Primärversorgungszentren: Die unendliche Geschichte

15.07.2017 | Politik

Vom AVZ zur PVE: 2007 kam die Idee für „ambulante Versorgungszentren“ in Österreich erstmals auf. Jetzt gibt es ein Gesetz. Wie tragfähig oder realitätsfern diese Bestimmungen sind, wird die Zukunft zeigen. Eines ist gewiss: Die heißen Debatten über die Strukturierung der medizinischen Primärversorgung dürften Österreich aber erhalten bleiben. Von Wolfgang Wagner

Versucht man, die Spuren der Diskussionen über die Primärversorgungszentren zu suchen, ergibt sich eine Problematik: Das Konstrukt wechselte im Laufe seiner Geschichte mehrfach seinen Namen (und seinen Inhalt) – oder der Name dafür wurde bewusst geändert, wenn dieser für die jeweilige Polit-PR nicht mehr positiv genug erschien.

Der Ursprung: Bereits 2006 fanden sich „Ambulante Versorgungszentren“ in einem Programm der SPÖ. Die ÖVP replizierte, von „Bürgernähe“ seien solche Projekte weit entfernt. Eine Reduktion der niedergelassenen Fachärzte komme in Sachen wohnortnaher Versorgung nicht in Frage. Damals ging es vor allem um die fachärztliche Versorgung. Kritiker hatten mehrfach „Doppelgleisigkeiten“ zwischen Spitalsambulanzen und niedergelassenen Fachärzten geortet.

2007 ließ die damalige ÖVP-Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky die sprichwörtliche Katze aus dem Sack. Im Rahmen der Finanzausgleichsverhandlungen (15a-Vereinbarung) präsentierte sie selbst die Idee von ambulanten Versorgungszentren – damals AVZs genannt.

Die Österreichische Ärztekammer protestierte scharf. Präsident Artur Wechselberger sagte unter anderem: „Es kann nicht so sein, dass aus dem Wunsch der Krankenhäuser, aus den Sozialversicherungen mehr Geld für die Ambulanzen zu erhalten, eine neue Parallelstruktur entsteht, die teuer ist und die bestehende fachärztliche Versorgung konkurrenziert und damit gefährdet. Unter Stärkung der fachärztlichen Versorgung versteht die Ärzteschaft, die Möglichkeit für niedergelassene Fachärzte, sich in Gruppenpraxen und anderen flexiblen Organisationsformen wie Ärztegesellschaften zusammenschließen zu können.“ Es sei hoch an der Zeit, diese langjährige Forderung der Ärzteschaft zu erfüllen, damit sich niedergelassene Ärzte in geeigneten Praxisgemeinschaften zusammenschließen könnten. Die Verbesserung des medizinischen Angebots in der niedergelassenen Praxis und eine höhere zeitliche Verfügbarkeit sollten die Ziele jeder Reform sein. Wechselberger nannte die AVZs Strukturen wie „Polikliniken nach DDR-Vorbild“. ÖÄK-Präsident Walter Dorner warnte vor „teuren Parallelstrukturen“, AVZs seien eine Kriegserklärung an die österreichische Ärzteschaft.

Arbeitsgruppe einsetzen

Ein mittlerweile bekannt klingendes Faktum: Sofort ging es auch im Jahr 2007 in der Diskussion rund um die Zentren um die Kassenstellen-Pläne, um die Leistungskataloge etc. Kdolsky musste schließlich einlenken. Aus der konkreten Umsetzung des Plans wurde das Ziel, eine Arbeitsgruppe mit Beteiligung der Ärztekammern, Sozialversicherungen, Land und Bund einzusetzen. Die Ministerin bekräftigte allerdings, dass es bereits 2009 die ersten AVZs geben werde. Die Proteste der österreichischen Ärzteschaft gegen diese Pläne mündeten 2008 in groß angelegten Demonstrationen gegen die von Kdolsky, den Sozialpartnern und den Regierungsparteien damals geplante Gesundheitsreform. Die Ministerin gab bekannt, nicht mehr für den Nationalrat zu kandidieren. Auch die damalige Koalition von SPÖ und ÖVP war bald Geschichte.

