Dos­sier Neu­ro­der­mi­tis: Blickdiagnose

25.06.2018 | Medizin


Neu­ro­der­mi­tis ist die häu­figste Haut­er­kran­kung im Kin­des- und Jugend­al­ter sowie bei Erwach­se­nen. Der chro­ni­sche Ver­lauf stellt nicht nur in the­ra­peu­ti­scher Hin­sicht eine Her­aus­for­de­rung dar. So kommt es u.a. wegen der quä­len­den Juck­reiz­at­ta­cken zu einer deut­li­chen Ein­schrän­kung der Lebensqualität.

Zwi­schen fünf und 20 Pro­zent der Kin­der lei­den an Neu­ro­der­mi­tis; bei den Erwach­se­nen sind zwi­schen ein und drei Pro­zent davon betrof­fen. 60 Pro­zent aller Betrof­fe­nen ent­wi­ckeln die Krank­heit im ers­ten Lebens­jahr; in über 70 bis 85 Pro­zent vor dem fünf­ten Lebens­jahr. Wich­tigs­ter Risi­ko­fak­tor ist die fami­liäre gene­ti­sche Dis­po­si­tion. Ver­mut­lich sind ver­schie­dene Gene auf meh­re­ren Chro­mo­so­men für die Ver­an­la­gung, eine Neu­ro­der­mi­tis zu ent­wi­ckeln, ver­ant­wort­lich. Das höchste Risiko für die Ent­ste­hung einer Neu­ro­der­mi­tis, eines Heu­schnup­fens oder von Asthma bron­chiale hat ein Kind dann, wenn beide Eltern­teile unter der glei­chen ato­pi­schen Erkran­kung lei­den. Die Wahr­schein­lich­keit, dass die Mut­ter Neu­ro­der­mi­tis ver­erbt, ist etwas höher als dass sie vom Vater ver­erbt wird. Rund 60 Pro­zent der betrof­fe­nen Kin­der sind bis zum frü­hen Erwach­se­nen­al­ter sym­ptom­frei. Auch wenn Spon­tan­hei­lun­gen mög­lich sind, ent­wi­ckeln min­des­tens 30 Pro­zent aller betrof­fe­nen Kin­der auch als Erwach­sene zeit­weise Ekzeme. 

Zu den Prä­dik­to­ren, ob die Neu­ro­der­mi­tis bis ins Erwach­se­nen­al­ter per­sis­tiert, zäh­len: frü­her Erkran­kungs­be­ginn, Kom­or­bi­di­tät mit ande­ren Erkran­kun­gen des ato­pi­schen For­men­krei­ses, schwe­rer Krank­heits­ver­lauf im Kin­des­al­ter sowie eine posi­tive Fami­li­en­ana­mnese für Atopie. 

In den letz­ten Jahr­zehn­ten wurde laut ver­schie­de­nen Stu­dien ein deut­li­cher Anstieg der Prä­va­lenz ver­zeich­net. Dafür ver­ant­wort­lich sind in ers­ter Linie ver­än­derte Umwelt­be­din­gun­gen bezie­hungs­weise der west­li­che Lebens­stil. Teil­weise dürfte der Häu­fig­keits­an­stieg auch mit einer zuneh­men­den Auf­merk­sam­keit der Krank­heit gegen­über zu erklä­ren sein. 

Unter­su­chun­gen zur kumu­la­ti­ven Inzi­denz der Neu­ro­der­mi­tis zei­gen fol­gen­des Bild: Sie lag bei Kin­dern im ers­ten Lebens­jahr in Geburts­ko­hor­ten­stu­dien aus Japan (2007) bezie­hungs­weise Däne­mark (2004) bei 13 Pro­zent bezie­hungs­weise 11,5 Pro­zent. In einer retro­spek­ti­ven Fra­ge­bo­gen­stu­die aus Schwe­den, die einige Jahre zuvor durch­ge­führt wurde, lag die kumu­la­tive Inzi­denz der Neu­ro­der­mi­tis bei 21 Pro­zent bis zum Schuleintritt. 

