Somatoforme Störungen: Ursache nicht greifbar

25.03.2018 | Medizin


Wenn Patienten bei Fachärzten nicht im üblichen Behandlungsspektrum therapiert werden können, wird die Diagnose bei zunehmender Chronifizierung der Erkrankung ungenauer und schwieriger. Bei somatoformen Störungen handelt es sich oft um Schmerzstörungen.
Christina Schaar

Das Problem beim Begriff ,somatoforme Störungen‘ liegt darin, dass wir im medizinischen Versorgungsbereich eine Krankheitsgruppe oder eine Patientengruppe definieren, von der im landläufigen Sinn das Gefühl vorherrscht, sie hätte nichts Somatisch-Medizinisches“, erklärt Univ. Prof. Hans-Peter Kapfhammer von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Graz. Eine somatoforme Störung sieht zunächst aus wie eine körperliche Krankheit, ist jedoch keine, ist nicht durch andere primäre Erkrankungen wie Depression, Angst, Sucht oder Ähnliches erklärbar und darf auch nicht selbst intendiert sein im Sinn einer artifiziellen Störung.

„Die somatoformen Störungen sind eine Untergruppe des großen Kapitels der Somatisierungsstörungen, in denen die Patienten laut den ICD-Kriterien über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren körperliche Beschwerden angeben, für die es aber keinen ausreichenden somatischen Befund gibt“, erklärt Univ. Prof. Wolfgang Fleischhacker von der Medizinischen Universität Innsbruck. Diese Patientengruppe ist in vielen Fällen nicht in einem Krankenhaus zu finden – jedenfalls nicht zur Behandlung – jedoch sehr häufig zur Abklärung in Ambulanzen beziehungsweise Spezialambulanzen.

Betrachtet man das Versorgungssystem etwa auf der Ebene der Hausärzte, ist davon auszugehen, dass ungefähr 50 Prozent der Patienten den Arzt aufsuchen, ohne eine ausreichende organisch- somatisch-medizinische-diagnostische Einordnung zu erfahren. Patienten suchen bei den unterschiedlichsten häufig vorkommenden Symptom-Beschwerden wie Schmerzen, Husten, Übelkeit oder Müdigkeit den Hausarzt auf. Kommt der Betroffene nicht wieder, geht der Arzt üblicherweise davon aus, dass sich die Beschwerden gegeben haben. Bei einer genaueren Betrachtung lässt sich jedoch feststellen, dass Personen aus jeder Gesellschaftsschicht bei emotionalen oder sozialen Problemen in erster Linie das somatisch-medizinische Gesundheitssystem des Hausarztes aufsuchen. Geht man noch eine Stufe höher, erkennt man, dass es sich bei somatoformen Störungen meist um Störungen handelt, an denen der Schmerz beteiligt ist. „Schmerz ist das häufigste Symptom, weswegen Menschen überhaupt zum Arzt gehen und sehr oft sind es chronische Beschwerden“, betont Kapfhammer.

Psychosoziale Stressoren

Geht man in die Genese dieser Patienten, findet man einerseits speziell bei Schmerzen chronische Beschwerdemuster, andererseits zeigen sich auch Vorwarnzeichen: etwa schwierige soziale Verhältnisse, hohe psychosoziale Stressoren und viele Traumatisierungen. „Aus dem heutigen Verständnis heraus wissen wir, dass diese Schmerzstörungen auch im ICD anerkannte psychische Störungen sind, bei denen die Diagnose Schmerzstörung gestellt werden kann“, meint Kapfhammer.

Es gibt jedoch auch eine bestimmte Personengruppe, die an funktionellen Störungen leidet. Die Betroffenen gehen aufgrund ihrer Beschwerden wie zum Beispiel Schwindelsymptome, Gang- oder Bewegungsstörungen zum Neurologen. Kapfhammer dazu: „Die Symptome zu erkennen ist einfach, jedoch die Differentialdiagnose kann sich mitunter als schwierig erweisen“. Darüber hinaus gibt es Organ-bezogene Funktionsstörungen: Zum Beispiel Personen, die unter Belastung sehr schnell ein Hyperventilationsproblem entwickeln und dadurch alle möglichen körperlichen Symptome verspüren. „Hier spielt Angst eine ganz wesentliche Rolle“, betont Kapfhammer.

