ÖÄK Diplom­lehr­gang für Gera­trie: Das ver­än­derte Altern

25.01.2018 | Medizin


Ein heute 70-Jäh­ri­ger ent­spricht einem 60-Jäh­ri­gen vor 30 Jah­ren. Mit den Rol­len und Mög­lich­kei­ten, die die moderne Gegen­warts­ge­sell­schaft im Alter bie­tet, um einen Sinn im Leben mit einer ent­spre­chen­den sozia­len Auf­gabe zu fin­den, befasst sich ein Semi­nar aus dem Bereich der Sozi­al­ge­ron­to­lo­gie beim ÖÄK-Diplom­lehr­gang Ger­ia­trie. Von Chris­tina Schaar

Neben dem phy­sio­lo­gi­schen Alter und dem psy­cho­lo­gi­schen sowie medi­zi­ni­schen Ver­ständ­nis von Alter gibt es wei­ters die Sozial-Geron­to­lo­gie, die sich mit der Rolle des Alters in der Gesell­schaft beschäf­tigt – unab­hän­gig davon, ob sich eine Per­son jün­ger oder älter fühlt (psy­cho­lo­gi­sche Frage) oder ob diese sich gesün­der oder krän­ker fühlt (medi­zi­ni­sche Frage). Die sozi­al­ge­ron­to­lo­gi­sche Frage lau­tet: Wie defi­niert die Gesell­schaft das Alter und wie wird das Alter als sol­ches bestimmt? 

„In der Gegen­wart ist das Alter nach wie vor über die Pen­sio­nie­rung bestimmt“, erklärt Univ. Prof. Franz Kol­land vom Insti­tut für Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tätWien. Die soziale Posi­tion jedes Ein­zel­nen in der Gesell­schaft hat sehr stark damit zu tun, dass es einen gesell­schaft­lich fest­ge­leg­ten Lebens­lauf gibt: Ab einem bestimm­ten Zeit­punkt – soge­nannte Alters­grenze – erfolgt der Ein­trit­tin die Lebens­phase des Alters. Die­ser Über­gang wird nach sozi­al­po­li­ti­scher Vor­gabe als Pen­sio­nie­rung, die nach­fol­gende Phase als Ruhe­stand bezeichnet.

Die Sozi­al­ge­ron­to­lo­gie befasst sich seit rund 25 Jah­ren damit, den Lebens­ver­lauf in einer drei­tei­li­gen Form zu ver­ste­hen: Bil­dungs- bezie­hungs­weise Erzie­hungs­phase, Erwerbs- bezie­hungs­weise Arbeits­phase sowie Alters- bezie­hungs­weise Ruhe­stands­phase. „Das heißt: Wir haben einen alters­seg­re­gier­ten Lebens­lauf. Die ver­schie­de­nen Alters­grup­pen sind quasi von­ein­an­der seg­re­giert“, betont Kol­land. Somit ist die Idee der Sozi­al­ge­ron­to­lo­gie ein alters­in­te­grier­ter Lebens­lauf mit Bil­dungs- und Frei­zeit­pro­zes­sen, der sich über den gesam­ten Lebens­lauf ver­teilt – was eine kom­plette Auf­he­bung der gesetz­lich fest­ge­leg­ten Alters­grenze bedeutet.

Einen wei­te­ren, sehr gewich­ti­gen Bereich stel­len gesell­schaft­li­che Alters­bil­der dar. „Das ver­brei­tete Bild zumAl­ter ist eines des Defi­zits“, meint Kol­land. Und wei­ter: „Die Sozi­al­ge­ron­to­lo­gie hin­ge­gen zeigt uns, dass es nichts mit rea­len Bedin­gun­gen, sozu­sa­gen viel weni­ger mit de facto-Ver­än­de­run­gen zu tun hat, son­dern viel­mehr mit sozia­len Zuschrei­bun­gen, die die Gesell­schaft dem Alter zuordnet.

