Akute Psychosen: Ermessenssache Betreuung

15.12.2018 | Medizin


Bei Verdacht auf eine akute Psychose können die ersten Schritte in jedem Fall vom Allgemeinmediziner eingeleitet werden, sofern er den Betroffenen gut kennt. Geht es um die konkrete Einschätzung der Selbst- oder Fremdgefährdung, ist die Überweisung an den Facharzt sinnvoll.
Laura Scherber

Primär akute Psychosen werden durch psychiatrische Erkrankungen hervorgerufen, wie zum Beispiel durch eine Erkrankung des Schizophrenie-Spektrums oder durch eine Depression oder Manie mit psychotischen Symptomen“, erklärt Assoz. Prof. Alex Hofer von der Universitätsklinik für Psychiatrie I Innsbruck. Sekundäre akute Psychosen hingegen können organisch oder toxisch bedingt sein, im Rahmen einer Demenz auftreten, somatische Ursachen haben oder durch Drogen oder Medikamente
induziert sein.

Zu den charakteristischen Symptomen, die bei einer akuten Psychose auftreten können, gehören vor allem Wahnvorstellungen, Halluzinationen, die auf allen Sinnesebenen auftreten können, eine desorganisierte Sprechweise sowie ein desorganisiertes Verhalten. Weitere mit dem Zustand des Deliriums assoziierte Symptome umfassen psychomotorische Unruhe und das damit verbundene „charakteristische Nesteln, formale Denkstörungen, Gedankenkreisen, Gedankenabreißen, Ich-Störungen, charakterisiert dadurch, dass man sich selbst fremd fühlt oder die Umgebung als fremd wahrnimmt“, führt Hofer weiter aus. Ein wesentlicher Faktor, der zu deutlichen Schwierigkeiten im Rahmen einer akuten Psychose führt, sind die kognitiven Beeinträchtigungen in Form einer veränderten Aufmerksamkeit, einer verminderten Konzentrationsfähigkeit sowie vermehrt auftretender Gedächtnisstörungen.

Standardisiertes Vorgehen

Handelt es sich bei einer akuten Psychose um eine Erstmanifestation, ist eine umfangreiche internistische und neurologische Untersuchung des Patienten indiziert, da insbesondere einer sekundären Psychose viele verschiedene Ursachen zugrunde liegen können. „Neurologische Ursachen können unter anderem demyelinisierende Erkrankungen wie eine Multiple Sklerose oder Erkrankungen der Basalganglien wie eine Chorea Huntington sein. Ebenso auch internistische Ursachen wie Speicherkrankheiten wie beispielsweise Niemann-Pick Typ C oder infektiöse Erkrankungen wie HIV oder Herpes simplex“, erläutert Hofer. Die standardisierte Vorgangsweise umfasst ein vollständiges Blutbild, die Bestimmung der Leber- und Nierenfunktionsparameter, der Elektrolyte, der Glucose (Ausschluss einer Hyper- oder Hypoglykämie), der antinukleären Antikörper (unter anderem Ausschluss eines systemischen Lupus erythematodes) sowie die Beurteilung des Harnstatus inklusive Drogenscreening, um eine sekundäre Psychose im Rahmen eines Drogenkonsums auszuschließen. Zusätzlich zur Standardabklärung sind weitere Untersuchungen im Rahmen der Diagnostik empfehlenswert, darunter die Bestimmung der Schilddrüsenfunktion, des Vitaminstatus und des Coeruloplasmins (Ausschluss eines Morbus Wilson) sowie die Durchführung eines HIV-Tests und der Lues-Diagnostik, da sich Geschlechtskrankheiten bei zerebraler Beteiligung in Form einer akuten Psychose manifestieren können. Neben der bildgebenden Diagnostik (in der Regel Magnetresonanztomographie) kann bei klinischer Indikation eine Elektroenzephalographie für den Ausschluss einer Epilepsie angeordnet werden, eine Lumbalpunktion für den Ausschluss von Infektionen, die Bestimmung des Medikamentenplasmaspiegels beim Verdacht auf erhöhte Konzentrationen oder genetische Testungen – zum Beispiel zur Abklärung eines Niemann-Pick Typ C. Laut Hofer handelt es sich bei dieser Vorgangsweise um eine Ausschlussdiagnose. Wenn alle Untersuchungen einer sekundären Psychose negativ sind und der Patient produktiv-psychotisch ist, kann vom Vorliegen einer primären Psychose ausgegangen werden.

