Brexit: Zwischen Hoffen und Bangen

25.10.2017 | Politik


Am 29. März 2019 will Großbritannien der EU offiziell den Rücken kehren. Die Austrittsgespräche zeigen: Leicht wird es nicht. Auch mehr als 300 österreichische Ärzte, die aktuell im United Kingdom tätig sind, müssen sich Gedanken um ihre Zukunft machen. Schon jetzt deutet sich an: Der Wissenschaftsstandort Großbritannien verliert für Europäer an Attraktivität.
Von Nora Schmitt-Sausen

Mehr als ein Jahr nach dem ‚Nein‘ der Briten zur Europäischen Union sind entscheidende Fragen
weiterhin ungeklärt: Was passiert mit den EU-Ausländern in Großbritannien und den Briten in den 27 EU-Staaten? Wie kompensiert Großbritannien den Wegfall von EU Fördergeldern für seine Wissenschaftsstandorte? Was bedeutet das ,Nein‘ für Forscher-Karrieren? Wie verkraftet es das staatliche Gesundheitswesen, sollten viele der ausländischen im Gesundheitsbereich
Tätigen das Land verlassen?

Die herrschende Unsicherheit schlägt sich in Zahlen nieder. Nicht nur, dass viele der in Großbritannien tätigen EU-Ärzte ankündigen, Großbritannien verlassen zu wollen, zeigen Erhebungen der britischen Studienvergabestelle UCAS (Universities & Colleges Admissions Service) wiederholt, dass Großbritannien innerhalb der EU zunehmend als Wissenschaftsstandort verliert. Nach Angaben der Organisation ist die Zahl der EU-Bewerbungen an britischen Universitäten aktuell um fünProzent zurückgegangen. Am deutlichsten war der Rückgang der Bewerbungen aus Frankreich, Deutschland, Irland und Italien.

Angst vor steigenden Studiengebühren

Betroffen von diesem negativen Trend sind auch die Sektoren Medizin und Zahnmedizin, was die British Medical Association (BMA) zu folgender Stellungnahme veranlasste: „Die medizinische Ausbildung in Großbritannien hatte immer ein hohes Ansehen und hateine hohe Anzahl von europäischen Studenten angezogen. Es ist Besorgnis erregend zu sehen, dass die Zahl der EUBewerberfür die Medical School deutlich gesunken ist, bevor das Vereinigte Königreich die EU überhaupt verlassen hat“, kommentierte Harrison Carter, Medical Student’s Committee Co-Chair. Vor allem die Angst vor steigenden Studiengebühren treibe die EU-Studenten um, sagen Experten.

Die Wissenschaftswelt ist ob des Brexits schon lange alarmiert. In den vergangenen Monaten wurden viele akademische Stimmen laut. Sie fürchten, dass der Brexit katastrophale Auswirkungen haben könne, sollte nicht gewährleistet bleiben, dass sowohl das Arbeiten in internationalen Forscherteams als auch diefinanzielle Ausstattung der Universitäten auf dem jetzigen Level erhalten bleibe. Diese Sorge betrifft vor allem den Bereich der medizinischen Forschung, die aktuell stark von EU-Geldern profitiert.

Renommierte Einrichtungen wie die Oxford University positionieren sich eindeutig zu Europa: „Wir werden mit der britischen Regierung und der Europäischen Kommission zusammenarbeiten, um aus den Verhandlungen das Beste für die Hochschulen herauszuholen, damit wir weiterhin europaweit produktive Kooperationen bilden und eine führende Rolle bei EU-finanzierten Forschungsaktivitäten spielen können“, heißt es auf der Website. Nach eigenen Angaben hat die Universität im akademischen Jahr 2015/2016 von der Europäischen Union 74 Millionen Pfund Fördergelder erhalten; dies entspricht 14 Prozent der gesamten Forschungsförderung.

Auch mit Blick auf die vielen EU-Wissenschafter, die in Oxford tätig sind, versucht die Universität für Ruhe in unruhigen Zeiten zu sorgen, indem sie offensiv kommuniziert, dass sich an der internationalen Ausrichtung nichts ändern werde. 16 Prozent der Studenten in Oxford stammen aktuell aus anderen EU-Staaten, von den Mitarbeitern sind es 18 Prozent.

