Ori­gi­nal­ar­beit: Metha­don in der Tumortherapie

15.08.2017 | Medizin

Seit meh­re­ren Mona­ten gibt es eine breite mediale Bericht­erstat­tung über die ver­meint­li­che Heil­wir­kung von Metha­don in der Tumor­t­he­ra­pie. In der letz­ten Zeit regis­trie­ren sowohl Ärz­te­kam­mer als auch Apo­the­ker­kam­mer ver­mehrt Anfra­gen zur Ver­schrei­bung von Metha­don. Von Ste­fan Deibl und Max Wudy*

Die wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nisse, die von der Arbeits­gruppe der Mole­ku­lar­bio­lo­gin Frau Dr. Frie­sen am Insti­tut für Rechts­me­di­zin der Uni­ver­si­tät Ulm erho­ben wur­den, bezie­hen sich aus­schließ­lich auf vor­kli­ni­sche Expe­ri­mente ent­we­der mit Zell­kul­tu­ren oder tier­ex­pe­ri­men­telle Stu­dien. Expe­ri­mente an Zell­kul­tu­ren oder Tier­ver­su­che las­sen sich nicht auto­ma­tisch auf Pati­en­ten über­tra­gen. Als nega­ti­ves Bei­spiel sei hier Con­ter­gan® erwähnt. Bei die­sem Medi­ka­ment wurde im Tier­ex­pe­ri­ment an träch­ti­gen Kanin­chen und Hun­den die abso­lute Sicher­heit die­ser Sub­stanz bei Schwan­ge­ren bewie­sen. Die Fol­gen sind bekannt.

Die fol­gen­den Anwen­dungs­be­ob­ach­tun­gen durch Dr. Hans-Jörg Hil­scher schie­nen die Wirk­sam­keit von Metha­don in der Tumor­t­he­ra­pie zu bestä­ti­gen. Je nach Lite­ra­tur ist von 27 oder 80 oder gar 850 Pati­en­ten die Rede, die davon pro­fi­tiert haben und sogar geheilt wor­den sein sol­len. Aller­dings lie­gen ledig­lich Fall­be­richte vor; eine kli­ni­sche Stu­die, die den wis­sen­schaft­li­chen Vor­ga­ben ent­spricht, exis­tiert nicht. In meh­re­ren Ana­ly­sen durch diverse Fach­ge­sell­schaf­ten wurde diese Ver­öf­fent­li­chung scharf kri­ti­siert. Auch die Uni­ver­si­tät Ulm distan­zierte sich bereits im August 2016 in einer Pres­se­aus­sendung von die­ser Ver­öf­fent­li­chung. (» Pres­se­aus­sendung) Darin heißt es u.a.: „Der unkon­trol­lierte Ein­satz weckt bei Pati­en­ten unrea­lis­ti­sche Erwar­tun­gen, die sich nach­tei­lig für die Pati­en­ten aus­wir­ken kön­nen. So gibt es Berichte, dass Pati­en­ten im Glau­ben an die Wirk­sam­keit von Metha­don gut wirk­same The­ra­pie­kon­zepte für sich abge­lehnt haben.

Es muss auch erwähnt wer­den, dass Metha­don erheb­li­che Neben­wir­kun­gen haben und die Lebens­qua­li­tät der Pati­en­ten deut­lich ein­schrän­ken kann. Dies ist gerade bei Pati­en­ten mit fort­ge­schrit­te­ner Tumor­er­kran­kung von hoher Relevanz.“

Auch die Österreichische Gesell­schaft für Hämatologie und Medi­zi­ni­sche Onko­lo­gie (OeGHO) sieht die Anwen­dung vom Metha­don ebenso wie die deut­sche Schwes­tern­ge­sell­schaft (DGHO) mehr als kri­tisch und warnt vor der Anwen­dung. www.oegho.at (siehe Stel­lung­nahme der ÖGHO »).

Ähn­lich die Stel­lung­nahme der Öster­rei­chi­schen Schmerz­ge­sell­schaft: „Die Anwen­dung von Metha­don zur Tumor­t­he­ra­pie ist aus Sicht der Öster­rei­chi­schen Schmerz­ge­sell­schaft auf­grund der aktu­el­len Daten­lage abzulehnen.“

Die Sub­stanz
Metha­don wurde 1937 syn­the­tisch her­ge­stellt und ist ein Opioid mit star­ker schmerz­stil­len­der Wir­kung. Es nimmt in der Hero­in­sub­sti­tu­tion eine so wich­tige Rolle ein, dass es von der WHO in die Liste der unver­zicht­ba­ren Arz­nei­mit­tel auf­ge­nom­men wurde. Als Metha­don per se bezeich­net man das Race­mat (Levo- und Dextro-Form).

