Über­ge­wicht und Adi­po­si­tas: Ernäh­rung als Herausforderung

10.09.2018 | Medizin


Bis­he­rige Ernäh­rungs­emp­feh­lun­gen in Form von Ernäh­rungs­py­ra­mi­den sind wegen man­geln­der Effi­zi­enz obso­let. Viel­mehr sollte gemäß den Emp­feh­lun­gen der Har­vard Medi­cal School in Form eines „Gesun­den Tel­lers“ mit den vier Berei­chen Gemüse, Obst, Voll­korn­pro­dukte und hoch­wer­ti­ges Eiweiß über gesunde Ernäh­rung infor­miert wer­den, um der stei­gen­den Zahl an Über­ge­wich­ti­gen und Adi­pö­sen gegenzusteuern.

Mehr als 50 Pro­zent der Erwach­se­nen in euro­päi­schen Län­dern sind über­ge­wich­tig oder adi­pös. Bei Kin­dern gel­ten laut einer Lan­cet-Stu­die vom Okto­ber 2017 welt­weit 75 Mil­lio­nen Mäd­chen und 117 Mil­lio­nen Buben als mäßig oder schwer über­ge­wich­tig und 50 Mil­lio­nen Mäd­chen und 74 Mil­lio­nen Buben als adi­pös. „Die Ursa­che dafür liegt in der erhöh­ten Ener­gie­zu­fuhr in Rela­tion zum Ener­gie­ver­brauch, dem erhöh­ten Kon­sum von gesät­tig­ten Fett­säu­ren und Trans­fet­ten, dem hohen Kon­sum von Zucker und Salz und dem nied­ri­gen Kon­sum von Gemüse, Obst und Voll­korn­pro­duk­ten“, betonte Univ. Prof. Kurt Wid­halm vom Öster­rei­chi­schen Aka­de­mi­schen Insti­tut für Ernäh­rungs­me­di­zin (ÖAIE) im Rah­men einer Pres­se­kon­fe­renz in Wien. 

Gleich­zei­tig nimmt auch die Zahl der Krank­hei­ten zu, die mit einer unge­sun­den Ernäh­rung in Zusam­men­hang ste­hen: Herz- Kreis­lauf-Erkran­kun­gen, Dia­be­tes mel­li­tus, Kar­zi­nome sowie Erkran­kun­gen der Atem­wege. Sie sind EU-weit für 77 Pro­zent aller Krank­hei­ten und 86 Pro­zent der früh­zei­ti­gen Mor­ta­li­tät ver­ant­wort­lich. Um die Aus­brei­tung die­ser Krank­hei­ten zu bekämp­fen, hat die Euro­päi­sche Behörde für Lebens­mit­tel­si­cher­heit (EFSA) Ende 2017 Gui­de­lines für die täg­li­che Ener­gie­zu­fuhr publi­ziert; sie sind geschlechts- und alters­spe­zi­fisch getrennt und hän­gen von der kör­per­li­chen Akti­vi­tät ab. „Die EFSA-Richt­li­nien sind evi­denz­ba­siert am aktu­el­len Stand der Wis­sen­schaft und soll­ten die Grund­lage für alle Ernäh­rungs-Gui­de­lines sein“, betonte Wid­halm. Laut den Gui­de­lines sol­len zum Bei­spiel Koh­len­hy­drate 45 bis 60 Pro­zent der zuge­führ­ten Gesamt­ener­gie aus­ma­chen – so der Richt­wert. Die emp­foh­lene Zufuhr von Pro­te­inen wurde auf 0,66g/kg Kg/​d gesenkt – und liegt damit deut­lich unter dem durch­schnitt­li­chen Kon­sum eines Öster­rei­chers mit circa zwei Gramm pro Kilo­gramm Kör­per­ge­wicht. Die Auf­nahme von Fett sollte min­des­tens 20 bis 35 Pro­zent der Gesamt­ener­gie-Zufuhr betra­gen; Öster­reich liegt auch hier mit 36,8 Pro­zent deut­lich über dem emp­foh­le­nen Wert. 

Die bis­he­ri­gen Ernäh­rungs­emp­feh­lun­gen in Form von „Ernäh­rungs­py­ra­mi­den“, wie sie zum Bei­spiel auch in Öster­reich ver­mit­telt wur­den, hät­ten sich laut Wid­halm „lei­der als völ­lig inef­fek­tiv erwie­sen“. Nach der Emp­feh­lung der Har­vard Medi­cal School sollte die Dar­stel­lung des „Gesun­den Tel­lers“ die Bevöl­ke­rung bes­ser infor­mie­ren. Der „Gesunde Tel­ler“ ist in vier Berei­che unter­teilt – Gemüse, Obst, Voll­korn­pro­dukte und hoch­wer­ti­ges Eiweiß. „Dabei gibt es keine Ver­bote oder War­nun­gen, was man sel­ten essen sollte. Es sind nur posi­tive Infor­ma­tio­nen ent­hal­ten“, beschreibt Wid­halm die posi­ti­ven Aspekte des „Gesun­den Tel­lers“. Und wei­ter: „Damit ist es nach Berich­ten aus den USA eher mög­lich, das Ver­hal­ten zu beein­flus­sen und nicht nur das Wis­sen zu ver­bes­sern. Über­ge­wich­tige wis­sen oft ohne­hin sehr viel über gesunde Ernäh­rung, hal­ten sich aber nicht daran.“ So bleibe die Her­aus­for­de­rung, wie Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten tat­säch­lich geän­dert wer­den kön­nen, den­noch bestehen. 

