Schrei­kin­der: „Es gibt kein Patentrezept“

25.04.2017 | Medizin

Exzes­si­ves Schreien ist meist dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass Babys Pro­bleme haben, ihre inne­ren Impulse zu regu­lie­ren: Emo­tio­nen, Ver­hal­ten und Moto­rik – jeweils als Ant­wort auf sen­so­ri­sche Reize. Am häu­figs­ten betrof­fen sind Schlaf, Nah­rungs­auf­nahme und Affek­ti­vi­tät. Schafft man es, Rhyth­mus und Struk­tur in den Tages­ab­lauf zu brin­gen, ändert sich die Schrei­sym­pto­ma­tik schlag­ar­tig.
Von Marion Huber

Ein Bub, heute zwei Jahre alt, war als Neu­ge­bo­re­ner fünf Monate lang ein Schrei­kind; auch jetzt hat er immer wie­der Zorn- und Wut­an­fälle. Mit sei­nem Spiel­auto fährt er gegen Wände, er schlägt die Haus­katze und seine kleine Schwes­ter. Mit der Tages­mut­ter kuschelt er innig, mit den Eltern gar nicht gerne.

Mit sol­chen oder ähn­li­chen Fäl­len suchen Eltern Hilfe in Spe­zial-Ein­rich­tun­gen von Kran­ken­häu­sern. Typi­scher­weise beginnt es ab der zwei­ten Lebens­wo­che – etwa zwölf bis 29 Pro­zent der Kin­der ent­pup­pen sich da als „Schrei­kin­der“. Die Zah­len schwan­ken erheb­lich, weil „der sub­jek­tive Belas­tungs­grad der Eltern sehr unter­schied­lich ist“, erklärt Univ. Prof. Kath­rin Seve­cke, Lei­te­rin der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie, Psy­cho­the­ra­pie und Psy­cho­so­ma­tik im Kin­de­r­und Jugend­al­ter in Inns­bruck. Betrof­fene Säug­linge sind sehr irri­tier­bar und chro­nisch unru­hig, reagie­ren extrem und sehr emp­find­lich auf äußere Reize, ihr Ver­hal­ten wech­selt abrupt und sie schla­fen viel zu wenig. Statt­des­sen schreien sie. Oft stun­den­lang. Exzes­siv. Mit klas­si­schen Stra­te­gien las­sen sie sich kaum beru­hi­gen. „‚Exzes­siv‘ heißt nach den Wes­sel- Kri­te­rien mehr als drei Stun­den am Tag an min­des­tens drei Tagen in der Woche über drei Wochen hin­weg“, führt Seve­cke aus.

Ent­schei­dend: das Alter

Ent­schei­dend beim „exzes­si­ven Schreien“ ist: Wie alt ist das Kind? Übli­cher­weise ist der Höhe­punkt um die sechste Lebens­wo­che erreicht und das Sym­ptom nimmt bis zur Zeit des neu­ro­lo­gi­schen Ent­wick­lungs­schubs mit etwa drei bis vier Mona­ten deut­lich ab. „Beim exzes­si­ven Schreien muss man von der phy­sio­lo­gi­schen Ent­wick­lung in den ers­ten drei bis vier Lebens­mo­na­ten dif­fe­ren­zie­ren, in denen Kin­der grund­sätz­lich ver­mehrte und häu­fi­gere Schrei­pha­sen haben“, erklärt Univ. Prof. Wolf­gang Sperl, Vor­stand der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kin­der- und Jugend­heil­kunde in Salz­burg. Des­halb sei es wich­tig, die Eltern über die neu­ro­lo­gi­sche Matu­ra­tion beim Säug­ling auf­zu­klä­ren. So sei das Schrei­sym­ptom etwa bis zur 14. Woche „pri­mär Aus­druck von kör­per­li­chen und see­li­schen Anpas­sungs­pro­zes­sen des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems“, fügt Christa Wie­ner­roi­ther, Lei­te­rin der Ambu­lanz für Schrei‑, Schlaf- und Füt­te­rungs­pro­bleme am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Salz­burg, hinzu.