Eine von ihnen ist die Österreicherin Annemarie Weißenbacher. Die 35-Jährige arbeitet seit rund zwei Jahren in Oxford als Clinical Research Fellow und Doktorandin auf dem Gebiet der Transplantationschirurgie. Die Universität hat sie ebenso wie ihre internationalen Kollegen davon in Kenntnis gesetzt, dass sie durch den Brexit nichts zu befürchten hätten. „Wir wurden auf Veranstaltungen darüber informiert, dass sich für alle, die laufende Verträge haben, nichts ändern wird und dass die Universität auch in Zukunft alles tun wird, um das bestmöglich qualifizierte wissenschaftliche Personal einzustellen, ungeachtet der Staatszugehörigkeit“, sagt die in Österreich zur Chirurgin ausgebildete Weißenbacher.

Die renommierten Forschungsstandorte in Großbritannien sieht die Chirurgin durch den Brexit nicht gefährdet. „Institutionen wie Oxford und Cambridge werden nie Probleme haben, Leute zu bekommen.“ Zu rechnen sei aber sicherlich damit, dass die Studiengebühren für Europäer steigen werden. Der Vertrag von Weißenbacher in Oxford läuft noch bis Herbst 2018. Was danach kommt, steht für sie derzeit in den Sternen – unabhängig davon, wie die Brexit-Verhandlungen verlaufen. „Ich weiß noch nicht, wohin die Reise dann für mich geht. Im Moment bin ich nur auf meine Arbeit hier konzentriert.“ Weißenbacher ist sich allerdings bewusst, dass sie in einer guten Position ist: Sie ist in Österreich karenziert (Wissenschaftskarenz) und kann jederzeit an die Universitätsklinik in Innsbruck zurückkehren.

Diese Ruhe hat angesichts des Brexits nicht jeder. Weißenbacher weiß, dass viele ärztliche Kolleginnen und Kollegen und Pflegekräfte, die schon lange in Großbritannien tätig sind, derzeit eine permanente Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Manche versuchen sogar, einen britischen Pass zu bekommen. EU-Ausländern, die seit mindestens fünf Jahrenin Großbritannien arbeiten, stehen diese beiden Möglichkeiten offen. Auch für Weißenbacher wäre dies eine Überlegung wert, wenn sie die nötigen fünf Jahre schon im Land wäre. „Ich würde in jedem Fall die Aufenthaltsgenehmigung beantragen, wohl aber nicht einen britischen Pass, denn dann müsste ich den österreichischen Pass abgeben.“ Und weiter: „Im Moment weiß wirklich keiner, was passieren wird.“ Einige ihrer Kollegen seien bereits jetzt auf dem Absprung und bereiten sich auf die Rückkehr in ihre Heimatländer vor. „Die herrschende Unsicherheit ist manchen zu groß. Bei wem sich in der Heimat etwas ergibt, der geht schon jetzt.“ Weißenbacher ist sich sicher: Man wird dem ausländischen Medizinpersonal eine Perspektive bieten müssen, sonst wird das britische Gesundheitswesen enorm unter dem Brexit leiden.

Eine Prognose wagt die gebürtige Salzburgerin nur für folgenden Bereich: Sie glaubt, dass der Brexit das staatliche britische Gesundheitswesen weitaus stärker treffen wird als die Wissenschaft. Auch in diesem Bereich ist traditionell viel medizinisches Personal aus dem Ausland tätig; der Mangel an Ärzten und Pflegekräften ist schon jetzt vielerorts eklatant. „Wenn das Gesundheitssystem durch den Brexit massiv Personal verlieren wird, wird das zum Problem werden“, sagt Weißenbacher, die neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit regelmäßig auch chirurgisch in Oxford tätig ist.

Großbritannien bleibt attraktiv

Wie sehr das britische Gesundheitswesen von ausländischen Ärzten und Pflegekräften abhängig ist, weiß auch Harald Stossier. Der 60-jährige Österreicher ist medizinischer Leiter der privaten VivaMayr-Einrichtungen, in denen vor allem Komplementärmedizin angeboten wird. Das Ärzteteam ist international tätig, seit zehn Jahren auch in verschiedenen Londoner Privat-Praxen. Seit April dieses Jahres gibt es neben den Stamm-Häusern in Maria Wörth und Altaussee eine eigene Tagesklinik in London, in der Stossier und drei weitere österreichische Kollegen im Rotationsprinzip arbeiten.