Zur welt­wei­ten Ein-Jah­res-Prä­va­lenz von Neu­ro­der­mi­tis bei Sechs- bis Sie­ben­jäh­ri­gen sowie bei 13- bis 14-jäh­ri­gen Schü­lern ste­hen Daten aus der Inter­na­tio­nal Study of Asthma and All­er­gies in Child­hood (ISAAC-Stu­die) zur Ver­fü­gung. Im Zuge des­sen wur­den mit Hilfe eines Fra­ge­bo­gens Daten von mehr als 700.000 Kin­dern aus 56 Län­dern in 155 Stu­di­en­zen­tren erho­ben. Ergeb­nis: Welt­weit gibt es erheb­li­che regio­nale Unter­schiede. So liegt die Ein-Jah­res-Prä­va­lenz bei den Sechs- bis Sie­ben­jäh­ri­gen zwi­schen zwei Pro­zent (Iran) und 16 Pro­zent (Japan, Schwe­den). Bei den 13- bis 14-Jäh­ri­gen berich­te­ten in Alba­nien ein Pro­zent, in Nige­ria 17 Pro­zent der Befrag­ten von Krank­heits­sym­pto­men im ver­gan­ge­nen Jahr. 

Je nach­dem, ob die Neu­ro­der­mi­tis akut oder chro­nisch ist, und auch in Abhän­gig­keit vom Lebens­al­ter sind die Haut­er­schei­nun­gen unter­schied­lich. Bis zum zwei­ten Lebens­jahr herr­schen meist Ekzeme im Gesicht, Kapil­li­tium und an den Streck­sei­ten der Extre­mi­tä­ten vor; spä­ter sind es oft Beu­ge­ek­zeme. Bei Erwach­se­nen kommt es – je nach­dem inwie­fern Tätig­kei­ten die Haut belas­ten – zu Hand­ek­ze­men oder zur soge­nann­ten Pru­rigo-Form mit stark jucken­den Knöt­chen oder Kno­ten. Der Erkran­kungs­ver­lauf selbst ist wech­sel­haft mit unter­schied­li­cher Dauer und Schwere; Rezi­dive sind häu­fig. „Jeder Pati­ent ist anders. Es gibt kein Patent­re­zept, jeder braucht indi­vi­du­elle Hilfe“, betont Univ. Prof. Wer­ner Abe­rer, Vor­stand der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Der­ma­to­lo­gie und Vene­ro­lo­gie in Graz. Allen Betrof­fe­nen gemein­sam ist die mas­sive Belas­tung, die sie unter­schied­lich bewäl­ti­gen. „Der eine kommt mit einer The­ra­pie­form gut zurecht, beim Ande­ren zeigt sich keine Bes­se­rung“, führt der Experte wei­ter aus. „Die Pati­en­ten sind ver­zwei­felt. Oft wür­den sie auch psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung benö­ti­gen“, berich­tet Abe­rer aus dem Alltag. 

Vor­ran­gig müs­sen die Trig­ger für den Krank­heits­schub ermit­telt wer­den, was sich oft als nicht ganz ein­fach erweist. Dabei müs­sen all­fäl­lige psy­cho­so­ma­ti­sche, ernäh­rungs­be­dingte oder durch andere Umge­bungs­fak­to­ren bedingte Aus­lö­ser ermit­telt wer­den. Ein Trig­ger sind Nah­rungs­mit­tel­all­er­gien; viele Betrof­fe­nen wei­sen aber auch Sofort­re­ak­tio­nen auf von Kon­takt- Urti­ka­ria bis hin zur Ana­phy­la­xie. Ebenso kön­nen auch Öso­pha­gi­tis, Ente­ro­ko­li­tis und Prok­ti­tis ver­ge­sell­schaf­tet sein. Wich­tige Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen sind das all­er­gi­sche Kon­takt­ek­zem, das irri­ta­tiv-toxi­sche Kon­takt­ek­zem, das mikro­bielle Ekzem sowie bei Erwach­se­nen das Ekzem­sta­dium des kuta­nen T‑Zell-Lym­phoms. 

Für die Doku­men­ta­tion der Aus­deh­nung und des Schwe­re­gra­des wer­den soge­nannte „objek­tive“ Haut­scores her­an­ge­zo­gen. Emp­foh­lene vali­dierte Haut­scores sind der SCORAD (SCORing Ato­pic Der­ma­ti­tis)- Index, der die Inten­si­tät der Haut­ver­än­de­run­gen und das Aus­maß, aber auch sub­jek­tive Para­me­ter wie Schlaf­lo­sig­keit und Juck­reiz mit­ein­be­zieht. Ebenso für die Bewer­tung her­an­ge­zo­gen wird der EASI (Eczema Area and Seve­rity Index). 