Meist ist das exzes­sive Schreien dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass Babys Pro­bleme haben, „ihre inne­ren Impulse zu regu­lie­ren“, schil­dert Chris­tine Sonn-Rankl von der Säug­lings­psy­cho­so­ma­ti­schen Sta­tion am Wie­ner Wil­hel­mi­nen­spi­tal. Das heißt: Sie haben Schwie­rig­kei­ten mit der adäqua­ten Selbst­re­gu­la­tion von Emo­tio­nen, Ver­hal­ten und Moto­rik – jeweils als Ant­wort auf sen­so­ri­sche Reize. Am häu­figs­ten betrof­fen sind Schlaf, Nah­rungs­auf­nahme und Affek­ti­vi­tät. Des­halb tritt exzes­si­ves Schreien häu­fig par­al­lel oder seri­ell mit Füt­ter- und Schlaf­stö­run­gen auf. Wie­ner­roi­ther dazu: „Etwa 90 Pro­zent der Babys mit exzes­si­vem Schreien haben Pro­bleme mit der Schlaf-/Wach­re­gu­la­tion. Inner­halb der ers­ten sechs Monate koin­zi­die­ren circa 40 Pro­zent der Kin­der mit Fütterstörungen.“

„Wir spre­chen bei die­sen Regu­la­ti­ons­stö­run­gen von Ent­wick­lungs­auf­ga­ben, die Eltern und Kin­der gemein­sam nicht bewäl­ti­gen kön­nen“, prä­zi­siert Sonn-Rankl. Gemein­sam des­halb, weil die Fähig­keit von Neu­ge­bo­re­nen zur Selbst­re­gu­la­tion die Unter­stüt­zung der Eltern braucht. Eine gute Eltern-Kind-Inter­ak­tion ist für eine erfolg­rei­che Ver­hal­tens­re­gu­la­tion des Säug­lings von gro­ßer Bedeu­tung. Wie­ner­roi­ther bezeich­net das Schreien in die­sem Sinn als „mis­fit“ zwi­schen den schwer ver­steh­ba­ren Bedürf­nis­sen des Babys und dem elter­li­chen Ange­bot an Unter­stüt­zung und Bezie­hung. „Die Ursa­che liegt weder allein beim Kind, noch allein bei den Eltern“, stimmt Seve­cke zu.

Sym­pto­ma­tisch: zu wenig Schlaf

„Sym­pto­ma­tisch bei Schrei­kin­dern ist, dass sie in den ers­ten Lebens­mo­na­ten tags­über ganz lange Pha­sen haben, in denen sie nicht schla­fen und des­we­gen schreien“, weiß Sonn-Rankl. Kurze Tag­schlaf­pha­sen (meist weni­ger als 30 Minu­ten) sind gepaart mit aus­ge­präg­ten Ein- und Durch­schlaf­pro­ble­men. Das sieht die Exper­tin immer wie­der in den Tages­ab­lauf- Pro­to­kol­len, die betrof­fene Eltern aus­fül­len, bevor sie auf die Sta­tion kom­men: „Kin­der brau­chen aber einen alters­ad­äqua­ten Rhyth­mus, eine Struktur.“

An ers­ter Stelle bei der The­ra­pie eines Schrei­kin­des in die­sem Alter steht des­halb das Regu­lie­ren von Tages­schlaf- und Füt­ter­zei­ten. Als Faust­re­gel gilt: alle ein­ein­halb Stun­den zum Schla­fen brin­gen. Gefüt­tert wer­den soll ab der drit­ten Lebens­wo­che immer mit ein­ein­halb Stun­den Pause zwi­schen den Mahl­zei­ten. Schafft man es, Rhyth­mus und Struk­tur in den Ablauf zu brin­gen, ändert sich die Schrei­sym­pto­ma­tik „schlag­ar­tig“, ver­spricht die Exper­tin: „Diese Erkennt­nis ist für die ver­zwei­fel­ten Eltern immer eine große Erleich­te­rung.“ Nur in ganz weni­gen Fäl­len kommt es zu kei­ner Bes­se­rung der Sym­pto­ma­tik. Ab etwa der 14. Lebens­wo­che spricht man dann vom ‚per­sis­tie­ren­den exzes­si­ven Schreien‘“, erklärt Seve­cke. Die Mani­fes­ta­tion ist quasi eine „Extrem­va­ri­ante“ eines nor­ma­len Ent­wick­lungs­phä­no­mens. Das Schreien ist dann nicht mehr rein auf eine vor­über­ge­hende Unreife oder auf Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten zurück­zu­füh­ren, son­dern es kom­men psy­cho­dy­na­mi­sche Fak­to­ren hinzu, so Sonn-Rankl.

