Tumorbedingte Durchbruchschmerzen: Kurz, heftig, beeinträchtigend

10.02.2017 | Medizin

Rund zwei Drittel aller Tumorpatienten haben Durchbruchschmerzen – bis zu vier oder mehr Episoden pro Tag, die durchschnittlich 30 Minuten andauern. Bei der Schmerztherapie ist ein dualer Ansatz zielführend: Zusätzlich zur Dauertherapie sollte jedem Tumorpatienten auch immer ein Rapid-Onset-Opioid zur Verfügung gestellt werden. Von Marlene Weinzierl

Bei der Behandlung von Schmerzpatienten ist es wichtig, darauf zu achten, dass etwa 60 Prozent aller Tumorpatienten Durchbruchschmerzen haben, die richtig behandelt werden müssen“, sagt Univ. Prof. Andreas Schlager von der Universitätsklinik für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin Innsbruck. Ein Durchbruchschmerz (Abkürzung: BTP oder BTCP für „Breakthrough [Cancer] Pain“) dauert dem Experten zufolge meist kurz und ist deutlich stärker als der Dauerschmerz. Er tritt immer episodenartig auf und äußert sich entweder in einer spontanen Attacke oder lässt sich auf eine erkennbare Ursache wie eine Bewegung oder Aktivität zurückführen wie zum Beispiel beim Aufstehen, Gehen oder Stuhlgang genauso wie beim Verbandswechsel oder der Physiotherapie.

Basisschmerz

Leidet der Patient unter einem dauerhaften Basisschmerz, muss er zunächst mit retardierten Schmerzmitteln gut eingestellt sein. „Das können retardierte Opioide sein, die zwölf Stunden wirken und zweimal täglich genommen werden, oder auch transdermale Therapiesysteme“, erklärt Schlager. Dennoch kommt es bei zunehmendem Tumorwachstum oder Metastasen vermehrt zu Durchbruchschmerzen. Eine fundierte Anamnese ist daher umso wichtiger: „Jeder Tumorpatient, der über Schmerzen klagt, muss durchgescreent werden“, so der Experte. Zunächst, um zu erkennen, ob der Schmerz überhaupt der Tumorerkrankung zugeordnet werden kann. Zum anderen muss ein Durchbruchschmerz in jedem Fall von Dauerschmerzen abgegrenzt werden, da erstere nicht mit Hilfe der Basistherapie, sondern mit speziellen kurz oder schnell wirksamen Opioiden behandelt werden müssen, wie Schlager betont. Eine Abgrenzung der Schmerzen anhand der Lokalisation allein ist oft nicht möglich. Viele Patienten spüren denselben Schmerz, den sie als Dauerschmerz kennen und der ausreichend behandelt sein sollte, zu manchen Zeiten stärker; dennoch kann es sich dabei um einen Durchbruchschmerz handeln.

Allerdings: „Klagt ein Patient, der zweimal täglich Hydromorphon erhält, regelmäßig ein bis zwei Stunden vor Einnahme der zweiten Opiatdosis über Schmerzen, kann man davon ausgehen, dass kein klassischer Durchbruchschmerz vorliegt und die Dosis von zwei- auf dreimal täglich erhöht werden muss“, ergänzt Univ. Prof. Rudolf Likar vom Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin im Klinikum Klagenfurt. Eine genaue Befragung des Patienten sei daher maßgeblich für die richtige Diagnostik. Berücksichtigt werden müsse auch, ob der Patient einen viszeralen, nozizeptiven, neuropathischen oder gemischten Schmerz beschreibt. Ein Patient mit Wirbelsäulenmetastasen, der aufgrund der damit verbundenen Rückenschmerzen eine Dauertherapie erhält, kann durch zusätzliche Nervenbeteiligung zum Beispiel Durchbruchschmerzen in den Beinen empfinden. Eine Anpassung der Medikation müsse deshalb immer zielgerichtet erfolgen, so die Experten unisono.