Für die weitere Abklärung ist zu prüfen, welche diagnostischen Kriterien für welche psychiatrische Erkrankung erfüllt sind. „Die ausführliche Abklärung einer sekundären Psychose ist von großer Bedeutung, da die Diagnose einer primären Psychose immer noch mit einer starken gesellschaftlichen Stigmatisierung einhergeht“, betont Hofer. Gleichzeitig ist eine fundierte Diagnosestellung auch prognostisch relevant, da bei primären und sekundären Psychosen mit unterschiedlichen Behandlungsempfehlungen und unterschiedlichen Heilungschancen zu rechnen ist. Während es sich bei einer Drogen-induzierten Psychose im Wesentlichen um eine Suchttherapie handelt und kurzfristig pharmakologisch interveniert werden muss, ist bei einer Erkrankung des schizophrenen Spektrums von einer ganz anderen Dauer der Antipsychotikagabe auszugehen.

Handlungsempfehlungen

Hat der Allgemeinmediziner bei einem Patienten den Verdacht, dass eine akute
Psychose vorliegt, können je nach aktuellem Zustand weitere Schritte eingeleitet werden. „Besonders wenn man den Patienten noch nicht gut kennt, sollte auch eine Fremdanamnese mit einbezogen werden und eine Überweisung in den Bereich der Psychiatrie erfolgen“, betont Priv. Doz. Eva Reininghaus von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Graz. Im Gespräch mit dem Patienten – und wenn möglich auch mit seinen Angehörigen – kann herausgefunden werden, inwiefern die akute Psychose zum ersten Mal auftritt oder der Patient bereits länger unter einer zugrunde liegenden Erkrankung leidet und mit den Symptomen der akuten Psychose umgehen kann. Laut Reininghaus kann der Allgemeinmediziner dem Patienten ein Neuroleptikum beziehungsweise wenn nötig auch ein Benzodiazepin verschreiben und nach wenigen Tagen einen Kontrolltermin vereinbaren, sofern er den Patienten ausreichend kennt und einschätzen kann. Ebenso sollte der Allgemeinmediziner beurteilen, ob eine Selbst- oder Fremdgefährdung besteht und der Patient in ein familiäres Umfeld eingebunden ist, das ihn, im Fall einer Zustandsverschlechterung, verlässlich in eine psychiatrische Einrichtung bringen würde. „Nicht immer, wenn ein Patient psychotisch ist, bedeutet das gleich, dass auch eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Aber wenn der Realitätsbezug stark aufgehoben ist, kann in jedem Fall ein Gefährdungspotential gegeben sein“, betont die Expertin. Nicht immer nur suizidale Gedanken, sondern auch Gefahrenmomente im Straßenverkehr durch eine stark herabgesetzte Konzentration können die Beurteilung eines Patienten als „selbstgefährdend“ rechtfertigen. In vielen Fällen ist jedoch letztlich die Beurteilung durch einen Facharzt für Psychiatrie erforderlich, ob der Betroffene selbst- oder fremdgefährdend ist – speziell dann, wenn der Allgemeinmediziner den Patienten nicht gut kennt.

Abklärung in der Praxis

Laut Hofer kann der Allgemeinmediziner vieles, was für die Abklärung erforderlich ist, in der Praxis durchführen: Blutbild, Zuweisung zur Bildgebung, Überweisung zum Psychiater bis hin zum Beginn der antipsychotischen Behandlung. „Hier sollten speziell moderne Antipsychotika zum Einsatz kommen, da klassische Antipsychotika besonders bei jungen Menschen, die noch nie behandelt wurden, mit einer großen Gefahr für extrapyramidale Nebenwirkungen assoziiert sind.“ Eine niedrige Dosierung reicht bei Erstmanifestationen aus, da die Betroffenen erfahrungsgemäß sehr gut auf Antipsychotika ansprechen, aber auch viel sensibler auf Nebenwirkungen reagieren im Vergleich zu Mehrfacherkrankten. Besonders bei der antipsychotischen Behandlung ist es wichtig, dass eine Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient besteht, damit die Therapieadhärenz, insbesondere für die Einnahme der Antipsychotika, gewährleistet wird. Hier hat der Allgemeinmediziner in jedem Fall eine besondere Stellung und eine besondere Vertrauensbasis zum Betroffenen. „Das häufigste Problem ist, dass viele Betroffene keine Krankheitseinsicht haben“, weiß Reininghaus aus der Praxis. Negieren der Erkrankung bis hin zur Wahrnehmung des Arztes als Bedrohung sind mögliche Folgen, die der Behandlung im Weg stehen und die durch das Vertrauen des Patienten in den Arzt in den meisten Fällen überwunden werden können. Die Psychoedukation ist laut Reininghaus ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Indem sich die Betroffenen mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen, wird ihnen vermittelt, wie sie prodromale Symptome wie zum Beispiel Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder das Gefühl des Unwohlseins, frühzeitig erkennen und mit kleinen Interventionen darauf reagieren können, um einem schweren Verlauf der akuten Psychose oder der Notwendigkeit einer Einweisung vorzubeugen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2018