Dabei kommt fol­gende Trias der Regu­la­ti­ons­stö­rung zum Tra­gen: eine Stö­rung der kind­li­chen Ver­hal­tens­re­gu­la­tion, ein dys­funk­tio­na­les Inter­ak­ti­ons­mus­ter zwi­schen Baby und Bezugs­per­son sowie eine phy­si­sche und psy­chi­sche Belas­tung der Eltern. Diese drei Sym­ptom­be­rei­che sind damit auch die zen­tra­len dia­gnos­ti­schen Kri­te­rien für eine früh­kind­li­che Regulationsstörung.

Ein Schrei­kind ist eine enorme Belas­tung; schau­kelt sich die Situa­tion hoch, bringt sie die Eltern zum Zwei­feln und Ver­zwei­feln. Nicht sel­ten brin­gen Mut­ter und/​oder Vater eine schwie­rige Vor­ge­schichte mit. „Das setzt einen psy­cho­dy­na­mi­schen Kreis­lauf in Gang“, erzählt Sonn-Rankl: „Es tritt ein Ver­mei­dungs­ver­hal­ten der Eltern ein, sie berüh­ren die Kin­der weni­ger. Dann feh­len die guten Kon­takt­pha­sen zwi­schen Eltern und Kind.“ Es ent­steht eine distan­zierte Bezie­hung, ein „Teu­fels­kreis nega­ti­ver Gegenseitigkeit“.

Umso älter sie wer­den, umso unzu­frie­de­ner wer­den die Kin­der und gehen noch mehr auf Distanz. „Das erklärt auch, warum der zwei­jäh­rige Bub im Bei­spiel mit der Tages­mut­ter kuschelt, aber nicht mit den Eltern“, so Sonn-Rankl. In der Ana­mnese habe sich gezeigt, dass beide Eltern­teile in schwie­ri­gen Umstän­den auf­ge­wach­sen und nicht in der Lage sind, eine innige Bezie­hung ein­zu­ge­hen; der Bub bräuchte das aber und ist zuhause unzu­frie­den. Weil er Auf­merk­sam­keit will, wird er wütend, „aber eigent­lich geht es ihm um die Nähe“, erklärt die Expertin.

Sor­gen ernst nehmen

Kom­men Eltern mit einem Schrei­kind zum Haus­arzt oder Kin­der­arzt, geht es zunächst darum, ihre Belas­tun­gen und Sor­gen ernst zu neh­men, sind sich die Exper­ten einig. „Meist ist es die erste Befürch­tung der Eltern, dass das Kind Schmer­zen hat“, erzählt Sperl. Daher gilt es, im Rah­men einer päd­ia­tri­schen Unter­su­chung und Ana­mnese zunächst Schmerz und Krank­heit beim Kind aus­zu­schlie­ßen. Ob die Eltern mit dem Säug­ling an eine Schrei­am­bu­lanz zuge­wie­sen wer­den müs­sen, lasse sich am bes­ten am „sub­jek­ti­ven Lei­dens­druck der Eltern“ erkennen.

In den spe­zia­li­sier­ten Ein­rich­tun­gen wer­den das Ver­hal­ten, die Bezie­hung und die Inter­ak­tion von Eltern und Kind etwa durch Ver­hal­tens­be­ob­ach­tung und Ver­hal­ten­s­ta­ge­bü­cher ana­ly­siert und dia­gnos­ti­ziert. Seve­cke emp­fiehlt auch eine aus­führ­li­che Ana­mnese und Explo­ra­tion von vor­aus­ge­gan­ge­nen und aktu­el­len Aspek­ten: Wie sind Schwan­ger­schaft und Geburt ver­lau­fen? Lie­gen medi­zi­ni­sche Erkran­kun­gen vor? Wie ent­wi­ckelt sich das Kind? Wel­che aktu­el­len Belas­tun­gen und Her­kunfts- und Kind­heits­ge­schichte haben die Eltern? etc. Bera­tungs­ge­sprä­che sol­len einer­seits den Eltern Ängste, Schuld­ge­fühle und Aggres­sio­nen neh­men und ihnen zei­gen wie sie sich psy­chisch und phy­sisch ent­las­ten kön­nen. Ande­rer­seits sol­len sie auch Anre­gun­gen geben, wie man die Sym­pto­ma­tik ver­bes­sert (siehe Kas­ten). „Oft genü­gen ein bis drei Gesprä­che, um die Fami­lien zu ent­las­ten und die Sym­ptome beim Säug­ling zu bes­sern“, erzählt Seve­cke. Die zen­trale Bot­schaft der Exper­tin: „Patent­re­zept gibt es keines.“