Überblick über Schmerzspitzen

Ganz entscheidend für die Therapiewahl sind auch die Häufigkeit und Dauer des Durchbruchschmerzes (siehe Kasten). Schlager empfiehlt den Patienten daher, ein Schmerztagebuch zu führen. Wird die Schmerzintensität über 24 Stunden hinweg anhand einer Skala dargestellt, ermöglicht dies einen Überblick über die täglichen Schmerzspitzen des Patienten und eine bessere Kontrolle der medikamentösen Einstellung. Etwa die Hälfte der Patienten mit Durchbruchschmerzen erleidet bis zu vier oder mehr Episoden pro Tag. Sie könnten einige Sekunden bis zu zwei Stunden andauern, das Mittel liege aber in etwa bei 30 Minuten Schmerzdauer. Der Experte weist darauf hin, dass das Maximum der Schmerzintensität durchschnittlich nach 3,2 Minuten erreicht wird, wobei auch hier die Zeiten zwischen einer Sekunde und 30 Minuten streuen. Schlager: „In der Praxis wird oft übersehen, dass es für Schmerzen, die rasch entstehen und nur kurz andauern, Medikamente mit schnellem Wirkeintritt gibt.“ Deswegen sei es in diesen Fällen nicht sinnvoll, nicht-retardierte (kurz wirksame) Opioide zu geben, deren ausreichende Wirkung oft erst nach 30 bis 45 Minuten einsetzt.

Bei der Therapie von Tumorschmerzen ist ein dualer Ansatz zielführend: Neben der Dauerschmerztherapie sollte jedem Tumorschmerz-Patienten immer auch ein „Notfallmedikament“ (Schlager) in Form von Rapid-Onset-Opioiden zur Verfügung gestellt werden – für den Fall, dass es zu Durchbruchschmerzen kommt. Die Angst, dass damit Missbrauch betrieben werden könne, weist er als unbegründet zurück. „Anhand der Verordnungen sieht man ohnehin, wie oft der Patient das Medikament braucht. Er fühlt sich dadurch sicherer und hat im Falle einer Schmerzattacke die Möglichkeit, rasch zu reagieren“, weiß Likar. Schlager ergänzt: „Viele Ärzte scheuen sich auch davor, Fentanyl-Präparate zu verschreiben, weil es sich um hochpotente Opioide handelt.“ Diese Bedenken sind nach Ansicht von Likar und Schlager unbegründet. Man müsse nur darauf achten, dass der Einsatz der rasch wirksamen Opioide (rapid onset opioids) auf Patienten mit Tumorschmerzen beschränkt bleibt; für alles andere gäbe es klare Richtlinien. Bei den Rapid-Onset- Opioiden wird vorgeschlagen, nach dem in der Fachinformation angeführten Titrationsschema vorzugehen. Schlager dazu: „Man beginnt mit der niedrigsten Dosierung und nimmt eine Wirkkontrolle 30 Minuten nach Gabe des Medikamentes vor. Erfolgt keine Schmerzlinderung, wird die Dosis beim nächsten Mal mit der nächst höheren im Handel verfügbaren Dosis weitertitriert.“

Eine erfolgreiche Behandlung muss übrigens nicht immer medikamentöser Natur sein. Ereignis-abhängige Schmerzen, die durch Bewegung oder Lageveränderungen ausgelöst werden, lassen sich bisweilen durch gezielte Maßnahmen im Alltag vermeiden oder mildern. So kann beispielsweise das Tragen eines Stützmieders beim Gehen die Wirbelsäule entlasten. Oberstes Ziel ist in jedem Fall die größtmögliche Schmerzlinderung des Patienten, nicht zuletzt um vielschichtige Folgeerscheinungen zu vermeiden. So kann die physische Stresssituation laut Schlager zu Blutdruckkrisen, Herzrhythmus- und Schlafstörungen führen. Bei Schmerzen im Thoraxbereich können unter Umständen auch Atemprobleme auftreten. In der Folge entwickeln viele Betroffene ein Vermeidungsverhalten. „Leidet der Patient im Zuge von Behandlungen immer wieder unter Schmerzen, führt das oft zum Abbruch der Therapie“, berichtet Schlager aus der Praxis. Das Hauptproblem, das jedoch „leicht übersehen wird“ – so Schlager – liege in einer teils massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität und einem sozialen Rückzug. „Eine nicht behandelte und damit für alle sichtliche Schmerzattacke im Kaffeehaus oder unter Freunden ist nicht nur quälend, sondern vielen Patienten auch peinlich“, weiß Schlager. Nach Ansicht von Likar wird die psychische Komponente in der Therapie zu wenig berücksichtigt: „Wird der Durchbruchschmerz nicht adäquat behandelt, erfährt der Patient nicht nur starke Einschränkungen seiner Lebensqualität, sondern er wird durch den Schmerz auch immer wieder an seine Grunderkrankung, das Karzinom, erinnert.“

Definition

Nach der international am häufigsten zitierten Definition von Andrew Davies (Palliativmediziner am St. Luke’s Cancer Centre/Royal Surrey County Hospital in Guildford, United Kingdom) aus dem Jahr 2009 handelt es sich bei einem Durchbruchschmerz um eine vorübergehende spontane oder inzidente Schmerzverstärkung bei einem bereits behandelten und medikamentös gut beziehungsweise ausreichend eingestellten Patienten.