Aber es gibt auch Patienten, bei denen weniger bestimmte körperliche Symptome im Vordergrund stehen als vielmehr Ängste. Wenn beispielsweise jemand plötzlich einen schon lange bestehenden braunen Fleck auf der Haut genauer beobachtet und plötzlich in Angst gerät, dass sich ein Melanom entwickelt haben könnte. Dabei handelt es sich um hypochondrische Ängste, die auch bei anderen somatoformen Störungen vorhanden sein können. In der psychiatrischen Nomenklatur kann auch die eigenständige Diagnose einer hypochondrischen Störung gestellt werden, wenn diese hypochondrischen Ängste und Überzeugungen das Beschwerdebild überwiegend bestimmen.

Viele Patienten mit hypochondrischen Störungen sind extrem gut belesen – weswegen sie zum Teil auf höchst seltene exotische Erkrankungen kommen, unter denen sie zu leiden meinen. „Sie gehen immer zu Koryphäen. Meist geht es darum, Nachgelesenes zu verifizieren“, betont Fleischhacker. Auf der Suche nach einer Bestätigung der vermuteten Krankheiten, werden die Koryphäen immer kompetenter, die Untersuchungen immer aufwändiger. Dies führt aber weniger dazu, den Patienten zu helfen, als vielmehr, deren Unsicherheit zu erhöhen. Für die Ärztinnen und Ärzte, die mit solchen Patienten konfrontiert werden, ist ganz wichtig, irgendwann einmal – auch für sich selbst – einen Schlussstrich zu ziehen: „Bis hierher und nicht weiter. Am wahrscheinlichsten handelt es sich hier um eine Somatisierungsstörung oder eine hypochondrische Störung“, meint Fleischhacker. Da Betroffene aufgrund ihrer Erkrankung nicht akzeptieren können, diese als ein psychisches Problem anzuerkennen, besteht die erste Herausforderung im Beziehungsaufbau. Dabei gilt es prioritär, mit den Patienten gemeinsam Krankheitsmodelle zu erarbeiten, die auch für sie plausibel sind und mit denen sie etwas anfangen können. Körperdysmorphe Störungen Eine weitere Gruppe von Patienten weist weniger körperliche Symptome und Ängste auf, sondern hat das Gefühl, dass das körperliche Erscheinungsbild der Kritik und dem Spott der Umwelt ausgesetzt ist. Dabei handelt es sich um sogenannte körperdysmorphe Störungen. Die Betroffenen leiden beispielsweise subjektiv an der Empfindung, eine zu lange Nase zu haben, die sie entstelle und allen anderen Menschen deutlich auffalle. Diese Personengruppe landet mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit beim kosmetischen Chirurgen, „ist nie zufrieden und tendiert zu chronischen Karrieren“, weiß Kapfhammer.

Eine ganz kleine Gruppe sind Frauen, die innerhalb kürzester Zeit aufgrund unzähliger Beschwerden bei ebenso unzähligen Ärzten waren, wobei alle Organsysteme gewissermaßen miteinbezogen sind. Es handelt sich hierbei um die sogenannte „Somatisierungsstörung im engeren Sinne“, erklärt Kapfhammer. Diese Frauen sähen zwar häufig aus wie das blühende Leben, hätten jedoch im Laufe der vergangenen zehn Jahre rund 20 Operationen hinter sich – und niemand könne ganz genau sagen, warum diese Operationen durchgeführt wurden. Den Aussagen des Experten zufolge lasse sich hier eine nicht klare destruktive Komponente im Krankheitsverlauf erkennen. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Frauen, denen zahlreiche Organe wie zum Beispiel Galle und Milz entfernt wurden; manchmal folgen auch noch zusätzlich Operationen am Magen, dem Uterus und den Ovarien. Hier müsse man wirklich innehalten, nachdenken, reflektieren und sich fragen: Was ist das für eine Erkrankung? Kapfhammer dazu: „Das ist eine Dimension, bei der man schon von den ‚yellow flags’ zu den ‚red flags’ kommt.“ Wann immer eine solche selbstdestruktive oder versteckte selbstdestruktive Komponente vorhanden ist, wenn Suizidalität oder Sucht eine Rolle spielen, sollte an einen Spezialisten überwiesen werden; meist ist eine stationäre Behandlung erforderlich.