Die Behand­lung setzt sich aus einer Viel­zahl von The­ra­pie­for­men zusam­men, die indi­vi­du­ell auf den Pati­en­ten abge­stimmt wer­den. Neben der Reduk­tion bezie­hungs­weise Ver­mei­dung der indi­vi­du­el­len Pro­vo­ka­ti­ons­fak­to­ren ist eine der kli­ni­schen Aus­prä­gung ent­spre­chende Sym­ptom-ori­en­tierte Basis­the­ra­pie sowie eine anti­in­flamm­a­to­ri­sche The­ra­pie erfor­der­lich. Dabei kom­men bei­spiels­weise topi­sche Glu­ko­kor­ti­kos­te­ro­ide ebenso wie topi­sche Cal­ci­neur­in­ant­ago­nis­ten zum Ein­satz; Anti­pru­ri­gi­nosa, Anti­hist­ami­nika, Cro­mo­gly­cin­säure, Keto­ti­fen, orale Glu­ko­kor­ti­kos­te­ro­ide und Biologika. 

Ebenso ist – auch in juck­reiz­freien Zei­ten – die kon­se­quente Pflege mit rück­fet­ten­den Prä­pa­ra­ten die Basis­the­ra­pie. Die Faust­re­gel dafür lau­tet: Feucht auf feucht, fett auf tro­cken (Details siehe Kasten). 

Psy­chi­sche Belas­tung enorm 

Auch wenn es sich oft nur um gering­fü­gig aus­ge­prägte Erschei­nungs­for­men han­delt, sind oft schwere Beein­träch­ti­gun­gen und psy­chi­sche Belas­tun­gen die Folge; auch der Schlaf ist beein­träch­tigt. „Die mehr­ma­lige regu­läre Abfolge ver­schie­de­ner Schlaf­sta­dien im Lauf der Nacht ist gestört. Das beginnt bereits bei der Schlaf­la­tenz und geht unter Umstän­den die ganze Nacht wei­ter“, erklärt Univ. Prof. Rein­hold Kerbl von der Abtei­lung für Kin­der und Jugend­li­che am LKH Hoch­stei­er­mark Leo­ben. „Juck­reiz-Atta­cken zwin­gen gera­dezu zum Krat­zen und füh­ren zu häu­fi­gem Auf­wa­chen“, so Kerbl wei­ter. Mög­li­cher­weise sei aber nicht der Juck­reiz allein schuld an den Schlaf­pro­ble­men; auch die Direkt­wir­kung von ver­schie­de­nen Media­to­ren könnte eine Rolle spie­len. Der Schlaf­man­gel kann gra­vie­rende Kon­se­quen­zen haben: häu­fige Müdig­keit, Gereizt­heit und Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten kön­nen die Folge sein. Pati­en­ten, die an Neu­ro­der­mi­tis lei­den, haben auch ein höhe­res Risiko für Para­s­om­nie. In man­chen Fäl­len kann die Schlaf­pro­ble­ma­tik auch kör­per­li­che Beschwer­den wie bei­spiels­weise Magen-Darm-Pro­bleme her­vor­ru­fen, für ADHS mit­ver­ant­wort­lich sein oder Beein­träch­ti­gun­gen im hor­mo­nel­len Sys­tem aus­lö­sen. So kön­nen sich zum Bei­spiel mas­sive Schlaf­stö­run­gen bei Kin­dern auf die Sekre­tion von Wachs­tums­hor­mo­nen aus­wir­ken und damit auch Wachs­tums­stö­run­gen bewirken. 

Über ein erhöh­tes Risiko für Kin­der mit Neu­ro­der­mi­tis, ADHS zu ent­wi­ckeln, wurde erst­mals 2009 nach einer Quer­schnitts­un­ter­su­chung an einem deut­schen Kol­lek­tiv berich­tet. In fünf Fol­ge­stu­dien wurde diese Beob­ach­tung mitt­ler­weile bestä­tigt. Der Ein­fluss einer bestehen­den Neu­ro­der­mi­tis auf ver­schie­dene men­tale Kom­or­bi­di­tä­ten wurde in einer aktu­el­len nord­ame­ri­ka­ni­schen Quer­schnitts­un­ter­su­chung an mehr als 92.000 Kin­dern und Jugend­li­chen unter­sucht. Es zeigte sich ein um 87 Pro­zent signi­fi­kant erhöh­tes Risiko für ADHS bei Neu­ro­der­mi­tis. Das Risiko für Depres­sio­nen war um 81 Pro­zent, für Ängst­lich­keit um 77 Pro­zent, für Ver­hal­tens­stö­run­gen um 87 Pro­zent sowie für Autis­mus um 304 Pro­zent erhöht. 