Die US-ame­ri­ka­ni­sche Sozi­al­wis­sen­schaf­te­rin Ellen Lan­ger ver­an­schau­licht dies in ihrem Buch „Mindful­ness“ anhand eines Bei­spiels: Ein 30-Jäh­ri­ger und ein 60-Jäh­ri­ger gehen mit einer Ein­kaufs­liste ein­kau­fen. Beide haben etwas ver­ges­sen, was auf der Ein­kaufs­liste stand. Die Reak­tion in die­ser For­schung: Dem 30-Jäh­ri­gen wird zuge­schrie­ben, dass er ver­gess­lich ist; dem 60-Jäh­ri­gen, dass er senil ist. Hier wird eine völ­lig unter­schied­li­che Wahr­neh­mung ver­mit­telt, obwohl beide Per­so­nen das glei­che Ver­hal­ten zei­gen.

Struk­tur­wan­del der Gesellschaft

„Der Begriff Struk­tur­wan­del ist so zu ver­ste­hen, dass sich das Alter selbst aus­dif­fe­ren­ziert“, erklärt Kol­land. Aus Sicht der Sozi­al­ge­ron­to­lo­gie gibt es ein „dop­pel­tes“ Alter: In der Gesell­schaft fin­det sich eine stei­gende Zahl von über 60-Jäh­ri­gen; jedoch gilt die Auf­merk­sam­keit inner­halb die­ser Gruppe den Hoch­alt­ri­gen. Somit bedarf es unter­schied­li­cher Ange­bote und auch gesell­schaft­li­cher Bestre­bun­gen, die die­ser Ent­wick­lung Rech­nung tra­gen – Stich­wort agile Pen­sio­nis­ten ver­sus pfle­ge­be­dürf­tige Hoch­be­tagte.
 
Neue Trends

Je län­ger wir leben, umso grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass wir alleine leben wer­den. Die­ser Wan­del betrifft vor allem hoch­alt­rige Men­schen. „Das war im 19. Jahr­hun­dert und auch zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts nicht der Fall“, meint Kol­land. Frü­her wur­den die Men­schen ent­we­der nicht so alt oder leb­ten in einer Fami­lie. Die allein leben­den Hoch­be­tag­ten stel­len eine beson­dere Her­aus­for­de­rung bei der Betreu­ung, der Pflege und in sozia­len Bezie­hun­gen dar.

Ein wei­te­rer Trend, der sich im Zuge die­ses Struk­tur­wan­dels abzeich­net, ist die zuneh­mende Femi­ni­sie­rung in die­ser Alters­gruppe. „Wenn wir vom Alter spre­chen, mei­nen wir in der Regel alte Men­schen und über­se­hen jedoch dabei, dass das Alter vor allem eine weib­li­che Ange­le­gen­heit ist“, wie Kol­land betont. Der Grund: die unter­schied­li­che Lebens­er­war­tung. In west­li­chen Gesell­schaf­ten leben Män­ner durch­schnitt­lich um vier bis sechs Jahre kür­zer als Frauen. Je älter die Kohor­ten, umso grö­ßer ist die Dif­fe­renz. So zeigt sich bei den über 90-Jäh­ri­gen eine Ver­tei­lung von 1:4 (auf einen Mann kom­men vier Frauen), wäh­rend bei­spiels­weise bei den 20‑, 30- oder 50-Jäh­ri­gen die Situa­tion völ­lig anders ist.