Das hieß natürlich nicht, dass die Pläne für solche Zentren ad acta gelegt wurden. Die steirische Ärztekammer hatte das zum Anlass genommen, mit der Gründung des styriamed.net ein Gegenmodell im Rahmen von Ärztenetzwerken zu schaffen (Start: 2009; Bezirke Leibnitz und Hartberg). Das Modell der Ärzte-Netzwerke findet sich übrigens nunmehr auch im vom Nationalrat verabschiedeten „Gesundheitsreformumsetzungsgesetz 2017 – GRUG“, in dem auch das „Primärversorgungsgesetz – PrimVG“ enthalten ist. Das Thema der Versorgungszentren wurde schließlich plötzlich wieder brandaktuell mit der Gesundheitreform 2013. Vier Jahre sind seither mit den Diskussionen und Beratungen über die Umsetzung in Gesetzesform vergangen.

„Das Team um den Hausarzt“

Am 30. Juni 2014 wurde im Rahmen der Bundeszielsteuerungskommission durch den damaligen Gesundheitsminister Alois Stöger, Staatssekretär Jochen Danninger, Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer, Wiens Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely, Vorarlbergs Gesundheitslandesrat Christian Bernhard, Kärntens Gesundheitslandesrätin Beate Prettner sowie den VertreterInnen der Sozialversicherungen unter dem damaligen Hauptverbandschef Hans Jörg Schelling ein Primärversorgungskonzept beschlossen. Davor hatte es heftige Proteste von Seiten der Ärzteschaft gegen einen Entwurf zum Konzept des Gesundheitsministeriums gegeben, aus dem man unter anderem auch das Aufbrechen des Gesamtvertrages mit der Sozialversicherung ableitete. Die Aufkündigung eben dieses Gesamtvertrages durch die Ärzteschaft stand im Raum.

Der schließlich beschlossene Plan „Das Team rund um den Hausarzt – Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung in Österreich“ konnte von der ÖÄK akzeptiert werden. „Es ist uns gelungen, die im ursprünglichen Papier enthaltenen Unzumutbarkeiten mehr oder weniger in letzter Minute heraus zu verhandeln“, erklärte damals der Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK, Johannes Steinhart.

In Wien eröffnete am 18. Mai 2015 das erste Primärversorgungszentrum „PHC Medizin Mariahilf“. Das zweite Projekt beim SMZ-Ost verzögerte sich – zu einem Gutteil auch wegen Problemen bei der Anmietung von geeigneten Räumlichkeiten – bisher, bis voraussichtlich diesen Herbst. Das erste Primärversorgungszentrum in Oberösterreich – das zweite dieser Art in Österreich – nahm im Jänner 2017 in Enns seinen Betrieb auf.

Keine Frage: Zu den ursprünglichen Plänen der Gesundheitsreform, wonach bis 2016 ein Prozent der Österreicherinnen und Österreicher bereits in Primärversorgungszentren medizinisch versorgt werden sollten, war man mittlerweile weit in Verzug geraten. Ein Grund dafür liegt wohl auch in dem bis zuletzt anhaltenden Streit um das PHC-Gesetz. Am 20. August 2015 legte die damalige Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser eine erste Punktuation zum Gesetz vor. Allein bis Anfang September 2016 gab es schon zwölf Verhandlungsrunden auf Expertenebene. Die größten Diskussionspunkte: Geplant war die Festlegung der Standorte für die Zentren durch das jeweilige Bundesland und die Sozialversicherung und die geplanten Direktverträge zwischen den Zentren und den Krankenkassen.

Neue 15a-Vereinbarung

Mit 1. November einigten sich Bund, Bundesländer und Sozialversicherung bei den Verhandlungen zum Finanzausgleich auf eine neue 15a-Vereinbarung in Sachen Gesundheitswesen: In den Ausbau der Primärversorgung soll bis Ende 2020 eine Summe von 200 Millionen Euro investiert werden. Auf der Seite der Standesvertretung der Ärzteschaft wurde sofort darauf hingewiesen, dass von „neuem Geld“ hier keine Rede sei, vielmehr die Aushungerung der niedergelassenen Ärzteschaft drohe. Rund zwei Wochen später erklärte das Gesundheitsministerium, dass die von der Ärztekammer abgelehnten Einzelverträge zwischen den nunmehr so genannten Primärversorgungseinheiten (PVE) und der Sozialversicherung nicht mehr das Ziel seien; die Vertragspartner würden vielmehr einen neuen Gesamtvertrag für die PVEs ausverhandeln.

