Kommentar: Reise nach Timbuktu

10.06.2018 | Aktuelles aus der ÖÄK


Von Michael Heinrich*

Als an einem Winterabend dieses Jahres ein 17-jähriger Bursch zu seiner Mutter kam und sie bat, sich seinen etwas geschwollenen und leicht schmerzenden Ellenbogen anzusehen, geschah Folgendes: Die Mutter, Allgemeinmedizinerin am Land, völlig überarbeitet, gestresst, nach einem langen Tag in der Ordination plus Hausbesuchen, kennt ihren „Patienten“ seit 17 Jahren und schließt binnen Sekunden jede unmittelbare Lebensgefahr aus. Sie empfiehlt ihrem Sohn als Erstmaßnahme eine Reise nach Timbuktu oder den Anruf bei der Hotline 14irgendwas. Beide Empfehlungen werden von einem erschöpften, aber doch verschmitzten Lächeln der Mutter begleitet.

Der Junior tut, wie ihm geheißen, wählt 14irgendwas und wird nach vier Minuten des völlig korrekten Abarbeitens der Eingangsfragen an einen „Health Care Professional“ weitervermittelt. Dieser benötigt weitere sieben Minuten, um sich mit dem ebenfalls korrekten Fragebogen zum Kern des Problems – sie erinnern sich, der Ellenbogen – vorzuarbeiten. Nach insgesamt 14 langen Minuten wird dem jungen Mann geraten, am nächsten Tag einen Arzt aufzusuchen. Se non è vero, è ben trovato.

Damit nun kein Irrtum entsteht: Die Telefon-Hotlines sind wichtig, hilfreich und haben viele Arzt- und Ambulanzbesuche begründet, aber auch überflüssige verhindert. Ein wirksamer Filter, um das Wichtige vom Dringenden zu unterscheiden. Dass aber jene Mutter, die ihren „Patienten“ gut kennt, binnen Sekundenbruchteilen (vs. 14 Minuten) entscheiden konnte, ob ärztliche Hilfe nötig wäre, ist leicht erklärbar: Wenn zwei nur miteinander telefonieren, reden miteinander zwei Blinde, die noch dazu auf einem Ohr taub sind.

160 Stunden pro Woche lesen

In der schönen neuen Welt wird sich das wohl ändern: dank hochauflösender Handykameras, super Übertragungsgeschwindigkeiten, der Mithilfe freundlicher und einfühlsamer künstlicher Intelligenzen (KI) sowie einer einigermaßen schlauen ELGA. Kein Arzt kann 160 Stunden pro Woche klinische Studien lesen und interpretieren. Das wäre aber z.B. in der Onkologie der notwendige Aufwand, um immer am neuesten Stand der Wissenschaft zu bleiben. Die Maschine schafft das ganz locker und kann dazu jede Menge Metaanalysen und Querverweise „lernen“.

Einfühlsam können Maschinen auch sein, weil schon heutige Computer Mikroexpressionen bzw. Mikromimik besser interpretieren können als jeder Mensch. Wenn wir dann noch einige zusätzliche Sensoren eingebaut haben (mit unseren Vitalparametern werden wir sowieso ständig online sein), kann sich auch eine KI schnell ein Bild machen.

KI und Katzen

Angeblich misst man heute die Lernfähigkeit einer KI über die Fähigkeit, Katzen zu erkennen. Es scheint für eine KI sehr schwierig zu sein, selbst nach Millionen von Katzenbildern und allem gespeicherten Wissen über Katzen, jede Katze zuverlässig zu erkennen. Die Aussage einer KI zu einem abstrakten Bild „das ist zu 99 Prozent eine Katze“, wirft bedeutende Fragen auf: Offenbar interpretieren Menschen „zu 99 Prozent sicher“ völlig anders als eine KI. In unserer Wahrnehmung ist „zu 99 Prozent sicher“ sehr, sehr sicher. In der Welt der Algorithmen kann zu 99 Prozent sicher immerhin 100 Prozent falsch sein.

Bis es also so weit ist, müssen vor allem Ärztinnen und Ärzte dafür sorgen, dass nicht nur unkontrollierter Wettbewerb und ökonomische Interessen die Medizin der Zukunft steuern, sondern Regeln nach menschlichem Maß. Alles was geht, wird auch irgendwann gemacht. Wir müssen entscheiden, ob eine Medizin, die für Astronauten gut ist, auch im Innviertel funktioniert.

Wenn Sie tiefer in die digitale Welt eintauchen wollen, empfehle ich als Urlaubslektüre Frank Schätzings jüngstes Buch „Die Tyrannei des Schmetterlings“. Ein spannender Thriller über KI, glänzend geschrieben und recherchiert. Und kommen Sie im Herbst zu unserer Veranstaltung „RoboDoc – der bessere Arzt?“.

*) Michael Heinrich ist Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der ÖÄK

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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2018