Auch Sonn-Rankl emp­fiehlt, immer den Fak­tor „Kind“ zu betrach­ten; ob ein Baby eine Stö­rung ent­wi­ckelt oder nicht, hänge auch vom indi­vi­du­el­len Cha­rak­ter ab, von der Vul­nerabi­li­tät und Resi­li­enz: „Es sind nie objek­tiv allein die Umstände oder das Ver­hal­ten der Eltern aus­schlag­ge­bend.“ Aus Stu­dien wisse man, dass sich sogar unter Kin­dern, die in psy­cho­so­zial enorm belas­te­ten Umstän­den auf­wach­sen, ein Drit­tel voll­kom­men nor­mal ent­wi­ckelt. In eini­gen Fäl­len – bei aus­ge­präg­ten Stö­run­gen – sei laut Seve­cke den­noch eine Eltern-Säug­lings- Klein­kind-Psy­cho­the­ra­pie not­wen­dig. Lie­gen tief­grei­fende Bin­dungs- und Bezie­hungs­stö­run­gen vor – oft als Folge von per­sis­tie­ren­den Regu­la­ti­ons­stö­run­gen –, sollte eine sta­tio­näre oder teil­sta­tio­näre Eltern-Säug­lings-Klein­kind-Behand­lung ein­set­zen. Ohne Behand­lung oder bei der Kumu­la­tion von Risi­ko­fak­to­ren seien bei per­sis­tie­ren­dem Schreien bezie­hungs­weise kom­or­bi­den Stö­run­gen Fol­gen für die Ent­wick­lung des Kin­des „sehr wahr­schein­lich“, betont Seve­cke: „Bin­dungs­fä­hig­keit, Per­sön­lich­keit und kogni­tive Ent­wick­lung kön­nen beein­flusst sein.“

Unbe­dingt behan­deln lassen

Um das Risiko einer Eltern-Kind-Bezie­hungs­stö­rung zu ver­min­dern, müss­ten Regu­la­ti­ons­stö­run­gen daher „in jedem Fall“ von Exper­ten behan­delt wer­den, appel­liert auch Sperl: „Eine frühe, gute und sichere Bin­dung ist aus bio-psycho-sozia­ler Sicht für das wei­tere erfolg­rei­che Leben entscheidend.“


„Warum schreit ein Säug­ling exzessiv?“

Etwa bis zur 14. Woche ist das exzes­sive Schreien auf eine vor­über­ge­hende Unreife oder Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten zurück­zu­füh­ren; spä­ter ist es eine Extrem­va­ri­ante eines nor­ma­len Ent­wick­lungs­phä­no­mens und es kom­men psy­cho­dy­na­mi­sche Fak­to­ren zum Tragen.

Sym­ptom-Trias der Regulationsstörungen:

  • Stö­rung der kind­li­chen Verhaltensregulation
  • dys­funk­tio­na­les Inter­ak­ti­ons­mus­ter zwi­schen Baby und Bezugsperson
  • phy­si­sche und psy­chi­sche Belas­tung der Eltern

Kind­li­che Faktoren:

  • rei­fungs­be­dingte Schwie­rig­kei­ten, sich selbst zu beru­hi­gen und innere Impulse zu regu­lie­ren: beson­ders bei Früh­ge­bur­ten, peri­na­ta­len Kom­pli­ka­tio­nen, ange­bo­re­nen Erkran­kun­gen und Hos­pi­ta­li­sie­rung ist die Selbst­re­gu­la­ti­ons­kom­pe­tenz des Säug­lings stark eingeschränkt.
  • Pro­bleme mit der Schlaf-Wach-Regulation
  • „Tem­pe­ra­ment“: Häu­fig sind auch kör­per­lich gesunde Säug­linge mit einer bestimm­ten Tem­pe­ra­ments­aus­prä­gung („schwie­ri­ges Tem­pe­ra­ment“) und gerin­ger Selbst­re­gu­la­tion von Regu­la­ti­ons­stö­run­gen betroffen.


Elter­li­che Faktoren:

  • Psy­chi­sche Belas­tun­gen: Acht bis 15 Pro­zent der Müt­ter lei­den an einer postpar­ta­len Depression.
  • Belas­tende Lebens­be­din­gun­gen (finan­zi­elle Not, enge Woh­nung, Arbeits­lo­sig­keit, chro­ni­sche Erkran­kung oder Behin­de­rung des Kin­des, Man­gel an sozia­ler Unterstützung).
  • Die Eltern kön­nen sich immer schwe­rer auf ihr Kind ein­las­sen; es ent­steht ein „Teu­fels­kreis der nega­ti­ven Gegen­sei­tig­keit“. Frü­her sah man Schrei­at­ta­cken durch die soge­nann­ten „Drei­mo­nats­ko­li­ken“ verursacht.