Wirk­me­cha­nis­mus
„Der rele­vante Wirk­me­cha­nis­mus von Metha­don basiert auf dem voll­stän­di­gen Ago­nis­mus am μ‑Opioidrezeptor. Zusätz­lich zeigt Metha­don einen NMDA-Ant­ago­nis­mus mit ver­mut­lich anti­g­lut­ama­ter­ger Wir­kung; die­ser Effekt wird der d‑Form von Metha­don zuge­schrie­ben. Metha­don blo­ckiert dosis­ab­hän­gig die kar­dia­len hERG-Kanäle; die­ser Effekt ist für die kli­nisch rele­vante QT Ver­län­ge­rung unter Metha­don-The­ra­pie verantwortlich…

…Im Wei­te­ren zeigt Metha­don eine dosis­ab­hän­gige sedie­rende Kom­po­nente, die eine kli­ni­sche Rele­vanz in Bezug auf Ver­träg­lich­keit, Pati­en­tin­nen-/ Pati­en­ten­prä­fe­ren­zen und Fahr­taug­lich­keit besitzt.“

Meta­bo­lis­mus
„Bei ora­ler Ein­nahme zeigt Metha­don eine hohe Bio­ver­füg­bar­keit (circa 80 Pro­zent) im Ver­gleich zur intra­ve­nö­sen Gabe. Der rela­tiv lang­same Anstieg der Serum­kon­zen­tra­tion mit Peak circa drei Stun­den nach Ein­nahme erklärt zum Teil die ver­hält­nis­mä­ßig gerin­gen eupho­ri­sie­ren­den Effekte von Metha­don. Die Plas­ma­halb­werts­zeit beträgt 13 bis 47 Stun­den. Der Ste­ady State wird fünf bis sie­ben Tage nach Beginn der Sub­sti­tu­tion erreicht. Auf­grund des hohen Kumu­la­ti­ons­po­ten­zi­als ist das Risiko für Über­do­sie­rung in den ers­ten drei Tagen hoch. Metha­don wird haupt­säch­lich über das Cytochrom-P450- Enzym CYP3A4 meta­bo­li­siert. Es ent­ste­hen zwei inak­tive Meta­boli­ten: 2‑Ethyliden‑1,5‑dimethyl‑3,3‑diphenylpyrrolidin (im Harn nach­weis­bar und daher rele­vant für den Nach­weis der Ein­nahme von Metha­don) und 2‑Ethyl-5-methyl‑3,3‑diphenylpyralin.“

Toxi­zi­tät
„Die Toxi­zi­tät von Metha­don wird grund­sätz­lich als hoch ein­ge­schätzt. Zum Ers­ten zeigt Metha­don eine dosis­ab­hän­gige Atem­de­pres­sion, die sich sowohl bei Mono­in­to­xi­ka­tion als auch bei Misch­in­to­xi­ka­tion aus­wirkt. Zum Zwei­ten wer­den die Kumu­la­ti­ons­ef­fekte auf­grund der lan­gen Halb­werts­zei­ten unter­schätzt. Zum Drit­ten spielt das Risiko einer QT-Ver­län­ge­rung bei hohen Dosie­run­gen und in Kom­bi­na­tion mit ande­ren QT-ver­län­gern­den Sub­stan­zen eine Rolle.“

Wech­sel­wir­kun­gen
„Zahl­rei­che Sub­stan­zen ent­wi­ckeln Wech­sel­wir­kun­gen mit Metha­don. Die Inter­ak­tio­nen ent­ste­hen auf­grund der Induk­tion oder Hem­mung der Cytochrom-P450-Enzyme, was ent­spre­chend zu einem Abfall oder Anstieg der Plas­ma­kon­zen­tra­tion von Metha­don füh­ren kann. Ent­spre­chend kann Metha­don die Wirk­sam­keit ande­rer Sub­stan­zen verändern.“

Neben­wir­kun­gen
„Am häu­figs­ten wer­den Schwit­zen, Müdig­keit, Benom­men­heit, Übel­keit, Obs­ti­pa­tion, Gewichts­zu­nahme, Nie­der­ge­schla­gen­heit, Anhe­do­nie, Antriebs­ar­mut und Dys­pho­rie auch endo­krin­be­dingte Stö­run­gen (u. a. Gynä­ko­mastie, Amenor­rhoe, Galak­tor­rhoe, Impo­tenz, Osteo­po­rose) als Neben­wir­kun­gen von Metha­don ange­ge­ben…“ (Gekürzt aus: Leit­li­nie – Qua­li­täts­stan­dards für die Opioid-Sub­sti­tu­ti­ons­the­ra­pie 2017, » zur Leit­li­nie)

Es gibt keine ein­zige seriöse kli­ni­sche Stu­die, die den Effekt von Metha­don in der Onko­lo­gie beweist. Die Behaup­tung, dass Metha­don neben­wir­kungs­arm ist, ist schlicht­weg falsch. Es gibt sogar Stu­dien aus den USA (wo ora­les Metha­don als Analge­ti­kum im Ein­satz ist), die das Gegen­teil bele­gen. So wurde in Ten­nes­see in einer Lang­zeit­stu­die über 22 Jahre Metha­don mit ora­len Mor­phi­nen ver­gli­chen. Bei mehr als 36.000 unter­such­ten Pati­en­ten mit nicht Tumor-beding­ten Schmer­zen zeigte sich eine um 46 Pro­zent höhere Sterb­lich­keit in der Methadongruppe.