Effekt von Einzelschulungen 

Unter­sucht wurde auch der Effekt von Neu­ro­der­mi­tis-Ein­zel­schu­lun­gen von Eltern mit betrof­fe­nen Kin­dern zwi­schen vier Mona­ten und sechs Jah­ren durch eine Kran­ken­schwes­ter zusätz­lich zur Behand­lung durch einen Der­ma­to­lo­gen im Ver­gleich zu einer aus­schließ­li­chen Behand­lung durch einen Der­ma­to­lo­gen. Ergeb­nis: Bei den geschul­ten Eltern ver­rin­ger­ten sich die Haut­scores von 26,4 auf 7,1 vs. 21,3 auf 10,8 Punkte bei den kon­ven­tio­nell behan­del­ten Kin­dern. Für Kin­der zwi­schen drei und sechs Jah­ren wie­derum erfolgte im ambu­lan­ten Set­ting am Tag null und 14 eine zehn­mi­nü­tige Haut­pfle­ge­schu­lung anhand eines spe­zi­ell ent­wi­ckel­ten anschau­li­chen Hand­mo­dells. Die Kon­troll­gruppe wurde aus­schließ­lich ver­bal bera­ten. Fazit: Nach 42 Tagen wie­sen die Teil­neh­mer der Gruppe, die anhand des Haut­mo­dells geschult wor­den waren, einen signi­fi­kant gerin­ge­ren SCORAD auf als die Kontrollgruppe. 

Ato­pi­sche Der­ma­ti­tis: Die Details

Die ato­pi­sche Der­ma­ti­tis (Neu­ro­der­mi­tis) ist eine Blick­dia­gnose: Die Pati­en­ten haben aus­ge­dehnte Ekzeme und kla­gen über quä­lende Juck­reiz-Atta­cken, wobei unter­schied­li­che Haut­areale ver­schie­den stark betrof­fen sein kön­nen. Die Haut ist extrem tro­cken und weist eine aus­ge­prägte Emp­find­lich­keit gegen­über Umwelt­ein­flüs­sen auf. Bei vie­len Betrof­fe­nen kommt es dar­über hin­aus nach All­er­gen- Expo­si­tion wie bei­spiels­weise mit Pol­len, Mil­ben oder Tier­haa­ren zu Schü­ben. Auch bestimmte Nah­rungs­mit­tel wie Zitrus­früchte oder große Men­gen Scho­ko­lade kön­nen die Ent­zün­dungs­re­ak­tion verstärken. 

Ein signi­fi­kan­ter Anteil der Betrof­fe­nen – je nach Stu­die zwi­schen 50 bis 80 Pro­zent – weist IgE-ver­mit­telte Sen­si­bi­li­sie­run­gen gegen Aero-All­er­gene und/​oder Nah­rungs­mit­tel­all­er­gene auf (extrin­si­sche Form der Neu­ro­der­mi­tis). Dane­ben gibt es die soge­nannte intrin­si­sche Form der Neu­ro­der­mi­tis, bei der keine ent­spre­chende Sen­si­bi­li­sie­rung nach­ge­wie­sen wer­den kann. Ebenso wird über eine dritte Form der Erkran­kung – mit Zügen einer Auto­im­mun­krank­heit – diskutiert. 

Die Neu­ro­der­mi­tis selbst kann unter­schied­li­che Schwe­re­grade auf­wei­sen; die Mehr­heit der Betrof­fe­nen lei­det unter einer leich­te­ren Form. Aller­dings kann es sich auf­grund von Loka­li­sa­tion und Aus­deh­nung auch um eine schwere Haut­er­kran­kung han­deln, wodurch die Lebens­qua­li­tät beein­träch­tigt ist ebenso wie schu­li­sche Leis­tun­gen oder die Arbeits­leis­tung. Außer­dem kann es zu Schwie­rig­kei­ten im sozia­len Umfeld sowie zu Depres­sio­nen kommen. 

Häu­fige Kom­pli­ka­tio­nen sind Infek­tio­nen wie dis­se­mi­nierte Impe­ti­gi­ni­sa­tion durch Sta­phy­lo­coc­cus aureus, virale Infek­tio­nen oder Mykosen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 12 /​25.06.2018