Inzwi­schen ist man von die­sem Erklä­rungs­mo­dell abge­rückt. Koli­ken und Blä­hun­gen, die beim schrei­en­den Säug­ling beob­ach­tet wer­den, wer­den als Folge von belas­te­ten Ver­dau­ungs­vor­gän­gen durch das exzes­sive Schreien und durch Luft­schlu­cken bei häu­fi­gem hek­ti­schem Trin­ken angesehen.

(* Quelle: Univ. Prof. Kath­rin Seve­cke, Maria Höll­warth; Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie, Psy­cho­the­ra­pie und Psy­cho­so­ma­tik im Kin­der- und Jugend­al­ter in Innsbruck)

Schreien – Sym­ptom oder Störung?

Bei psy­chi­schen Stö­run­gen im Säug­lings- und Klein­kind­al­ter ste­hen drei Klas­si­fi­ka­ti­ons­sys­teme zur Ver­fü­gung: die ICD-10 der WHO, die „Rese­arch Dia­gno­stic Cri­te­ria – Pre­school Age“ (RDC-PA) von der US-ame­ri­ka­ni­schen kin­der­psych­ia­tri­schen Ver­ei­ni­gung sowie die Zero-to-Three-Klas­si­fi­ka­tion (DC:0–3R).

Exzes­si­ves Schreien ist dem­nach zwar ein häu­fi­ges, oft belas­ten­des Sym­ptom, wird aber von den Klas­si­fi­ka­ti­ons­sys­te­men nicht als Stö­rung ein­ge­stuft. Pro­ble­ma­tisch und mit Lang­zeit­ri­si­ken asso­zi­iert ist das Schreien, wenn es:

  1. über das Alter von drei Mona­ten hin­aus per­sis­tiert und
  2. wenn es nach Häu­fig­keit, Dauer und Aus­maß exzes­siv aus­ge­prägt ist.

* Quelle: Leit­li­nien der deut­schen „Arbeits­ge­mein­schaft der Wis­sen­schaft­li­chen Medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaf­ten (AWMF)“ zu psy­chi­schen Stö­run­gen im Säuglings‑, Klein­kind- und Vorschulalter

„Was kön­nen Eltern tun?“

Im Umgang mit dem Säugling:

  • Tages­ab­lauf struk­tu­rie­ren, Regel­mä­ßig­keit und Rituale: Eltern über­neh­men Rolle des zeit­li­chen Takt­ge­bers zur Unter­stüt­zung des Kin­des („ein­ein­halb Stunden“-Rhythmus), genug Schlaf, Über­mü­dung vermeiden;
  • Reize redu­zie­ren („Baby nicht mit Rei­zen überladen“);
  • kör­per­li­ches und emo­tio­na­les Hal­ten in der Schrei­si­tua­tion: „Je unru­hi­ger das Baby, desto ruhi­ger soll die Mut­ter werden.“
  • Beru­hi­gungs­hil­fen ein­set­zen (Tra­gen, Schnul­ler, Dau­men, Brust …).
  • Häu­fi­gen Wech­sel von Beru­hi­gungs­stra­te­gien vermeiden.
  • Aus­ge­wo­gen­heit zwi­schen Ein­fühl­sam­keit und inne­rer Distanz wah­ren (sich in die Sicht des Kin­des ein­füh­len kön­nen und für sich die Sou­ve­rä­ni­tät eines Erwach­se­nen erhal­ten können).
  • Kri­sen­ma­nage­ment über­le­gen (Was tun in Stresssituationen?)
  • Zen­trale Bot­schaft: „Es gibt kein Patentrezept!“


Wei­ters wichtig:

  • Aus­zei­ten für Eltern schaffen
  • fami­liäre Ent­las­tung mobi­li­sie­ren („Wich­tig­keit eines unter­stüt­zen­den Dritten“)
  • Wenn Stra­te­gien nicht hel­fen, psy­cho­lo­gi­sche, kin­der­psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Hilfe in Anspruch neh­men, zum Bei­spiel in Schreiambulanzen

(* nach Univ. Prof. Kath­rin Seve­cke, Maria Höll­warth; Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie, Psy­cho­the­ra­pie und Psy­cho­so­ma­tik im Kin­der- und Jugend­al­ter in Innsbruck)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2017