Stress durch Absetzen

25.04.2018 | Medizin


Vor allem nach einer Therapie mit trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva kommt es zu Absetzsymptomen. Dabei könnte es sich um eine Art „Stress response“ des Hippocampus handeln. Wichtig ist, den Betroffenen zu vermitteln, dass es sich bei diesen Absetzphänomenen nicht um Entzugserscheinungen handelt.

Auch wenn Antidepressiva nur für 14 Tage eingenommen wurden, muss beim Absetzen mit einer entsprechenden körperlichen Entzugssymptomatik gerechnet werden“, macht Univ. Prof. Siegfried Kasper, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien aufmerksam. Am häufigsten klagen die Betroffenen über Schwindel und gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall; aber auch Parästhesien sind möglich. „Die Betroffenen vergleichen die Schmerzen mit Seitenhieben“, berichtet Kasper aus der Praxis. Auch kommt es beim Absetzen häufig zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen bis hin zu Angst, Irritabilität und Agitation. Auch Manien wurden beobachtet – zwar selten, aber doch.

Diese Absetzphänomene treten überwiegend bei trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva auf. „Nahezu jeder Patient ist davon betroffen“, weiß Kasper. Ursache ist die starke anti-cholinerge Komponente des Wirkstoffs. Diese Medikamente der älteren Generation sollten unter anderem deswegen grundsätzlich nur „zweite oder dritte Wahl“ bei der Therapie darstellen. Allerdings sei auch bei einigen SSRIs und SNRIs der neueren Generation mit Absetzsymptomen zu rechnen – obwohl sie nicht über das cholinerge Nervensystem wirken. Bei Agomelatin sowie moderneren Medikamenten wie Escitalopram oder Vortioxetin wurden derartige Phänomene nach dem Absetzen noch nicht beobachtet.

Rund 70 Prozent der Patienten, die mit Venlafaxin behandelt werden und 50 Prozent aller Patienten, die mit Paroxetin behandelt werden, sind den Aussagen von Kasper zufolge davon betroffen. Vermutlich spielen bei diesen Substanzen der noradrenerge Stoffwechsel sowie die kurzen Halbwertszeiten eine Rolle. „Für diese Hypothese spricht, dass bei Fluoxetin, das eine sehr lange Halbwertszeit von bis zu zwei Wochen hat, solche Absetzsymptome wesentlich seltener auftreten“, sagt Assoz. Prof. Alex Hofer vom Department für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Medizinischen Universität Innsbruck. Derzeit wird noch diskutiert, ob das plötzliche Absinken der Serotonin-Verfügbarkeit im Gehirn wegen der Beendigung der Therapie eine Rolle spielt. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass die Verfügbarkeit des NMDA-Rezeptors im Hippocampus massiv erhöht ist und die Absetzsymptome eine Art „Stress response“ darstellen könnten.

Regelmäßige Kontrolltermine

Absetzerscheinungen treten in der Regel im Zeitraum von einem bis zu zehn Tagen auf – je nach der Halbwertszeit der Substanz. Dementsprechend können sie sich aber auch erst nach einem Monat bemerkbar machen. „Für diesen Zeitraum sollte der behandelnde Arzt regelmäßig Kontrolltermine vereinbaren“, rät Hofer. Klagt der Patient über diesen Zeitraum hinaus über die ursprünglichen Beschwerden, „ist vermutlich ein Rückfall in die Depression naheliegend“, führt Hofer weiter aus.

Um das Risiko von Absetzsymptomen zu minimieren, sollten Antidepressiva – besonders jene mit kurzer Halbwertszeit – nicht abrupt abgesetzt, sondern sehr langsam ausgeschlichen werden. So kann die Dosis beispielsweise jede Woche halbiert werden. Für diese Umstellungsphase sollten laut Kasper mindestens drei Wochen eingeplant werden; Hofer spricht sogar von sechs bis acht Wochen. Kommt es dennoch zu Absetzsymptomen, „muss die Dosis eventuell noch einmal vorübergehend erhöht und dann langsamer reduziert werden“, betont Hofer.

Verträgt der Patient das Antidepressivum nicht und es muss rasch abgesetzt werden, raten die Experten zur Kombinationstherapie: Über einige Wochen hinweg wird das bis dahin verordnete Medikament zusammen mit der neuen Substanz verabreicht, bis dessen antidepressive Wirksamkeit einsetzt. Dann wird das ursprünglich verordnete Antidepressivum langsam ausgeschlichen. Falls notwendig können kurzfristig – speziell bei Schlafstörungen – auch Benzodiazepine verordnet oder aber eine Verhaltenstherapie nahegelegt werden, die helfen soll, Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Die beim Absetzen von Antidepressiva auftretenden Symptome sind „zum Teil nur schwer von den Symptomen einen Depression abzugrenzen“, unterstreicht Kasper. Deswegen sei es ganz wichtig, den Betroffenen darüber auch aufzuklären. Hofer dazu: „Weiß der Patient Bescheid, woher die Symptome kommen, kann er damit auch ganz anders umgehen.“

Die größte Sorge, die Menschen mit Absetzsymptomen haben: Bin ich jetzt süchtig? Den Aussagen der Experten zufolge ist es demnach ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass Absetzphänomene keine Entzugserscheinungen sind. Bei Entzugserscheinungen in Verbindung mit Alkohol, Drogen oder Benzodiazepinen spielten jedoch ganz andere Mechanismen eine Rolle, betont Kasper. MW

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2018