Kind­li­che Trau­ma­ti­sie­rung: Ein Leben lang

10.10.2018 | Medizin


Trau­ma­ti­sie­run­gen im Kin­des­al­ter – beson­ders durch Men­schen ver­ur­sachte – kön­nen Aus­wir­kun­gen auf die wei­tere Ent­wick­lung haben. Sie umfas­sen nahezu das gesamte Spek­trum an psy­chi­schen Erkran­kun­gen. Bei einer chro­ni­schen Trau­ma­ti­sie­rung ist eine Auf­ar­bei­tung oft erst dann mög­lich, wenn eine gewisse Sicher­heit und psy­cho­so­ziale Sta­bi­li­tät erreicht ist.
Chris­tina Schaar

Ein­ma­lig belas­tende, mono­trau­ma­ti­sche Ereig­nisse wie zum Bei­spiel ein Unfall, eine Natur­ka­ta­stro­phe oder der plötz­li­che Ver­lust einer lie­ben Bezugs­per­son haben meist nicht so kom­plexe Aus­wir­kun­gen wie chro­nisch sich wie­der­ho­lende Ereig­nisse: etwa Kin­des­miss­hand­lung, Gewalt in der Part­ner­schaft oder sexu­elle häus­li­che Gewalt. Dar­über hin­aus dau­ern die Fol­gen von mono­trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen bei Unter­stüt­zung in der Regel nicht so lange wie bei wie­der­hol­ten trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen. „Chro­nisch trau­ma­ti­sche Ereig­nisse haben weit­rei­chen­dere Fol­gen für das spä­tere Leben, manch­mal auch bis ins Erwach­se­nen­al­ter“, betont Katha­rina Purtscher-Penz von der Abtei­lung für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie am LKH Graz Süd-West. Wird bei den ein­ma­li­gen Ereig­nis­sen die nor­male Ent­wick­lung der Kin­der unter­bro­chen, emp­fin­den Kin­der wie­der­holte trau­ma­ti­sche Ereig­nisse als Teil ihrer „nor­ma­len“ Ent­wick­lung. „Die Fol­gen, die sich spe­zi­ell aus chro­nisch belas­ten­den Lebens­er­eig­nis­sen erge­ben, sind sehr viel­fäl­tig. Sie kön­nen fast das ganze Spek­trum der psy­chi­schen Erkran­kun­gen im spä­te­ren Leben umfas­sen“, so die Exper­tin. Dass Trau­ma­ti­sie­run­gen im Kin­des­al­ter „sehr wohl“ Aus­wir­kun­gen im Erwach­se­nen­al­ter haben und beson­ders durch Men­schen ver­ur­sachte Trau­mata zu schwer­wie­gen­den Fol­gen füh­ren kön­nen, weiß auch Univ. Prof. Bar­bara Sper­ner-Unter­we­ger vom Depart­ment Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Innsbruck. 

Zu den drei spe­zi­fi­schen Trauma-Fol­ge­er­kran­kun­gen zäh­len die akute Belas­tungs­re­ak­tion, die post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung und die soge­nannte Ent­wick­lungs­stö­rung nach extre­men Erfah­run­gen. „Ein­ma­lige trau­ma­ti­sche Ereig­nisse füh­ren am ehes­ten zu die­sen spe­zi­fi­schen Trau­ma­fol­ge­er­kran­kun­gen“, bekräf­tigt Purtscher-Penz. Ver­un­glückt bei­spiels­weise ein Fami­li­en­va­ter töd­lich, kommt es beim Über­brin­gen der Todes­nach­richt zu Hause zu einer „nor­ma­len“ Reak­tion in Form einer aku­ten Belas­tungs­re­ak­tion bei den Kin­dern, Jugend­li­chen und wei­te­ren Fami­li­en­mit­glie­dern. Diese dau­ert den Anga­ben in der Lite­ra­tur zufolge bis zu 30 Tage an. 