Seit den 1970er Jah­ren lässt sich spe­zi­ell in Öster­reich eine Ent­wick­lun­ger­ken­nen, die sich – so der Experte – mit dem Begriff „Ent­be­ruf­li­chung“ beschrei­ben lässt. Das heißt: Die Men­schen in Öster­reich gehen rela­tiv früh in Pen­sion. Aktu­ell beträgt das durch­schnitt­li­che Pen­si­ons-Antritts­al­ter rund 59 Jahre – unge­ach­tet der deut­lich gestie­ge­nen Lebens­er­war­tung in den letz­ten Jahr­zehn­ten. Und obwohl die Men­schen län­ger leben, hat sich am Zeit­punkt des Aus­tritts aus dem Erwerbs­le­ben wenig geän­dert. Die Men­schen sind weni­ger lang erwerbs­tä­tig. Neben die­ser Kom­pres­sion der Lebens­ar­beits­zeit und dem Trend zur Ent­be­ruf­li­chung zeigt sich auch eine andere Ent­wick­lung: der Trend der Ver­jün­gung. „Wir sind jün­ger alt“, so Kol­land. Ein Bei­spiel dafür sind die heut­zu­tage 50-jäh­ri­gen Groß­müt­ter und Groß­vä­ter oder aber auch die Tat­sa­che, dass man mit 60 Jah­ren in Pen­sion geht, ohne krank oder belas­tet zu sein. „Es gibt sehr große Grup­pen von Men­schen, die zu einem Zeit­punkt als alt ein­ge­stuft wer­den, es jedoch nicht sind“, unter­streicht der Experte. Und wei­ter: „Ein heute 70-Jäh­ri­ger ent­spricht einem 60-Jäh­ri­gen vor 30 Jah­ren.“ Es komme ins­ge­samt zu einer Ver­jün­gung in der Gesell­schaft. Man könne einen heute 70‑, 80- oder 90-Jäh­ri­gen nicht mit einem 70‑, 80- oder 90-Jäh­ri­gen vor 30 Jah­ren ver­glei­chen. Was nicht nur posi­tive Aus­wir­kun­gen hat. „Ins­ge­samt führt das zu Rol­len­kon­flik­ten, da sich jemand plötz­lich viel jün­ger fühlt, als er tat­säch­lich ist“, so Kol­land abschließend.

ÖÄK Diplom­lehr­gang Ger­ia­trie: die Details

Der ÖÄK-Diplom­lehr­gang Ger­ia­trie umfasst acht zwei­tä­gige Semi­nare im Aus­maß von 112 Stun­den. Es besteht auch die Mög­lich­keit, Semi­nare des Lehr­gangs ein­zeln zu buchen. Im Lehr­gang wer­den die Grund­la­gen der Ger­ia­trie ver­mit­telt. Für den erfolg­rei­chen Abschluss des ÖÄK-Diplom­lehr­gangs ist der Besuch der Semi­nare sowie wahl­weise einePrä­sen­ta­tion oder eine schrift­li­che Arbeit erfor­der­lich.
 
The­men sind u.a:
• Ätio­lo­gie, Patho­ge­nese, Patho­phy­sio­lo­gie und Sym­pto­ma­to­lo­gie von Erkran­kun­gen und Behin­de­run­gen des höhe­ren Lebens­al­ters
• Spe­zi­elle Kennt­nisse, Erfah­run­gen und Fer­tig­kei­ten
- bei ger­ia­trisch rele­van­ten dia­gnos­ti­schen Ver­fah­ren;
- bei der ger­ia­tri­schen The­ra­pie von kör­per­li­chen und see­li­schen Erkran­kun­gen im bio­lo­gisch fort­ge­schrit­te­nen Alter;
- bei der Behand­lung der Stuhl- und Urin­in­kon­ti­nenz
- bei phar­ma­ko­dy­na­mi­schen Beson­der­hei­ten und der Dosie­rung von Arz­nei­mit­teln sowie der Medi­ka­men­ten-Inter­ak­tion bei Mehr­fach­ver­ord­nun­gen;
- bei alters­ad­äqua­ter Ernäh­rung und Diä­te­tik;
- bei phy­sio- und ergo­the­ra­peu­ti­schen, logo­pä­di­schen Maß­nah­men und der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung;
- bei der Reinte­gra­tion zur Bewäl­ti­gung der All­tags­pro­bleme.

Rück­fra­gen an:
Mag. Irm­gard Koll­mann,
Tel.: 01/​718 94 76/​33; E‑Mail: i.kollmann@arztakademie.at;
www.arztakademie.at/fortbildungsangebot

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.01.2018