Obwohl der Österreicher im privatärztlichen Sektor tätig ist, kennt er das Problem, Personal zu finden. „Bei uns hat sich auf die Stellenausschreibungen kein einziger englischer Staatsbürger beworben. Woran das liegt, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es vielen so geht.“ In der neuen Tagesklinik arbeiten nur Nicht-Briten: Es sind Mitarbeiter aus dem Baltikum, Rumänien und Griechenland, die alleseit Jahrzehnten in Großbritannien leben.
 
Lösung für Medizinpersonal

Stossier geht fest davon aus, dass bei den Brexit-Verhandlungen eine Lösung gefunden wird, damit medizinisches Personal aus dem Ausland weiter in Großbritannien tätig sein kann. Und er ist sich sicher: Auch der Brexit wird nichts daran ändern, dass Großbritannien weiter eine hohe Anziehungskraft hat. Warum das so ist, liegt für Stossier auf der Hand: Die Verdienstmöglichkeiten seien nach wie vor vergleichsweise hoch – speziell für medizinisches Personal, das aus Osteuropa komme.

Die Entscheidung für den Standort London fiel lange, bevor sich die Briten zum Brexit entschlossen haben – und sie wird auch nach dem Austritt der Briten aus der EU beständig bleiben. „Wir haben langfristige Verträge in London und werden wegen des Brexits sicherlich nicht den Rückzug antreten“, bezieht Stossier Position. In die Tagesklinik kommen nicht nur Briten, sondern ebenso Russen, Araber und Amerikaner. London sei als „internationaler Schmelztigel“ ein interessanter Markt für medizinische Dienstleistungen – mit oder ohne Brexit.

Internationale Ausrichtung

Genau wegen dieser internationalen Ausrichtung macht sich Stossier auch keine Sorgen um den neuen Londoner Standort. „Gerade in London gibt es sehr viele nicht-britische Firmen. Wenn die alle raus müssten, hätte Großbritannien große Probleme. Das Land würde wirtschaftlich massiv einbrechen.“ Der  Österreicher blickt deshalb zuversichtlich auf die laufenden Austritts-Verhandlungen: „Ich denke, es wird bei den Brexit-Verhandlungen zu einem Kompromiss kommen müssen. Zumindest kann man das nur hoffen. Aber: Was auch immer kommt: Man muss dann lernen, mit den örtlichen Gegebenheiten umzugehen.“

Auch Befürchtungen, dass das Arbeiten in Großbritannien für ihn und seine Kollegen künftig schwieriger wird als bislang, hat er nicht. „Noch schwieriger kann es eigentlich gar nicht werden. Gerade die bürokratischen Hürden sind schon jetzt extrem hoch. Sollte sich dasnoch steigern, machen sich die Briten lächerlich.“

Dass sich die Briten im vergangenen Sommer mehrheitlich für den Brexit entschieden hatten, hat auch Stossier überrascht. „Ich habe das mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen. Ich konnte mir das nicht vorstellen, dass sie sich von der EU ablösen.“

Gänzlich unvorbereitet war der Allgemeinmediziner allerdings nicht: Er habe bei seinen britischen Patienten über die Jahre in London durchaus mitbekommen, dass es eine ablehnende Stimmung gegenüber dem politischen Kurs der EU gegeben habe. Persönliche Animositäten, wie sie in den britischen Medien von manchen EU Arbeitskräften beschrieben werden, sind ihm bei der Arbeit in London allerdings gänzlich fremd. „Die persönliche Wertschätzung war und ist sehr hoch. Ich habe überhaupt keine schlechten Erfahrungen gemacht, eher im Gegenteil.“ Diese Einschätzung teilt auch Kollegin Weißenbacher. Sie genießt in Oxford ebenfalls eine unvergleichbar hohe Wertschätzung für ihre Arbeit.

Beide Österreicher blicken dank ihrer Arbeitserfahrung in Großbritannien insgesamt mit Wohlwollen auf das österreichische Gesundheitswesen – denn sie kennen die massiven Schwächen des National Health Service (NHS). „Man kann sich nicht vorstellen, wie schlecht die Grundversorgung ist. Die Patienten werden kaum noch angesehen, nur noch von Spezialist zu Spezialist geschickt. Jeder, der es sich leisten kann, geht aus dem NHS raus. Wer im System bleiben muss, der verzweifelt fast“, sagt Stossier. Und wird eindeutig: Wer in Österreich oder Deutschland medizinisch versorgt werde, der sei im Vergleich zu Großbritannien „auf einer Insel der Seligkeit“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2017