Chro­nisch trau­ma­ti­sche Ereig­nisse hin­ge­gen kön­nen je nach Lebens­al­ter sehr unter­schied­li­che Aus­wir­kun­gen zei­gen. In der frü­hen Kind­heit kann es bei­spiels­weise zu Regu­la­ti­ons­stö­run­gen kom­men, was sich als Schreiba­bies mani­fes­tiert. Oder aber Kin­der wei­sen – nicht aus kör­per­li­chen Grün­den – Gedeih­stö­run­gen und Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­run­gen auf, wie es manch­mal bei Ver­nach­läs­si­gung der Fall ist. Wei­ters kann es zu Bin­dungs­stö­run­gen kom­men, beson­ders, wenn es sich bei der Per­son, die die trau­ma­ti­sie­ren­den Ereig­nisse durch­führt, um eine nahe Bezugs­per­son han­delt. Dar­über hin­aus kann es zu emo­tio­na­len Stö­run­gen in der frü­hen Kind­heit kom­men, wie Angst­stö­run­gen, aber auch zu exter­na­li­sie­ren­den Ver­hal­tens­wei­sen oder oppo­si­tio­nel­lem Ver­hal­ten. „Nicht sel­ten wei­sen Men­schen mit mas­si­ven Trau­mata-Erfah­run­gen meh­rere Kom­or­bi­di­tä­ten auf“, weiß Sper­ner- Unter­we­ger. Diese machen sich in Form von depres­si­ven Stö­run­gen, Angst­stö­run­gen, dis­so­zia­ti­ven Stö­run­gen, somat­o­for­men Stö­run­gen und auch oft als Bor­der­line Stö­run­gen bemerk­bar. Auch Sub­stanz­miss­brauch und Ess­stö­run­gen tre­ten sehr häu­fig auf; soma­ti­sche Erkran­kun­gen häu­fen sich ebenso. Diese zei­gen sich ver­mehrt bei trau­ma­ti­sier­ten Pati­en­ten beson­ders im kar­dio­vas­ku­lä­ren und pul­mo­n­a­len Bereich und bei rheu­ma­ti­schen Erkrankungen. 

Unter­schied­li­cher Umgang mit Erlebtem 

Per­so­nen, die ein trau­ma­ti­sches Erleb­nis erfah­ren haben, müs­sen immer wie­der an das Ereig­nis den­ken, wol­len viel­leicht auch immer wie­der dar­über reden. „Das zeigt sich beson­ders bei den ein­ma­li­gen trau­ma­ti­schen Ereig­nis­sen“, betont Purtscher-Penz. Beson­ders Kin­der ver­su­chen diese trau­ma­ti­schen Ereig­nisse immer wie­der im „Trauma-bezo­ge­nen Spiel­ver­hal­ten“ zum Aus­druck zu brin­gen. Die­ses Spiel bil­det ste­reo­typ wie­der­ho­lend bestimmte Sze­nen ab und unter­schei­det sich deut­lich vom krea­ti­ven explo­rie­ren­den Spiel, das Kin­der übli­cher­weise spielen. 

Ver­mei­dungs­ver­hal­ten ist die andere Mög­lich­keit mit sol­chen Erfah­run­gen umzu­ge­hen: Der Betrof­fe­nen möchte nicht an das trau­ma­ti­sche Gesche­hen erin­nert wer­den und geht bei­spiels­weise nicht mehr an den Ort oder die Stelle, wo sich der Vor­fall ereig­net hat. Der dritte Sym­pto­men­kom­plex umfasst eine soge­nannte erhöhte „psy­cho­ve­ge­ta­tive Reak­ti­ons­be­reit­schaft“ oder auch Irri­ta­bi­li­tät. Dabei ist die kör­per­li­che Kom­po­nente betrof­fen: Die Kin­der sind oft sehr schreck­haft, lärm­emp­find­lich, haben häu­fi­ger psy­cho­so­ma­ti­sche Sym­ptome wie Kopf­schmer­zen, Bauch­schmer­zen, Schlaf- und Durch­schlaf­stö­run­gen. Diese psy­cho­ve­ge­ta­tiv erhöhte Erreg­bar­keit kann manch­mal mit Impul­si­vi­tät ein­her­ge­hen und unter Umstän­den mit Sym­pto­men einer Hyper­ak­ti­vi­täts­stö­rung ver­wech­selt werden. 

„Prin­zi­pi­ell gibt es beim Trauma durch­aus klare bio­lo­gi­sche Ver­än­de­run­gen“, meint Sper­ner-Unter­we­ger. Betrof­fen ist vor allem das Amyg­dala-Sys­tem mit Ver­än­de­run­gen im Bereich des Gedächt­nis­ses, bei Auto­ma­tis­men und Wahr­neh­mun­gen, die ver­än­dert sein kön­nen. Erin­ne­run­gen kön­nen in Form von Flash­backs wie­der­kom­men. Alb­träume kön­nen auf­tre­ten und das Ereig­nis wird somit wie­der­erlebt. Auch Sym­ptome eines ver­än­der­ten Gefühls­er­le­bens kön­nen sich zei­gen in Form einer Gefühl­s­ab­stump­fung, wo sich Men­schen erstarrt und taub erle­ben und affek­tiv sehr ein­ge­schränkt sind. „Wenn Kin­der trau­ma­ti­siert wor­den sind, sind spe­zi­ell die stress­be­zo­ge­nen Para­me­ter ver­än­dert“, meint Sper­ner- Unter­we­ger. Durch frühe Trau­ma­ti­sie­rung kön­nen Hypo­phy­sen- und Neben­nie­ren­rin­den- Achse viel sen­si­bler gemacht wer­den. Nicht jedes Trauma führt jedoch zu einer schwe­ren psych­ia­tri­schen oder psy­chi­schen Auf­fäl­lig­keit. „Zum Glück haben wir Mög­lich­kei­ten, zu bewäl­ti­gen und Res­sour­cen zu mobi­li­sie­ren“, betont Sperner-Unterweger. 