Ener­gie­bi­lanz entscheidend 

„Die Ener­gie­bi­lanz ist das Ein­zige, das bestimmt, ob wir nor­mal­ge­wich­tig oder über­ge­wich­tig sind“, erklärte Bio­che­mi­ker Priv. Doz. Cle­mens Röhrl vom Zen­trum für Pat­ho­bio­che­mie und Gene­tik der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Um Hun­ger­pe­ri­oden zu über­le­ben, war der Mensch über Jahr­tau­sende kon­di­tio­niert, über­schüs­sige Ener­gie nicht aus­zu­schei­den, son­dern als Fett zu spei­chern. „Daher liegt es auf der Hand, dass wir in Zei­ten eines Nah­rungs­über­schus­ses ein poten­ti­el­les Pro­blem haben, da zuviel Ener­gie immer als Fett gespei­chert wird“, so Röhrl. 

Was bestimmt nun, ob wir über lange Zeit Fett spei­chern oder abbauen? Per­so­nen mit einer aus­ge­gli­che­nen Ener­gie­bi­lanz kön­nen über lange Zeit ihr Kör­per­ge­wicht kon­stant hal­ten. Bei einer posi­ti­ven Ener­gie­bi­lanz hin­ge­gen wird Ener­gie in Form von Fett gespei­chert. „Diese posi­tive Ener­gie­bi­lanz ist der ein­zige Grund für Über­ge­wicht. Adi­po­si­tas ist immer die Folge eines chro­ni­schen Ener­gie­über­schus­ses“, unter­strich Röhrl. Um Gewicht zu ver­lie­ren, sollte daher eine nega­tive Ener­gie­bi­lanz ange­strebt wer­den – ent­we­der durch das Ein­spa­ren von Ener­gie oder durch einen höhe­ren Ver­brauch durch Bewe­gung und Sport – oder im Ide­al­fall durch beides. 

Neben einer aus­ge­wo­ge­nen Ener­gie­bi­lanz braucht es eine adäquate qua­li­ta­tive Zusam­men­set­zung der Nah­rung zur opti­ma­len Funk­tion des Stoff­wech­sels, wie Röhrl wei­ter aus­führte. „Allen voran sind hier die gesät­tig­ten und unge­sät­tig­ten Fett­säu­ren in ihrer Bedeu­tung für eine gesunde Ernäh­rung zu nennen.“ 

Öko­no­mi­sche Bedeutung 

Eine Gesund­heits­be­fra­gung der Sta­tis­tik Aus­tria mit etwa 15.000 Pro­ban­den aus 2014 ergab, dass 47 Pro­zent der öster­rei­chi­schen Bevöl­ke­rung über­ge­wich­tig oder adi­pös sind. „In abso­lu­ten Zah­len laut die­ser Sta­tis­tik sind das rund 3,4 Mil­lio­nen Öster­rei­cher“, führte Gesund­heits­öko­nom Mar­kus Pock vom Insti­tut für Höhere Stu­dien (IHS) aus. Dabei zeich­net sich ein deut­li­cher Geschlech­ter­un­ter­schied ab: Wäh­rend ins­ge­samt 39 Pro­zent der Män­ner über­ge­wich­tig sind, sind es bei Frauen 26 Pro­zent. Gerin­ger ist der Geschlech­ter­un­ter­schied bei Adi­po­si­tas: Hier sind 16 Pro­zent der Män­ner und 13 Pro­zent der Frauen betrof­fen. Der Gip­fel liegt im Alter von 60 bis 74 Jah­ren, wo fast zwei Drit­tel der Män­ner an Über­ge­wicht oder Adi­po­si­tas leiden. 

„Was das an öko­no­mi­scher Belas­tung für unser Gesund­heits­sys­tem bedeu­tet, kann im Gesam­ten kaum seriös geschätzt wer­den“, sagte Pock. So betra­gen bei­spiels­weise in Öster­reich allein die medi­zi­ni­schen Kos­ten bei Dia­be­tes mel­li­tus laut einer Johan­neum Rese­arch Stu­die aus dem 2015 rund 1,5 Mil­li­ar­den Euro pro Jahr. Das sind umge­rech­net fünf Pro­zent der gesam­ten Gesundheitsausgaben. 

Manage­ment in der Praxis 

„Nach­hal­tige Ernäh­rungs­um­stel­lun­gen sind extrem schwie­rig und lei­der nur sel­ten erfolg­reich“, weiß Univ. Prof. Gabriele Mül­ler-Rosam, Inter­nis­tin und Ernäh­rungs­me­di­zi­ne­rin in Wien. Einer­seits sei es oft sehr schwer, Pati­en­ten mit mani­fes­tier­ten Erkran­kun­gen zu moti­vie­ren, etwas an ihrem Lebens­stil zu ändern, ande­rer­seits wüss­ten Betrof­fene teil­weise zu wenig über die Aus­wir­kun­gen ihres Ver­hal­tens. Hier könn­ten Schu­lun­gen und indi­vi­du­elle ernäh­rungs­me­di­zi­ni­sche Betreu­ung der Pati­en­ten hel­fen, wie Mül­ler-Rosam unter­strich. Ent­schei­dend sei vor allem die Prä­ven­tion – schon im frü­hen Kin­des­al­ter. CS 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 17 /​10.09.2018