Porträt: „Es war eine gute Entscheidung“

25.11.2017 | Politik


Stefanie Essl ist die jüngste steirische Allgemeinmedizinerin mit eigener Ordination – und Österreicherin des Jahres. Die Entscheidung, ihre Facharztausbildung abzubrechen, um eine Hausarzt-Ordination am Land zu eröffnen, hat sie sich nicht leicht gemacht. Von Ursula Jungmeier-Scholz

Passail, eine Marktgemeinde mit gut 4.000 Einwohnern nordöstlich von Graz. Hier liegt seit ihrer Geburt der Lebensmittelpunkt von Stefanie Essl. Nicht, weil sie nie über den Tellerrand geblickt hätte; die junge Ärztin hat medizinische und Lebenserfahrung von Bad Tölz bis Shanghai gesammelt. Trotzdem bleibt sie überzeugtes „Landkind“ und hat mittlerweile neben der privaten auch ihre berufliche Erfüllung in ihrer Heimatregion gefunden.

Kürzlich wurde sie im Rahmen einer Galaveranstaltung von der Tageszeitung „Die Presse“ zur Österreicherin des Jahres 2017 gekürt – in der Kategorie Ländliche Entwicklung. Dieser Preis für das außergewöhnliche Engagement im Kontext der ländlichen Entwicklung wurde heuer erstmals vergeben, gestiftet vom Landwirtschaftsministerium. Die Preisträgerin, diesich zuvor schon an einer Imagekampagne des Ministeriums beteiligt hatte, führt im Alter von 32 Jahren als derzeit jüngste steirische Allgemeinmedizinerin in Passail eine Kassenordination.

Obwohl sie tief in der Oststeiermark verwurzelt ist – selbst zum Studium nach Graz ist sie fast jeden Tag gependelt –, bezeichnet sie ihren beruflichen Werdegang eher als Produkt des Zufalls. „Mein Vorgänger war 39 Jahre alt, als er die Praxis aufgab – und auch der zweite Kollege im Ort ist wenig älter. Es war daher nicht zu erwarten, dass hier in absehbarer Zeit eine Kassenstelle ausgeschrieben würde.“

Netzwerk aufgebaut

Nach ihrem Studium in Graz absolvierte Essl in verschiedenen kleinen Spitälern der Steiermark und bei einer burgenländischen Allgemeinmedizinerin den Turnus. Durchaus bewusst in kleinen Strukturen, denn sie schätzt die familiäre Atmosphäre von kleineren medizinischen Einheiten. „Auf diesem Weg konnte ich auch ein vielfältiges Netzwerk in der Region aufbauen.“

Nach ihrer Diplomarbeit, die der Beeinflussung des Lipidstoffwechsels bei Patienten mit Statin-Intoleranz gewidmet war, und dem Turnus wurde ihr eine Facharzt-Ausbildungsstelle für Innere Medizin am Marien-Krankenhaus Vorau angeboten, die sie begeistert annahm. Dass sie dazu pro Wegstrecke – je nach Wetterlage – zwischen einer und eineinhalb Stunden zu pendeln hatte, nahm sie gerne in Kauf, ebenso die Vorgabe des Marien-Krankenhauses, wonach angehende Internisten regelmäßig Notarztdienste zu übernehmen hätten. „Beides war neben den erworbenen medizinischen Kenntnissen eine ideale Vorbereitung für meine jetzige Tätigkeit. Die Erfahrungen als Notärztin helfen mir, wenn ich in entlegenen Gegenden als Erste vor Ort bin. Und die Zeit, die ich für das Pendeln gebraucht habe, entspricht in etwa den zusätzlichen Arbeitsstunden, die sich durch den Mehraufwand der Ordination ergeben“, bilanziert Essl. Trotzdem hat sie ihre Entscheidung, die Facharztausbildung aufzugeben und in die Niederlassung zu gehen, nicht spontan und unbekümmert getroffen. „Ich habe davor mit der ganzen Familie sehr intensiv Pro und Contra abgewogen.“ Familiäre Vorbilder für den Arztberuf gab es Essls Vater leitet einen Baumarkt, ihre Mutter führt eine Schneiderei und Ehemann Johannes arbeitet in einem Weizer Architekturbüro.