Kri­sen­in­ter­ven­tion und the­ra­peu­ti­sche Unterstützung 

Bei einem ein­ma­li­gen trau­ma­ti­schen Ereig­nis ist die The­ra­pie oft schon durch eine gute Kri­sen­in­ter­ven­tion und kurze the­ra­peu­ti­sche Unter­stüt­zung im Rah­men der Ver­ar­bei­tung die­ses Ereig­nis­ses mög­lich und somit gene­rell ein­fa­cher als die the­ra­peu­ti­sche Unter­stüt­zung bei chro­nisch trau­ma­ti­sier­ten Kin­dern. „Wenn akut trau­ma­ti­sierte Kin­der eine gute Kri­sen­in­ter­ven­tion bekom­men und sie noch dazu ein gutes fami­liä­res sozia­les Netz­werk haben, benö­ti­gen sie häu­fig nicht sehr lange eine The­ra­pie“, berich­tet Purtscher-Penz aus der Praxis. 

Chro­nisch trau­ma­ti­sierte Kin­der brau­chen in der ers­ten Phase Schutz vor Wie­der­ho­lung. Das bedeu­tet manch­mal auch, dass das Kind nicht mehr in der Fami­lie leben kann, da die Trau­ma­ti­sie­rung durch engste Bezugs­per­so­nen in der Fami­lie erfolgt ist. Hier folgt in der Regel die Phase der psy­cho­so­zia­len Unter­stüt­zung und Sta­bi­li­sie­rung, um Erho­lung inner­halb des sozia­len Bezugs zu ermög­li­chen und zusätz­li­che Hil­fe­stel­lung zu gewähr­leis­ten. Erst wenn eine gewisse psy­cho­so­ziale Sta­bi­li­tät erreicht ist, ist eine Auf­ar­bei­tung oder Bear­bei­tung des Trau­mas im Rah­men einer Psy­cho­the­ra­pie mög­lich. Oft zeigt sich bei Betrof­fe­nen eine gestörte Selbst­wahr­neh­mung: Sie füh­len sich für vie­les schul­dig und haben mas­sive Scham­ge­fühle. Spe­zi­ell wenn der Täter aus dem fami­liä­ren Umfeld stammt, kommt es unter Umstän­den auch zu einer Idea­li­sie­rung des Täters; die Abgren­zung fällt oft schwer, da der Täter nicht nur als nega­tiv erlebt wird. „Beson­ders bei sexu­el­lem Miss­brauch ist Schuld fast immer ein gro­ßes Thema“, erklärt Sper­ner-Unter­we­ger. Oft wer­den auch nur Teil­aspekte gese­hen – in der The­ra­pie geht es darum, diese Teil­aspekte um andere Rea­li­tä­ten, die es auch noch gibt, zu erwei­tern. Dabei wird die Wahr­neh­mung des damals Gesche­he­nen mit der Frage erwei­tert, wer noch betei­ligt war und wel­che Erwach­se­nen eine Schutz­funk­tion hät­ten über­neh­men sol­len und dass das Kind selbst nicht dafür zustän­dig war. 

Kor­ri­gie­rende Beziehungserfahrungen 

Ver­schie­dene funk­tio­nelle Magnet­re­so­nanz­un­ter­su­chun­gen haben gezeigt, dass es durch trau­ma­ti­sie­rende Ereig­nisse zu Ver­än­de­run­gen im Gehirn kommt bezie­hungs­weise kom­men kann, diese jedoch durch Psy­cho­the­ra­pie ver­än­der­bar sind. Beson­ders bei Kin­dern, die Bin­dungs­trau­mata durch Ver­nach­läs­si­gung, Miss­hand­lung oder gewalt­same Behand­lung erfah­ren haben, besteht eines der Haupt­ziele der The­ra­pie darin, dass die betrof­fe­nen Kin­der neue posi­tive Bezie­hungs­er­fah­run­gen erle­ben kön­nen. Dies kön­nen Pfle­ge­el­tern, aber auch lie­be­volle ein­fühl­same und ver­läss­li­che Per­so­nen aus der Fami­lie sein, oder auch bei­spiels­weise ein The­ra­peut aus dem psy­cho­so­zia­len Hel­fer­sys­tem. „Durch diese kor­ri­gie­rende Bezie­hungs­er­fah­rung dür­fen die Kin­der erfah­ren, dass es auch andere Erfah­run­gen als die miss­bräuch­li­chen und gewalt­sa­men gibt“, betont Purtscher-Penz abschließend. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2018