Periphere Facialisparese: 50 Prozent idiopathisch

10.04.2017 | Medizin

Bis zu einem Drittel der Patienten, bei denen eine idiopathische Facialisparese diagnostiziert wird, leidet laut Studien an einer Herpes zoster-Infektion. Bei bis zu 90 Prozent derjenigen, die tatsächlich eine idiopathische Facialisparese haben, bildet sich unter entsprechender Therapie die Symptomatik nach vier bis zehn Wochen zurück. Von Irene Mlekusch

Die periphere Facialisparese ist die am häufigsten auftretende Lähmung eines einzelnen Hirnnerven. Möglicherweise steht die im Vergleich zu anderen isolierten Paresen der übrigen Hirnnerven erhöhte Inzidenz in Zusammenhang mit dem komplexen anatomischen Verlauf des VII. Hirnnerven. „Der Nervus facialis versorgt die mimische Muskulatur jeweils einer Gesichtshälfte mit drei Ästen. Zusätzlich spannt noch ein kleiner Ast das Trommelfell derselben Gesichtshälfte“, erklärt Univ. Prof. Gudrun Reiter von der Universitätsklinik für Neurologie in Graz. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Abgesehen von einer Schwangerschaft und Diabetes mellitus sind bisher keine prädisponierenden Faktoren bekannt. Das Risiko, im Verlauf einer Schwangerschaft eine Facialisparese zu erleiden, ist vor allem im dritten Trimester und in der ersten Woche post partum auf das Dreifache erhöht. Die pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen Facialisparese und Diabetes mellitus sind bisher unklar. Obwohl eine eigentliche diabetische Neuropathie des Nervus facialis eher selten vorliegt, findet sich bei etwa drei Prozent aller Patienten mit idiopathischer Facialisparese ein Diabetes.

Typisch für die periphere Facialisparese ist die plötzliche, meist unilaterale Lähmung der mimischen Gesichtsmuskulatur, die von einer Schwäche bis zur vollständigen Leblosigkeit reichen kann. Häufig zeigen sich klinisch ein Lagophthalmus, das Verstreichen der Nasolabialfalte und ein hängender Mundwinkel. „Zu Beginn einer peripheren Facialisparese kann oft am deutlichsten das Hängen des Mundwinkels auffallen“, macht Reiter aufmerksam. Hier bestehe die berechtigte Sorge, dass eine zentrale, vom Gehirnanteil des Nervus facialis ausgehende Lähmung vorliegen könnte. Bald aber – fast gleichzeitig – folgen bei der peripheren Facialisparese schon progredient die anderen Äste für die Stirn und das Auge nach. Bei der peripheren Facialisparese ist – im Gegenteil zur zentralen Facialisparese – die Stirnmuskulatur ebenfalls betroffen und stellt sich faltenarm bis faltenlos dar. Außerdem kann es zu Beeinträchtigungen des Gehörs im Sinne einer Hyperakusis sowie zu fehlendem Tränenfluss und unkontrollierbarem Speichelfluss kommen. Ist die Chorda tympani betroffen, sind Geschmacksveränderungen die Folge, im schlimmsten Fall der Geschmacksverlust im anterioren Zungenabschnitt.

Solange eine zentrale Facialisparese nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, sollte man immer davon ausgehen, dass es sich um eine solche handelt. „Beim raschen Wenden des Kopfes nach links und rechts kommt es zum reflektorischen Lidschluss, der bei der peripheren Facialisparese ipsilateral ausfällt“, betont Reiter. Lähmungserscheinungen in Arm und Hand der betroffenen Seite gehen häufig mit einer zentralen Ursache einher. Eine sorgfältige Anamnese mit Fragen nach Zeit und Art des Auftretens, aber auch nach einem Zeckenbiss, Hautveränderungen, einem Schädeltrauma, Erkrankungen im HNO-Bereich und Diabetes mellitus erleichtern in Zusammenschau mit der klinisch-neurologischen Untersuchung die Zuordnung. Reiter dazu: „Es kann fast immer klinisch zwischen zentraler und peripherer Lähmung unterschieden werden.“ Wobei: Liegt der Verdacht auf eine zentrale Parese vor, ist unverzüglich eine neurologische Notaufnahme aufzusuchen. Ist eine Läsion im Facialiskern im Hirnstamm die Ursache für die Parese, spricht man von einer nukleären Facialisparese, die sich klinisch wie eine periphere Facialisparese präsentiert, de facto aber eine zentrale Lähmung ist.

