Inter­view Johan­nes Stein­hart: „Kas­sen­re­form darf das Sys­tem nicht ruinieren“

10.05.2018 | Aktuelles aus der ÖÄK


Die Öster­rei­chi­sche Ärz­te­kam­mer hat nichts gegen eine Wei­ter­ent­wick­lung der Sozi­al­ver­si­che­rung. Aber die Pläne der Bun­des­re­gie­rung dür­fen auch nicht das soli­da­ri­sche Sys­tem zer­schla­gen, sagte jetzt ÖÄK-Vize­prä­si­dent und Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte, Johan­nes Stein­hart, in einem Inter­view mit der ÖÄZ.
Wolf­gang Wagner


Die Bun­des­re­gie­rung hat ange­kün­digt, die Zahl der Kran­ken­kas­sen wahr­schein­lich auf fünf zu redu­zie­ren. Zusätz­lich wurde eine Dis­kus­sion über die Zukunft der AUVA los­ge­tre­ten. Wie ist die grund­sätz­li­che Posi­tion der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer dazu?
„Wir Ärzte stel­len uns einer sinn­vol­len Reform nicht ent­ge­gen. Es gibt in der Sozial- und in der Kran­ken­ver­si­che­rung sicher­lich orga­ni­sa­to­risch und womög­lich auch struk­tu­rell mitt­ler­weile einen Wei­ter­ent­wick­lungs­be­darf. Da fan­den in den ver­gan­ge­nen Jah­ren kaum Anpas­sun­gen statt.“ 

Was sind Eck­punkte, auf denen die Ärz­te­schaft beharrt? „Zunächst ein­mal muss das Prin­zip eines soli­da­risch finan­zier­ten Gesund­heits­we­sens erhal­ten blei­ben. Wir wis­sen alle ganz genau, wie allen­falls pri­vat zu finan­zie­rende medi­zi­ni­sche Leis­tun­gen jeden von uns schnell über­for­dern wür­den. Wir brau­chen wei­ter­hin ein soli­da­risch finan­zier­tes Gesund­heits­sys­tem mit glei­chem Zugang für die Ver­si­cher­ten zu den Leistungen.“ 

Die­ses Prin­zip wird wohl offi­zi­ell kaum bestrit­ten wer­den. Was lei­tet sich dar­aus ab? „Vom Grund­satz des soli­da­risch finan­zier­ten und somit auch soli­da­risch für alle ver­füg­ba­ren Gesund­heits­we­sens las­sen sich alle ande­ren Werte – zum Bei­spiel die wohn­ort­nahe Ver­sor­gung nach den regio­na­len Bedürf­nis­sen – ablei­ten. Dafür benö­tigt man aber auch die Grund­vor­aus­set­zun­gen.“

Wel­che die­ser Vor­aus­set­zun­gen sind die wich­tigs­ten?
„Das sind gene­rell die Bud­get- und die Bei­trags­ho­heit der regio­na­len Kas­sen, die Ver­trags­ho­heit der Tarif­part­ner bei ihren Hono­rar­ver­hand­lun­gen, also zwi­schen der regio­na­len Kran­ken­kasse und der Lan­des­ärz­te­kam­mer und schließ­lich die Pla­nungs­ho­heit, die auch den Stel­len­plan für Ver­trags­ärzte umfasst.“

Pla­nungs­ho­heit und der Stel­len­plan für die Kas­sen­ärzte sind wohl in der regio­na­len Ver­sor­gung am wich­tigs­ten …
„In den Bun­des­län­dern brau­chen wir wei­ter­hin die Mög­lich­keit, die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung nach den regio­na­len Bedin­gun­gen zu opti­mie­ren. Dabei sind die wich­tigs­ten Stell­schrau­ben die Kas­sen­ver­hand­lun­gen und somit die Ver­trags­ho­heit der Ärz­te­kam­mern der Bun­des­län­dern und der jewei­li­gen Gebiets­kran­ken­kasse auf Bundesländerebene.“ 

Ließe sich das nicht auch zen­tral regeln? „Da muss man sagen, dass Zen­tra­lis­mus bzw. eine Zen­tra­li­sie­rung der Kran­ken­kas­sen per se noch keine Pro­bleme löst. Es ist völ­lig rich­tig, wenn jetzt auf Bun­des­län­der­ebene fest­ge­stellt wird, dass man von Wien aus allein keine lokal an die Bedürf­nisse opti­mal ange­passte Ver­sor­gung in einer bestimm­ten Region irgendwo in Öster­reich orga­ni­sie­ren kön­nen wird.“

Hängt das aus­schließ­lich von der Exper­tise der regio­na­len Part­ner, zum Bei­spiel der jewei­li­gen Gebiets­kran­ken­kasse und der jewei­li­gen Lan­des­ärz­te­kam­mer ab?
„Ja, des­halb wird ja auch die Bud­get­ho­heit für die Gebiets­kran­ken­kasse auf Bun­des­län­der­ebene gefor­dert. Tritt das nicht ein, hat die ‚Zen­trale‘ schon wesent­lich mehr Mög­lich­kei­ten für Eingriffe.“ 