Letztlich sicherte ihr die Großfamilie breite Unterstützung für das berufliche Wagnis zu. Skeptisch entgegengeblickt hat Essl neben der finanziellen Belastung auch der neuen gesellschaftlichen Stellung im Ort. „Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, als es nun ist. Im Großen und Ganzen wahren die Menschen meine Privatsphäre. Da die Ärzte der Umgebung ein fixes Dienstrad installiert haben, steht immer eine Ansprechperson zur Verfügung.“ Als junge Ärztin im dörflichen Umfeld auch keine Selbstverständlichkeit. Was ihr dabei zur Hilfe kam, ist die Tatsache, dass Passail seit kurzem von einer jungen Bürgermeisterin „regiert“ wird und die Apotheke von ihrer Nachbarin geführt wird. „Diese beiden Frauen geben mir Rückhalt.“

Das Arbeitsaufkommen von Essl ist, wie in der Allgemeinmedizin üblich, hoch – oft kommt sie erst spät abends dazu, ihrem eigenen Körper eine Runde Laufen zu gönnen. Oder zwischendurch eine Massage. „Aber ich kann mir die Arbeit flexibler einteilen als im Krankenhaus. Nehme ich untertags einen privaten Termin wahr, sitze ich eben am Abend noch am Laptop.“ Jede freie Minute verbringt sie in der Natur – beim Berggehen, Laufen oder Schwimmen. Auch der eigene Garten muss erst zum Erblühen gebracht werden. „Aber das macht Gott sei Dank auch mein Mann gerne.“ Schließlich hat sich die junge Ärztin neben der Arbeit noch weitere berufliche Ziele gesteckt: „Ich stehe kurz vor dem Abschluss meiner Schmerzmedizin-Ausbildung. Danach habe ich mir noch eine ernährungsmedizinische und eine geriatrische Ausbildung vorgenommen.“ Ehrgeiz gehört seit langem zu Essls Eigenschaften, schließlich hat sie auch im Studium ein Leistungsstipendium erhalten. Daneben attestiert sie sich Durchhaltevermögen und charakterisiert sich als extrem pünktlich, aber auch als freundlich und herzlich. Viele ihrer Patienten kennt sie schon von klein auf; selbst zum Kollegen vor Ort unterhält sie eine freundschaftliche Beziehung. „Er ist der Sohn jener Ärztin, die mich als Kind medizinisch betreut hat – und die seit damals mein großes Vorbild ist.“

Ziel: Kollegialer Austausch

Ein Wermutstropfen an ihrer neuen Lebenssituation – die Praxis hat Essl vor eineinhalb Jahren übernommen – ist das Fehlen einer befriedigenden Karenzregelung für junge Ärztinnen. „Die Möglichkeit einer Babypause, aber auch Jobsharing-Modelle wären wichtige Anreize für junge Kolleginnen und Kollegen, eine eigene Ordination zu übernehmen“, betont Essl. Sie selbst will auch einen Beitrag dazu leisten, Ärzten in Ausbildung das Landarzt-Dasein näher zu bringen. „Sobald wie möglich möchte ich eine Lehrpraxis führen“, kündigt sie an. Das Modell der Lehrpraxis sieht Essl nicht als fachliche Einbahnstraße: „Einer der Nachteile an der Niederlassung besteht ja im Einzelkämpfertum. Ich freue mich auf den Austausch unter Kollegen und finde es gut, wenn auf diesem Weg regelmäßig neuer Input von der MedUni in meine Praxis kommt.“

Offenheit für Neues gehört zur Grundeinstellung von Essl – wie der Studienaufenthalt in Shanghai beweist. Dort konnte sie nach Erlangen ihres Akupunktur- Diploms vor Ort in die Praxis der TCM hineinschnuppern. Gleichzeitig war sie begeisterter Dauergast der damaligen Weltausstellung 2010. Nach den Erfahrungen der Metropole war sie sich allerdings erst recht sicher, am Land leben zu wollen – selbst wenn zu dieser Zeit eine eigene Praxis noch in weiter Ferne lag.

„Es war eine gute Entscheidung, die Ordination zu übernehmen“, meint Essl nun rückblickend. Und die Ehrung als Österreicherin des Jahres 2017 möchte sie nicht nur für sich selbst entgegennehmen. „Ich sehe darin eine Anerkennung für den gesamten Berufsstand der Landärztinnen und Landärzte.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2017