Stand­punkt – Vize-Präs. Her­wig Lind­ner: Reform in die Zwei-Klassen-Medizin

15.08.2017 | Standpunkt

© Bernhard Noll

Immer mehr Kas­sen­stel­len in Öster­reich blei­ben unbe­setzt, weil sich keine Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber fin­den. Der Pavlov’sche Reflex erfolgt prompt. Die Poli­tik ver­sucht, der Ärz­te­kam­mer die Schuld in die Schuhe zu schie­ben, die Kran­ken­kas­sen geben dem Land die Schuld, weil es nicht attrak­tiv genug für junge Ärz­tin­nen und Ärzte sei.

Bei­des ist inkor­rekt. Abso­lut gese­hen sind die Ärz­tin­nen und Ärzte noch vor­han­den. Aber beson­ders die Kas­sen­me­di­zin lei­det unter einer zuneh­men­den Ärz­te­ver­knap­pung. Selbst­ver­schul­det, wenn die jun­gen Ärz­tin­nen und Ärzte lie­ber im Spi­tal blei­ben oder in die Wahl­arzt­tä­tig­keit gehen? Wenn sie Sicher­heit wol­len, fin­den sie die im Spi­tal eher als in der Kas­sen-Nie­der­las­sung. Wenn sie unter­neh­me­ri­sche Frei­heit wol­len, ist der Kas­sen­ver­trag für viele ein Hindernis.

Dem Land die Schuld zu geben, ist jeden­falls ver­fehlt. Auch in Bezirks­haupt­städ­ten ist der Ärz­te­man­gel längst ange­kom­men. Nicht nur „Land­arzt­stel­len“, son­dern auch Fach­arzt­stel­len in urba­nen Räu­men sind verwaist.

Es gibt also nur eine Erklä­rung: Die Kas­sen­me­di­zin mit all ihren Beschrän­kun­gen und Auf­la­gen, teils beschä­men­den Tari­fen und ver­al­te­ten Leis­tungs­ka­ta­lo­gen ist das Pro­blem. Die Pla­ner packen aber nicht dort an – und wenn, dann zu wenig, son­dern suchen ihr Heil in Zen­tren. Nichts gegen Team Struk­tu­ren, die junge Gene­ra­tion bevor­zugt sie. Aber wenn – wie im stei­ri­schen Regio­na­len Struk­tur­plan Gesund­heit 2025 vor­ge­se­hen – Kas­sen­stel­len nur in Zen­tren hin­ein­ver­scho­ben wer­den sol­len, wenn redu­zierte Spi­tals­ka­pa­zi­tä­ten nicht durch mehr extra­mu­rale Medi­zin auf­ge­fan­gen wer­den, kann die Rech­nung nicht aufgehen.

Das Gegen­ar­gu­ment ken­nen wir: Wozu sol­len wir neue Stel­len schaf­fen, wenn wir schon die vor­han­de­nen nicht beset­zen kön­nen? Ant­wort: Indem wir sie attrak­ti­ver machen, bes­sere Medi­zin ermög­li­chen, die Büro­kra­tie redu­zie­ren, die Tarife so gestal­ten, dass auch ohne Zwei- oder Drei­mi­nu­ten­me­di­zin ein ver­nünf­ti­ges Ein­kom­men zu erzie­len ist.

Und wenn man­che Kran­ken­kas­sen schon wenig Wert­schät­zung für ihre Ver­trags­part­ner auf­brin­gen, soll­ten sie zumin­dest die Ver­si­cher­ten und Bei­trags­zah­ler mehr respek­tie­ren. Wie kom­men sie dazu, dass sie um immer mehr Geld immer weni­ger Leis­tung bekom­men? Wie kom­men sie dazu, immer län­gere Wege zur medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung fah­ren und dann viel­leicht noch zusätz­lich in die eigene Tasche grei­fen zu müssen?

Wir dür­fen das Land nicht auf­ge­ben! Alle Part­ner im Gesund­heits­ver­sor­gungs­sys­tem sind auf­ge­ru­fen, gemein­sam die anste­hen­den Pro­bleme zu lösen. Nur gemein­sam ist das schaff­bar. Wenn Spi­tals­struk­tu­ren abge­baut wer­den sol­len, ist der nie­der­ge­las­sene Bereich auf­zu­rüs­ten und nicht ein­fach Kas­sen­stel­len von den Land­ge­mein­den, wo sie der­zeit nicht nach­be­setzt wer­den kon­nen, in ver­kehrs­tech­nisch zen­tral gele­gene Zen­tren umzuschlichten.

Beein­dru­ckende Netz­werk-Initia­ti­ven von Ärz­ten wer­den zur Zeit behin­dert, wenn sie nicht den Vor­stel­lun­gen der Kran­ken­kasse genü­gen. Das Pri­mär­ver­sor­gungs­ge­setz hilft da auch nicht wei­ter. Es bahnt den Weg, neue frei­be­ruf­li­che Zusam­men­ar­beits­for­men zu behin­dern, Ambu­la­to­rien zu bevor­zu­gen und damit sowohl Pati­en­ten als auch Ärzte in die Zwei­klas­sen­me­di­zin zu trei­ben. Das PVG ent­spricht damit eher einem
„Zwei­klas­sen­me­di­zin-Umset­zungs­ge­setz”. Es wird zum Boost für die Privatmedizin.

Dass genau die­je­ni­gen, die die Zwei­klas­sen-Medi­zin beson­ders ver­dam­men, ihr so zusätz­li­che Mög­lich­kei­ten eröff­nen, ist eine beson­dere Ironie.

Wer flä­chen­de­ckend gute Medi­zin will – auch noch in 10 oder 20 Jah­ren – muss den Ärz­tin­nen und Ärz­ten mehr Frei­heit im Kas­sen­sys­tem geben. Sonst wird es die­ses Sys­tem lang­fris­tig nicht mehr geben.

Her­wig Lind­ner
1. Vize-Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2017