Rund die Hälfte aller Facialisparesen hat keine erkennbare Ursache und wird als Ausschlussdiagnose mit „idiopathische Facialisparese“ oder „Bell‘s palsy“ bezeichnet. Pathogenetisch geht man derzeit von einer Reaktivierung einer Herpes simplex-Infektion im Bereich des Ganglion geniculi im Canalis facialis aus. Andere potentiell mit einer Facialisparese in Verbindung stehende Erreger sind Herpes zoster, Zytomegalievirus, Epstein-Barr-Virus, Adenovirus, FSMEVirus, Influenzavirus, Coxsackievirus, Rubellavirus, HIV, HTLV-1 sowie Borrelia burgdorferi.

Häufigste fokale Borreliose-Manifestation

Die Facialisparese stellt die häufigste fokale neurologische Manifestation der Borreliose dar und tritt bei mehr als der Hälfte der Betroffenen beidseitig auf. „Infektionskrankheiten können eine Schwellung des engen Knochenkanals, in dem der Nervus facialis verläuft, bewirken und so zu einer peripheren Facialisparese führen“, sagt Reiter. Die häufigste Form der Facialisparese ist die periphere; sie wird initial in bis zu 80 Prozent der Fälle beschrieben. „Je nach Literaturangabe wird etwa bei jedem zehnten Patienten mit der Diagnose idiopathische Facialislähmung im Verlauf eine andere behandlungsbedürftige progressive oder lebensbedrohliche Erkrankung als Ursache festgestellt“, warnt Univ. Prof. Michael Formanek von der Abteilung für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde und Phoniatrie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Studien zufolge leidet bis zu ein Drittel der Betroffenen mit einer zunächst als idiopathisch deklarierten Facialisparese an einer Herpes zoster- Infektion. Neuralgische Schmerzen und Dysästhesien in der Anamnese können ebenso einen Hinweis liefern wie herpetiforme Vesikel an der Ohrmuschel, im Gehörgang, am Hals oder an der Schulter. In rund sieben Prozent der Fälle sind laut Formanek Herpes Zoster oticus und das Ramsay-Hunt-Syndrom die Ursache für eine periphere Facialisparese.

Seltene Grunderkrankungen, die mit einer peripheren Facialisparese einhergehen können, sind das Melkersson-Rosenthal-Syndrom, das unter anderem durch rezidivierende Facialisparesen gekennzeichnet ist, sowie die Sarkoidose oder das Sjögren-Syndrom. Facialisparesen können aufgrund kongenitaler Ursachen wie des Möbius-Syndroms oder kongenitalen hemifacialen Dysplasien, aber auch in Folge von Geburtstraumen bei Neugeborenen auftreten. „Im Unterschied zur kongenitalen Facialisparese liegt in der Regel eine komplette Parese mit Erholungszeichen vor“, so Formanek. Beide Experten verweisen auf neoplastische Ursachen wie Tumore oder Metastasen, die den Nerv komprimieren und dadurch eine Lähmung bewirken. „Ein Neurinom des Nervus facialis, ein Vestibularis- Schwannom, ein Meningeom, ein Glomustumor, aber auch ein maligner Tumor der Glandula parotis können einer peripheren Facialisparese zugrunde liegen“, sagt Formanek. Rund 25 bis 30 Prozent der Parotis-Malignome präsentieren sich mit einer Infiltration des extratemporalen Facialis-Fächers.