30. November 2016: Die Pläne zum von der Politik gewünschten Ausbau der Primärversorgung in Österreich (via zumindest 75 Zentren, selbstständige Ambulatorien oder in Form von Netzwerken) werden vom Gesundheitsausschuss im Parlament beschlossen. Im Dezember 2016 und Jänner 2017 ist das Projekt wieder einmal auf der Kippe. Die österreichische Ärzteschaft droht mit Streikmaßnahmen und Kündigung des Gesamtvertrages, wenn weiterhin eine Bevorzugung der PVEs gegenüber niedergelassenen Ärzten in dem geplanten PHC-Gesetz enthalten sei.

„Referentenentwurf“ zum PHC-Gesetz

Anfang März 2017 wurde schließlich ein „Referentenentwurf“ zum PHCGesetz bekannt. Demnach sollten bei der Einrichtung neuer PVEs zunächst via Krankenkasse die vorhandenen Kassenärzte und Gruppenpraxen zur Bewerbung um einen Primärversicherungsvertrag eingeladen werden, erst danach andere. Es dürften keine die Versorgungssituation beherrschenden Eigentümerstrukturen entstehen – und es sollte einen einheitlichen Gesamtvertrag (exklusive für selbstständige Ambulatorien) geben.

Am 18. März fand im Wiener Museumsquartier ein Informationstag zu dem Thema der Österreichischen Ärztekammer statt. Einige Tage zuvor war Gesundheitsministerin Oberhauser gestorben. Die Hoffnungen der Verhandler lagen nun bei der neuen Ministerin Pamela Rendi- Wagner. Am 21. April 2017 ging schließlich der Entwurf zum PVE-Gesetz in die Begutachtung. Wenige Tage später äußerte sich Bundeskurienobmann Johannes Steinhart positiv: „Die Ärztevertretung konnte sich zuletzt in Verhandlungen in zentralen Punkten durchsetzen und gegenüber früheren Entwürfen wesentliche Verbesserungen erreichen.“ Es werde laut dem Entwurf keine „keine PVEs außerhalb von Gesamtverträgen geben“, gewinnorientierte Organisationen würden künftig keine PVEs gründen dürfen, die niedergelassene Ärzteschaft würde bei der Vergabe von PVEs bevorzugt werden, die Vergabe selbst transparent erfolgen.

Trotzdem Befürchtungen

Die Befürchtungen der ärztlichen Standesvertreter waren damit trotzdem nicht gänzlich beseitigt. Der Vorstand der Ärztekammer für Wien beschloss am 30. Mai 2017 eine Resolution, in der die Bundesregierung aufgefordert wurde, das PHC-Gesetz in der aktuellen schwierigen Situation in der Innenpolitik nicht „im Schnellverfahren durchzupeitschen“. Man solle lieber die in der Begutachtung eingelangten wichtigen Änderungswünsche im Detail beraten und berücksichtigen.

Am 19. Juni 2017 wurde das Gesetz trotzdem als Initiativantrag von SPÖ und ÖVP zur Behandlung im Gesundheitsausschuss eingebracht. Nicht berücksichtigt worden war vor allem der Wunsch nach einer Regelung für die Anstellung von Ärzten durch niedergelassene Ärzte. Im Zuge des Kammertages verabschiedete die Vollversammlung der Österreichischen Ärztekammer eine Resolution, in der sie sich eindeutig zu einer modernen Primärversorgung bekennt; sich im vorliegenden Entwurf des Primärversorgungsgesetzes nicht wiederfindet und diesen daher auch entschieden ablehnt.

Am 28. Juni 2017 wurde das „Gesundheitsreformumsetzungsgesetz 2017 – GRUG“ schließlich im Nationalrat mit den Stimmen der in Trennung befindlichen SPÖ-ÖVP-Koalition beschlossen. Die nächste Hürde: das Aushandeln des PVE-Gesamtvertrages…

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2017