür waren giftige Abwässer, die die örtliche Chemiefabrik Chisso Corporation jahrelang in das Meer geleitet hatte. Über die Fische – sie stellen eine der Haupt-Nahrungsquellen dar – gelangte das Quecksilber in die Menschen. Heute erinnert in Minamata ein eigenes Museum sowie ein Forschungsinstitut an die Umweltkatastrophe aus den 1960er Jahren, die als „Minamata Krankheit“ bezeichnet wurde.

Vor gut 60 Jahren war das Yatsushiro Meer um die Bucht von Minamata reich an Fischen aller Art, was für die Fischer der Stadt eine solide Lebensgrundlage darstellt. Denn am häufigsten kamen Reis und Fisch auf die Teller der Menschen – das Nachkriegs-Japan dieser Zeit war ein armes Land. Doch in den 1950er Jahren geschahen seltsame Dinge in der Bucht: Krebse begannen zu sterben, Fische trieben an der Wasseroberfläche, Algen wuchsen nicht mehr und Katzen zeigten ein merkwürdiges Verhalten, bevor sie aus mysteriösen Gründen starben. Am 21. April 1961 wurde ein Kind aus Minamata mit ernsthaften Beschwerden in das örtliche Hospital gebracht – es konnte nicht mehr gehen, sprechen und essen. Auch andere Bewohner erkrankten. Am 1. Mai 1961 unterrichtete der Direktor des Krankenhauses das Gesundheitsamt, dass sich vier Patienten mit zerebralen Schädigungen mit unbekannter Ursache in Behandlung befänden. Das war der Zeitpunkt der offiziellen Wahrnehmung der „Minamata Disease“. Sieben Jahre und viele wissenschaftliche und medizinische Untersuchungen später, am 26. September 1968, gab die Regierung ihre offizielle Stellungnahme bekannt. Demnach handelte es sich bei der „Minamata Disease“ um eine Schädigung des zentralen Nervensystems, hervorgerufen durch eine Methylquecksilberverbindung. Das Quecksilber stamme aus der örtlichen Chemiefabrik, wo es als ein Nebenprodukt der Herstellung von Acetaldehyd entstand und als Abwasser ungefiltert in das Meer geleitet wurde. Das Quecksilber habe sich in Fischen und anderen Meerestieren angesammelt und führte bei den Bewohnern – und schon bei Neugeborenen – zu Schädigungen. Insgesamt waren mehr als 2.200 Menschen betroffen.

Die Geschichte von Minamata ist auch eine Geschichte über den industriellen Aufstieg von Japan in den 1950er und 1960er Jahren. Um die Landwirtschaft auf den von Bergen und dem Meer begrenzten Anbauflächen voranzubringen, setzte man Kunstdünger ein – hergestellt in der Chemiefabrik von Minamata. Die Stadt war quasi eine „Company town“, in der ein Arbeitgeber die meisten Arbeitsplätze stellte. Die Arbeiter der Fabrik wurden als „Kaisha-yuki san“ beneidet. Das Unternehmen organisierte Konzerte und Sportfestivals und lieferte der Stadt mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen. Ein Viertel des Stadtgebietes gehörte der Firma.

Soziale Spaltung

Die ersten Erkrankungen führten zur sozialen Spaltung zwischen den Opfern und ihren Familien einerseits und dem Unternehmen und seinen Unterstützern andererseits. Die Opfer kämpften gegen die Macht des Unternehmens, versammelten sich zu Protesten vor den Werkstoren und brachten Klagen bei Gericht ein. Bei Kundgebungen zeigten Angehörige die Bilder der Verstorbenen und trugen Fahnen mit der Aufschrift „Wut“. Auf diese aufgeheizte Situation traf der Fotograf Eugene W. Smith, als er 1971 nach Minamata kam, um die ökologische Katastrophe und ihre Opfer zu dokumentieren. Smith war damals 53 Jahre alt, hatte als Kriegsfotograf im Pazifik überlebt und sich einen Namen als sozial engagierter, unabhängiger – und sich immer in Geldschwierigkeiten befindender – Bildberichterstatter gemacht. Sein Foto der verkrüppelten 15-jährigen Tomoko ging um die Welt. Übrigens: Im Januar 1972 wurde Smith bei einem Angriff von Beschäftigten des Chemieunternehmens so schwer verletzt, dass er jahrelang unter heftigen Schmerzen litt und Suizid begehen wollte. 