Es gibt allerdings immer wieder Diskussionen darüber, den Begriff Durchbruchschmerz durch „episodischer Schmerz“ zu ersetzen. Die Definition schließt episodisch auftretende Schmerzen ein, die bei Patienten auch ohne (optimal eingestellte) Basistherapie vorkommen können. Eine Delphi-Studie aus dem Jahr 2016 rückt den von vielen favorisierten Begriff „episodischer Schmerz“ erneut in den Vordergrund. (Bei der Delphi-Studie – benannt nach dem gleichnamigen Orakel – handelt es sich um ein systematisches, mehrstufiges Verfahren, im Zuge dessen unabhängige Experten zu bestimmten Themen befragt werden. So sollen künftige Entwicklungen bestmöglich eingeschätzt werden; Anm.)

Quelle: Univ. Prof. Andreas Schlager, Universitätsklinik für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin Innsbruck

Therapie

Treten mehr als vier Schmerz-Episoden pro Tag auf, muss zunächst die Hintergrunddosis adaptiert werden, beispielsweise indem die Opiatdosis um 20 bis 30 Prozent erhöht wird. Bei weniger als vier Episoden pro Tag kommen spezielle Medikamente für den Durchbruchschmerz zum Einsatz.

Bei inzidenten Schmerzen kann ein kurz wirksames Opioid beispielsweise des Wirkstoffs, der auch für die Basistherapie verordnet wurde, auch vorbeugend – etwa eine halbe Stunde vor der geplanten Aktivität – eingenommen werden.

Für länger andauernde Durchbruchschmerzen stehen nicht retardiertes Hydromorphon, Morphin und Oxycodon zur Verfügung. Meist wird ein Sechstel der Gesamt-Tagesdosis des nicht-retardierten Opiats verabreicht. Jedoch sollte auch hier nach Möglichkeit eine Dosis-Titration bis zum Erreichen der effektiven Dosis erfolgen.

Bei kurz andauernden Durchbruchschmerzen sind rasch wirksame Opioide – sogenannte Rapid Onset Opioids – erste Wahl. Sie entfalten nach ungefähr zehn Minuten ihre volle Wirkung, die jedoch meist nicht länger als ein bis zwei Stunden anhält.

In Österreich sind ausschließlich transmukosale Fentanyl Präparate in Form von Buccaltabletten, Sublingualtabletten, Lutschern und Nasensprays mit unterschiedlicher Bioverfügbarkeit auf dem Markt.

Schmerztherapie bei Kindern

Für die Behandlung von Durchbruchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen gibt es bezüglich der Präparat-Zulassungen Einschränkungen und mit Ausnahme von Morphin selbst ist häufig eine Off-label-Vorgangsweise erforderlich, wie Schlager berichtet.

Die meisten kurz wirksamen Opioide wie Hydromorphon oder Oxycodon sind für Kinder unter zwölf Jahren nicht zugelassen. Eine Alternative stellt Morphin-Hydrochlorid als orale Lösung ab dem ersten Lebensjahr dar. Diesbezüglich liegen jedoch keine speziellen Studien für Kinder vor.

Nicht-retardierte Fentanyl-Präparate sind – je nach Präparat – für Kinder unter 16 beziehungsweise 18 Jahren nicht zugelassen. Eine Option ist die intravenöse Behandlung von Durchbruchschmerzen, vor allem bei Verwendung einer Tumorschmerzpumpe.

Dass Ärzte aus Angst vor einer Überdosierung bei pädiatrischen Patienten sehr vorsichtig sind, kann Likar nachvollziehen. Allerdings: „Besonders Kinder und Jugendliche benötigen oft höhere Dosen als man allgemein annimmt“, weiß Likar aus der Praxis.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2017