„Traumata im Gesichtsschädelbereich sind natürlich ebenfalls oft von einer peripheren Facialisparese begleitet, wobei dann oft nur einzelne Äste betroffen sind“, führt Reiter aus. Formanek macht auf die Felsenbeinfraktur aufmerksam, die mit etwa 20 Prozent die zweithäufigste Ursache für eine periphere Facialisparese darstellt. Auch chirurgische Eingriffe können eine Ursache dafür sein. Formanek dazu: „Eine iatrogene Facialisparese kann im Rahmen der Kleinhirnbrückenwinkelchirurgie, gefolgt von Ohrchirurgie, Parotischirurgie, Submandibulektomie, Kiefergelenksoperationen und kosmetischen Operationen auftreten.“ Andere seltene Ursachen sind Vergiftungen oder kalte Zugluft. Entzündliche Erkrankungen nehmen ebenso wie Infektionen ätiologisch einen großen Stellenwert ein. Beim Guillain-Barré-Syndrom ist die Facialisparese die häufigste kranielle Neuropathie und tritt in 50 Prozent der Fälle bilateral auf. Als otogen entzündliche Ursachen für die periphere Facialisparese kommen das Cholesteatom mit einer Inzidenz für eine Parese von drei bis fünf Prozent, eine akute Otitis media und Mastoiditis, aber auch eine Otitis externa maligna in Frage. „Die Facialisparese als Komplikation einer akuten Otitis media ist in Europa selten geworden“, weiß Formanek. Weltweit stelle die bakterielle Otitis media noch die häufigste Ursache für eine Facialisparese dar; sie wird häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen beobachtet.

Der Ursachenforschung kommt in der Diagnostik der Facialisparese essentielle Bedeutung zu, da die Therapie eigentlich eine Behandlung der Grunderkrankung darstellt. Bei Verdacht auf eine periphere Facialisparese erfolge zunächst eine Trauma- und Tumoranamnese, berichtet Reiter. Ebenso sollten virale Infektionen ausgeschlossen werden. Eine neurologisch fachärztliche Untersuchung und ein klinischer HNO-Status mit Otoskopie sollten in jedem Fall stattfinden, bei inkomplettem Lidschluss auch eine augenärztliche Untersuchung. Reiter empfiehlt, das Auge mit einem Uhrglasverband, Augentropfen und Augensalbe vor Hornhautverletzungen und Austrocknung zu schützen. Elektrophysiologische Untersuchungen dienen der Quantifizierung der Innervation und Re-Innervation und haben vor allem prognostischen Wert. Auf Bildgebung kann verzichtet werden bei eindeutiger Klinik und typischem Verlauf, ansonsten unauffälligem fachärztlich erhobenem neurologischen Status, bei fehlender Trauma-Anamnese, fehlenden Entzündungszeichen sowie negativer Anamnese betreffend Tumore.

Sucht der Betroffene innerhalb einer Woche nach Beginn der Symptome einen Arzt auf, ist eine medikamentöse Therapie sinnvoll. „Bei sicherer idiopathischer Facialisparese sind zehn Tage Cortison indiziert. Es liegt hier kein Nachweis für den Nutzen einer zusätzlichen antiviralen Behandlung vor“, erklärt Reiter. Physiotherapie in Form von Mimik-Übungen und Elektrostimulation haben das Ziel, die normale Funktion wiederherzustellen sowie die Situation bei unvollständiger Heilung zu verbessern. Reiter ist der Meinung, dass therapeutisch mimische Übungen zumindest psychologischen Nutzen haben. Prinzipiell ist ein frühzeitiger Therapiebeginn prognostisch günstig. „Die Prognose der peripheren Facialisparese hängt ab vom Ausmaß der axonalen Schädigung und damit auch von der Ätiologie“, so Formanek. Die Prognose verschlechtert sich bei totaler Lähmung, zusätzlichen Schmerzen, otoneurologischen Symptomen und einem verzögerten Therapiebeginn.

Generell sind die Heilungschancen bei der idiopathischen Facialisparese gut, da sich bei bis zu 90 Prozent der Patienten unter entsprechender Therapie die Symptomatik nach vier bis zehn Wochen zurückbildet. „Bei der peripheren Facialisparese bei Herpes zoster besteht aufgrund der dort sehr ausgeprägten Schädigung des Nerven eine relativ schlechte Prognose“, berichtet Formanek. Es käme häufig zu einer Defektheilung. Die Prognose der traumatischen Facialisparese hängt ab vom Grad der Schädigung; unter Umständen kann eine chirurgische Rekonstruktion des Nervs notwendig sein. „Im Rahmen von Felsenbeinfrakturen haben primäre Läsionen, welche typischerweise mit mehr oder weniger ausgeprägten Zerreißungen von Axonen einhergehen, eine deutlich schlechtere Prognose als sekundäre Paresen, welche mit zeitlicher Latenz zum Trauma auftreten und durch eine ödematöse Schwellung verursacht werden“, so Formanek abschließend.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2017