Wer heute durch Minamata geht, findet fotografische Hinweise auf die „Minamata Disease“. Ein Plakat an einer Hauswand vis à vis vom Polizeirevier weist auf eine Ausstellung im städtischen Museum hin. Dieses wurde 1993 eröffnet und zeigt über vier Abteilungen die Geschichte der ökologischen Katastrophe. In der Eintrittshalle wird der Besucher mit der Region um Minamata vertraut gemacht: wie die Küstenbewohner als Fischer seit Jahrhunderten mit dem Meer lebten und daraus ihre Nahrung bezogen. Die zweite Abteilung widmet sich der Geschichte der örtlichen Chemiefabrik. 1908 gegründet, wurde die Chisso Corporation zu einem bedeutenden Industrieunternehmen von Japan, der wirtschaftliche Aufschwung kam Minamata zugute, die Stadt wuchs. 1932 war Chisso eines der ersten Unternehmen in Japan, das Acetaldehyd produzierte, das bei der Herstellung von Plastik und anderen Stoffen verwendet wurde. In den 1930er Jahren wurde Chisso schließlich zu einem führenden Chemie-Unternehmen. Die Ausstellung zeigt die Fabrik in den 1950er Jahren, als über einen Abwasserkanal das Quecksilber ins Meer geleitet wurde und informiert über die ersten Anzeichen der „Minamata Disease“.

Die dritte Abteilung widmet sich den Opfern. Die Quecksilbervergiftung verursachte Sehstörungen, das Hörvermögen war eingeschränkt, ebenso die Koordinationsfähigkeit von Händen und Füßen. Manche verloren den Geschmackssinn und das Gefühl in den Fingerspitzen, Babys wurden verkrüppelt geboren. Bis 2015 wurden in den Präfekturen Kumamoto und Kagoshima insgesamt 2.278 Betroffene identifiziert. Die Ausstellung thematisiert auch den Kampf der Opfer um Anerkennung ebenso wie um Entschädigungen vom Unternehmen und vom Staat. Im Jahr 2009 wurden Entschädigungen an mehr als 60.000 Angehörige gezahlt. Doch der Minamata-Fall schwelt noch immer und ist noch nicht beendet. Die vierte Abteilung schließlich zeigt die Lehren, die Minamata aus den Vorfällen gezogen hat. Die Stadt versteht sich heute als ökologische Modellstadt und hat sich den Kampf gegen die Umweltverschmutzung durch Quecksilber auf die Fahnen geheftet. Im Oktober 2013 wurde das Minamata-Abkommen über die weltweite Reduzierung von Quecksilberemissionen auf den Weg gebracht: Nie wieder soll sich eine derartige Katastrophe wiederholen.

Vor dem Museum befindet sich der mit Gras bewachsene Küstenabschnitt, auf dem ab 1980 die Quecksilberablagerungen abgebaut und neu aufgeschüttet wurden. Hier findet sich auch das Denkmal, das an die Minamata Disease erinnern soll. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Museum sind auch das nationale Forschungsinstitut und Archiv zum Thema angesiedelt. Und nur wenige Schritte vom Museums-Eingang entfernt wurde 1996 ein weiteres Mahnmal errichtet: Es zeigt 108 nicht rostende Stahlkugeln, die über eine schiefe Ebene verteilt sind – sie symbolisieren Quecksilberkugeln, die ins Meer rollen…

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2018