Diagnose sehr komplex

Das große Problem bei somatoformen Störungen liegt in der Diagnostik, erklärt Kapfhammer. Innerhalb der einzelnen medizinischen Fachspezialitäten bewegt sich das nicht auf einer Symptom-, sondern auf einer Syndromebene; somit gibt es diagnostische Ansätze, die zu erfüllen sind, da mehrere Symptome und Kriterien aufeinandertreffen. Der Patient geht beispiels-weise zum Rheumatologen, der – falls er nichts findet – die Diagnose Fibromyalgie stellt, da die entsprechenden Kriterien erfüllt sind. Beim Gastroenterologen erhält der Betroffene die Diagnose Reizdarm oder Reizmagen. Weiter geht es zum Urologen, der eine interstitielle Zystitis feststellt. Im Grunde genommen handelt es sich um ein Schmerzsyndrom in den diversen Organsystemen oder um eine chronische Müdigkeit. Diese Patientengruppe mit sogenannten funktionellen Körpersyndromen, die auf der fachärztlichen Versorgungsebene circa 30 Prozent ausmacht, fällt aus dem üblichen Patientenspektrum des jeweiligen Facharztes heraus. Diese funktionellen Körpersyndrome werden aus der jeweiligen fachärztlichen Perspektive definiert; stellen aber keine eigenständigen Erkrankungen dar. Zwischen einzelnen von diesen funktionellen Körpersyndromen bestehen große Überlappungen. Zahlreiche psychosoziale und psychologische Faktoren sind in der Regel neben einigen pathophysiologischen Auffälligkeiten beteiligt. Diese fachärztlich definierten funktionellen Körpersyndrome könnten nicht so ohne Weiteres in die psychiatrische Diagnostik der somatoformen Störungen übersetzt werden, betont Kapfhammer. Das wird dadurch noch verkompliziert, dass diese Patienten meist auch über Angstzustände, Depressionen oder unter Umständen auch über traumatische Einflüsse berichten. Das Problem liege laut Kapfhammer in der Unschärfe der unterschiedlichen diagnostischen Konzepte. „Prinzipiell ist die beste Führung solcher Patienten die kontinuierliche“, betont Kapfhammer. Da die meisten Betroffenen vom Hausarzt betreut werden, sind regelmäßige Besuche in der Praxis erforderlich.

Hellhörigkeit gefragt

Neben einer sorgfältigen klinischen Diagnostik muss diese Patientengruppe psychiatrisch/psychotherapeutisch mitbetreut werden. Die Hellhörigkeit des praktischen Arztes ist von großer Notwendigkeit und hängt auch sehr von seiner Qualifikation ab. „Es gibt inzwischen Allgemeinmediziner, die – vor allem im Frühstadium – mit solchen Erkrankungen gut umgehen können; nicht selten mit der Hilfe von Psychologen oder Psychotherapeuten“, meint Fleischhacker. Und weiter: „Der wahrscheinlich wichtigste Punkt ist es, mit dem Patienten gemeinsam ein Krankheitsmodell zu erarbeiten, das auch für ihn eine psychotherapeutische, allenfalls auch psychopharmakologische Intervention plausibel macht.“ Auch hier gilt wie überall in der Medizin: je chronifizierter ein Beschwerdebild, desto schwieriger wird es, dieses zu behandeln, resümiert Kapfhammer.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2018