24-Stunden-Ambulanz: Die ungelenkten Ströme

10.05.2017 | Politik

Wo geht der Patient – zu jeder Tages- und Nachtzeit – mit seinem größeren oder kleineren Gesundheitsproblem hin? In die Spitalsambulanz. Dass die Ambulanz aber nicht die richtige Adresse für alle Gesundheitsprobleme sein kann, betonten Experten bei der diesjährigen „InFusion“ in Wien. Der Hausarzt müsse Anlaufstelle Nummer Eins sein. Von Marion Huber

Ein hochspezialisiertes Krankenhaus ist nicht die richtige Anlaufstelle für Bagatellfälle“ – das stellte der Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte in der ÖÄK, Harald Mayer, zu Beginn der diesjährigen „InFusion“ klar. Die Veranstaltung der Bundeskurie Angestellte Ärzte drehte sich um das brennende Thema „24 Stunden Ambulanz. Wer macht’s? Wer zahlt’s? Wer braucht’s?“. Mayer weiter: „Jede Selbstfehlzuweisung ins Spital ist eine zu viel. Die niedergelassenen Ärzte sind als Anlaufstelle verfügbar, werden aber von den Patienten leider nicht so angenommen, wie sie sollten“, konstatierte Mayer, der die Veranstaltung initiiert hat. ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger sieht in der 24-Stunden-Ambulanz „eine der größten Herausforderungen in der künftigen Versorgung“. Der ambulante Bereich werde weiter zunehmen. Aber: „Wer wird das wo machen und wer stellt die Ressourcen dafür zur Verfügung?“ Um zu verhindern, dass Patienten wie „Pingpong-Bälle“ zwischen Spital und niedergelassenem Bereich hin und her gespielt werden, forderte der Präsident der Ärztekammer Wien, Univ. Prof. Thomas Szekeres, eine Lösung durch die Politik.

Bei der Podiumsdiskussion mit Experten wurde klar: Es hapert an vielen Stellen – an der Lenkung der Patientenströme, an der Komplexität des Systems, an den starren Arbeitsmodellen in der Niederlassung, an der Gesundheitsbildung der Patienten etc. pp. „Wir haben in den Spitalsambulanzen lange alles rund um die Uhr angeboten und bei den Patienten damit die Einstellung erzeugt, dass sie alles jederzeit bekommen“, fasste Mayer das Problem zusammen. Es sei höchst an der Zeit, die Patienten massiv aufzuklären: „Wenn wir keine Regulative finden, die Patienten dort ins System einzuschleusen, wo es Sinn macht, wird das System nicht mehr lange funktionieren.“ Auch wenn es in Sachen Gesundheitsbildung der Patienten Jahre bis Jahrzehnte dauern wird, bis man einen Erfolg sieht, „müssen wir jetzt damit anfangen“, stimmte Univ. Doz. Rudolf Knapp, Bundesobmann-Stellvertreter der Angestellten Ärzte, zu.

Was auch immer die Lösungsmöglichkeiten sind – ob PHC, Portalordination, Ambulanzgebühr, Facharztzuweisung … –, die zentrale Frage dabei: „Wie lenkt man die Patienten?“ Eiko Meister, Internist an der Notaufnahme EBA der Grazer Universitätsklinik, zeigte das „primäre Lenkungsproblem“ auf. Obwohl in der Steiermark flächendeckend niedergelassene Ärzte in den Ordinationen Dienst machen, gehen die Patienten dort, wo ein Krankenhaus ist, lieber in die Ambulanz.

Andrea Kdolsky, ehemalige Bundesgeschäftsführerin der ARGE Selbsthilfe Österreich, riet, sich die Modelle anderer Länder anzusehen: „Dort, wo die Steuerung funktioniert, wird der niedergelassene Bereich extrem gefördert.“ In Slowenien, wo sie derzeit tätig ist, gibt es viele kleine tagesklinische Strukturen; ins Spital kommen Patienten erst mit Notfällen. „Wenn ich aber ein Krankenhaus abschotte, muss ich Betreuung im niedergelassenen Bereich sieben Tage die Woche rund um die Uhr ermöglichen.“ Der Politik warf sie vor, nicht rechtzeitig Lösungsvorschläge auf den Tisch gelegt zu haben.

Neue Modelle erproben

Möglichkeiten, um den niedergelassenen Bereich zu stärken und auch für Ärzte als Arbeitswelt wieder attraktiver zu machen, gibt es viele. Zum Teil werden in einzelnen Bundesländern oder Gemeinden schon neue Modelle gelebt: So kennt Arno Melitopulos, Direktor der Tiroler GKK, Lösungsansätze in Gemeinden, die teilweise ungewöhnlich wirken, aber „wenn sie funktionieren, habe ich nichts dagegen“. Der GKK-Direktor bedauert, dass es für neue Modellideen zu viele „Interessenswelten“ gibt: So sorgt sich zum einen die Sozialversicherung, zu viel Geld auszugeben; zum anderen suche der Bund immer mehr zentralistische Ansätze, „was uns vor Ort in den Städten und Gemeinden aber nicht hilft“. Auch Mayer kritisierte, dass in Österreich viele gute Ideen an vorhandenen Rechtsgrundlagen scheiterten: „Vieles klingt gut, ist aber rechtlich schwierig.“ Was man laut Knapp einfacher und rascher zur Spitalsentlastung umsetzen könnte: das Hausarztmodell. Die Strukturen dazu wären vorhanden. Knapp dazu: „Wir sollten die Bevölkerung um den Hausarzt herum scharen, dann bräuchten wir wenig Strukturänderung.“