Wie sieht es in die­sem Zusam­men­hang mit der Bei­trags­ho­heit aus? „Bei der Bei­trags­ho­heit ver­hält es sich ähn­lich. Der Umstand, dass die Kas­sen die Bei­träge ein­he­ben, schützt für dem poli­ti­schen Direkt­ein­griff in das Sys­tem. Würde man die Ein­he­bung der Bei­träge bei­spiels­weise zu staat­li­chen Stel­len ver­la­gern, wäre das eine klas­si­sche Mög­lich­keit, Macht aus­zu­üben und über­dies ein tota­ler Sys­tem­wech­sel. Bei sol­chen Din­gen besteht immer die Gefahr, dass sehr schnell von außen über das Geld gesteu­ert wird. Dabei wür­den wir ja auch jetzt schon durch­aus mehr Poli­tik-Unab­hän­gig­keit bei den Kran­ken­kas­sen benötigen.“ 

In der Dis­kus­sion wird für die Zusam­men­füh­rung der neun Lan­des-Gebiets­kran­ken­kas­sen in eine Öster­rei­chi­sche Gebiets­kran­ken­kasse und für die weit­ge­hende Gleich­schal­tung als Argu­ment ange­führt, dass es ja seit jeher auch bun­des­weit agie­rende Kran­ken­kas­sen gibt. „Das Argu­ment, dass man mit den bun­des­wei­ten Kran­ken­kas­sen schon jetzt bun­des­weite Ver­träge abschließt, zieht nur sehr bedingt. Da han­delt es sich da ja um Kran­ken­kas­sen für bestimmte Grup­pen von Ver­si­cher­ten und nicht um eine all­ge­meine Ver­sor­gung der Gesamt­be­völ­ke­rung handelt.“ 

Was spricht dage­gen für das Bei­be­hal­ten der Hono­rar­ver­hand­lun­gen und Ver­trags­ab­schlüsse zwi­schen den Kran­ken­kas­sen und den Ärz­te­kam­mern auf Bun­des­län­der­ebene? „Die Hono­rar­ho­heit ist wich­tig, weil das genau das Mit­tel ist, um die Ver­sor­gung und das Funk­tio­nie­ren des Sys­tems der ärzt­li­chen Ver­sor­gung auf regio­na­ler Ebene zu opti­mie­ren. Das hängt natür­lich auch an den Ver­trags- und Tarif­be­din­gun­gen.“

Was gehört noch dazu?
„Ent­schei­dend ist natür­lich auch die Mög­lich­keit, den Kas­sen-Stel­len­plan jeweils auf Bun­des­län­der­ebene zu ver­han­deln, an die regio­na­len Bedürf­nisse anzu­pas­sen. Da geht es um die Fein­jus­tie­rung. Die kann per Zen­tra­lis­mus nicht erfol­gen.“

Wie sieht das im Zusam­men­hang mit den Plä­nen für die Errich­tung der Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten in Öster­reich aus?
„Da benö­tigt man erst recht eine opti­male Adjus­tie­rung an die Bedürf­nisse der Men­schen, an die regio­na­len Erfor­der­nisse. Es gibt zwar den Öster­rei­chi­schen Struk­tur­plan Gesund­heit (ÖSG; Anm.). Aber im Ein­zel­nen muss die Ver­sor­gung auf loka­ler Ebene funk­tio­nie­ren – wie auch die Ver­tei­lung der Kas­sen­arzt­stel­len mit Ein­zel- und Grup­pen­pra­xen sowie den PVEs und PV-Netz­wer­ken. Wir mer­ken jetzt schon bei den Ver­hand­lun­gen über einen Gesamt­ver­trag für die Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten­und Netz­werke wie unter­schied­lich die Bedin­gun­gen von Fall zu Fall sein wer­den, wie unter­schied­lich das Leis­tungs­an­ge­bot und wie unter­schied­lich die Aus­ge­stal­tung der Ver­träge sein wird müssen.“ 

Haben Sie das Gefühl, dass die Poli­tik diese Kom­ple­xi­tät in ihre Reform­über­le­gun­gen ein­be­zieht? „Ich habe den Ein­druck, die Regie­rung denkt vor allem in Struk­tu­ren und nicht in Pro­zes­sen, von denen die Ver­sor­gung der Pati­en­ten ja abhängt. Pri­mär muss es im Gesund­heits­we­sen immer um die Gewähr­leis­tung der Ver­sor­gung gehen. Das bedarf funk­tio­nie­ren­der Prozesse.“ 

Wie reagiert die Öster­rei­chi­sche Ärz­te­kam­mer auf die der­zei­tige Situa­tion? „Wir wer­den unser Anlie­gen der Erhal­tung des soli­da­ri­schen Sys­tems mit Nach­druck ver­fol­gen und genau schauen, was die Poli­tik Mitte Mai dazu vor­legt. Das wird dann bei unse­rem Kam­mer­tag Ende Mai ein­ge­hend dis­ku­tiert wer­den.“

Was wür­den Sie in die­sem Zusam­men­hang der Poli­tik emp­feh­len?
„Die Poli­tik sollte einen evo­lu­tio­nä­ren Weg zur Wei­ter­ent­wick­lung des Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­tems bevor­zu­gen und von der Selbst­or­ga­ni­sa­tion von Sys­te­men aus­ge­hen. Revo­lu­tio­nen von Oben funk­tio­nie­ren nicht und wer­den auch bei der Kas­sen­re­form zu kei­nem guten und nach­hal­ti­gen Ergeb­nis füh­ren. Und schließ­lich hal­ten wir es durch­aus für sinn­voll, wenn in alle diese Reform­schritte die Exper­tise der öster­rei­chi­schen Ärz­tin­nen und Ärzte ein­be­zo­gen wird.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2018