Impulsvorträge

Wie komplex die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems sind, zeigte ÖÄK-Juristin Andrea Bramböck auf: „Ausgangspunkt ist die Bundesverfassung, weil das Gesundheitswesen eine Querschnittsmaterie ist und die Kompetenzen in Gesetzgebung und Vollziehung zwischen Bund und/oder den Ländern aufgeteilt sind.“ Durch die 15a-Vereinbarungen habe man zwar versucht, die Koordination der Zuständigkeitsbereiche zu vereinfachen; weil es aber für deren Ausführung und alle Rechtsbeziehungen eigene einfache Gesetze brauche, ergebe sich ein kompliziertes Zahnradsystem. Durch die letzte Gesundheitsreform seien die Finanzierungsströme noch komplizierter geworden. „Steckt etwa System dahinter, dass man es derart komplex macht?“, fragte Bramböck.

Als „mühsam“ bezeichnet Michael Heinisch, Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe, die Trennung des ambulanten Bereichs mit der unterschiedlichen Finanzierung der spitalsambulanten und niedergelassenen Leistungen. „Das war aber nicht immer so. Die gemeinsame Finanzierung, die wir uns so sehr wünschen, hatten wir schon einmal“, betonte er. Bis 1996 habe die Sozialversicherung beide Teilbereiche finanziert; 1997 kam es mit der Einführung des LKF-Systems zur Kompetenzaufteilung zwischen Sozialversicherung und Ländern. Die Belastung der Ambulanzen zeigte er anhand von Zahlen: Die ambulanten Patienten sind von 2004 (Ausgangslage 100 Prozent) bis 2015 auf 127 Prozent gestiegen; 2015 wurden in den Spitalsambulanzen 8,3 Millionen Patienten behandelt.

Die Dringlichkeit von Gesundheitsproblemen einzuschätzen, dürfe man vom Gros der Bevölkerung nicht erwarten, meinte Andrea Kdolsky, ehemalige Bundesgeschäftsführerin der ARGE Selbsthilfe Österreich. „Die Menschen haben nicht ausreichend Health Literacy und Eigenverantwortung.“ In erster Linie gehe es darum, die Patienten im Gesundheitswissen zu schulen. „Wir hängen uns in Gesetzen und Strukturen auf, aber vergessen, den Patienten darüber aufzuklären, wo er hingehen soll.“

Ob und wie ambulante Versorgung in Zukunft stattfinden wird, hängt für Franz Harnoncourt, Geschäftsführer der Malteser Deutschland gGmbH, von der Versorgungswirklichkeit ab – und diese sei von Land zu Land sowie zwischen Stadt und ländlicher Umgebung völlig unterschiedlich. Dementsprechend müsse  s auch verschiedene Versorgungsmodelle geben. Während es in Deutschland einen wettbewerblich/marktwirtschaftlichen Zugang und die Finanzierung aus einer Hand gibt, sei das österreichische System eher geplant und gesteuert. Für Harnoncourt stellt sich die grundsätzliche Frage „Welches System wollen wir?“ Diese Entscheidung sei ausschließlich von der Politik zu treffen. Dennoch: „Der Druck der Ärzteschaft zur Veränderung wird kommen und dann wird sich das System bewegen müssen.“

Von seinen Erfahrungen in der Notfallaufnahme EBA am Universitätsklinikum Graz erzählte der Internist Eiko Meister: Der Anteil der Notfälle, die dorthin kommen, sei „verschwindend gering“; die größte Gruppe seien Patienten mit einem Problem niedriger Dringlichkeit. Zwischen 18 und 30 Jahren und ältere Personen ab etwa 80 – das sind die Gruppen, die am häufigsten in die EBA kommen; Peaks gebe es am Vormittag ab etwa 11.00 und neuerdings ab 17.00, „weil da die Erwerbstätigen kommen“. Auch die Zahlen an Wochenenden seien im Steigen. Die Krux dabei: Am Abend und an Wochenenden ist nur ein Bruchteil der ärztlichen Besetzung anwesend. Ein „echtes Problem“ sieht Meister im Zuweisungsverhalten: 57 Prozent der Patienten an der EBA sind Selbstzuweiser.

Arno Melitopulos, Direktor der Tiroler GKK, forderte eindringlich, die Ärzte und Pflege in geeigneter Form in die Gestaltung des Systems einzubinden: „Indem man die Ärztekammer aus der Bundeszielsteuerungskommission ausgeschlossen hat, hat man die Türe noch weiter zugemacht.“ Für ihn zählen die Versorgung der Patienten und nicht steife Vorgaben im Hinblick auf Zusammenarbeitsmodelle. Die Tiroler GKK sieht etwa die lange geforderte Anstellung von Ärzten bei Ärzten „eher liberal“: „Man sollte dieses Modell in Betracht ziehen.“ Auf Bundesebene vermisst Melitopulos ein Maßnahmenpaket, wie man die Rolle des Allgemeinmediziners stärken könnte. „Im Zielsteuerungsgesetz werden Sie keine konkreten Reformvorschläge zur Entlastung des Spitalssektors oder zur Stärkung des niedergelassenen Bereichs finden“, stellte er fest – „Wozu machen wir eine Gesundheitsreform?“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2017