Zur Ver­schrei­bung
Metha­don ist in Öster­reich nur magis­tral oder als Metha­san® (10 mg/​ml) in diver­sen Gebin­den (100 bis 300ml, 500 ml= NO BOX und auch nicht lie­fer­bar) im Han­del. Zuge­las­sen ist es aus­schließ­lich zur Sub­sti­tu­ti­ons­the­ra­pie durch Ärzte, die dazu berech­tigt sind – nach chef­ärzt­li­cher Bewil­li­gung (RE1). Natür­lich ist eine Ver­schrei­bung „Off Label“ jeder­zeit mög­lich (siehe »), diese bedarf aber neben einer aus­rei­chen­den Indi­ka­ti­ons­stel­lung einer beson­de­ren Doku­men­ta­tion und Auf­klä­rung des Patienten.

Con­clu­sio
In der Schmerz­the­ra­pie ist Metha­don auf Grund des Neben­wir­kungs­pro­fils ande­ren Opio­iden unter­le­gen. Ob man die doch beträcht­li­chen uner­wünsch­ten Wir­kun­gen und vor allem das hohe Inter­ak­ti­ons­po­ten­tial für eine mehr als unge­si­cherte onko­lo­gi­sche Wir­kung in Kauf nimmt, möge jeder für sich entscheiden.


„Nach den Regeln der medi­zi­ni­schen Kunst behan­deln“

Von Max Wudy*)

Als sub­sti­tu­ie­ren­der Arzt und Land­arzt spre­che ich mich vehe­ment für den Ein­satz von Opio­iden in der Schmerz­the­ra­pie aus. Es ist in der moder­nen Medi­zin nicht mög­lich, alle Krank­hei­ten zu hei­len oder auch nur zu ver­bes­sern. Daher muss die Schmerz­the­ra­pie in unse­rem Wir­ken an obers­ter Stelle ste­hen. Als völ­lig falsch schätze ich das Ver­spre­chen auf Schmerz­frei­heit ein. Dies ist bei vie­len Krank­hei­ten nicht mög­lich oder wird viel­leicht nie mög­lich sein. Aller­dings hat die Ärz­te­schaft alles zu unter­neh­men, um zumin­dest eine Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät durch Schmerz­ar­mut zu errei­chen. Fal­sche Ver­spre­chen auf Hei­lung von noch nicht kur­a­blen Erkran­kun­gen oder Ver­spre­chen auf Schmerz­frei­heit unter allen Umstän­den sind gene­rell abzulehnen. 

Es ste­hen neben­wir­kungs­arme Opio­ide, die zudem die anal­ge­ti­sche Potenz von Metha­don weit über­tref­fen, frei ver­schreib­bar zur Ver­fü­gung. Zusätz­lich ist immer daran zu den­ken, dass gerade der Tumor­schmerz ein gemisch­ter Schmerz ist, bedingt einer­seits durch die neu­ro­to­xi­sche Wir­kung der Tumor­zel­len, ande­rer­seits durch direkte mecha­ni­sche Irri­ta­tion des peri­phe­ren oder zen­tra­len Ner­ven­sys­tems durch Kom­pres­sion oder Destruk­tion. Gerade in die­sen Fäl­len sind Neu­ro­lep­tika, Anti­de­pres­siva und ähn­li­che Sub­stan­zen zumin­dest einen Ver­such wert. 

Ich weiß nicht, ob es man­gelnde Erfah­rung, Sen­dungs­be­wusst­sein in eige­ner Sache oder schlicht eine Falsch­mel­dung ist, aber Aus­sa­gen wie Hil­scher konnte in all den Jah­ren, in denen er das D,L‑Methadon ein­setzt, keine Schä­di­gun­gen an Leber oder Niere fest­stel­len und selbst eine mas­sive Über­do­sie­rung führte in einem Fall nur dazu, dass der Pati­ent 18 Stun­den am Stück schlief und aus­ge­ruht wie­der erwachte, wie Hil­scher in sei­nen Vor­trä­gen immer wie­der lau­nig erwähnt.“ die­nen nicht der Sache. Metha­don ist eine hoch­po­tente Sub­stanz, deren gefürch­tetste Neben­wir­kung die töd­li­che Atem­de­pres­sion ist. Sol­che öffent­li­chen State­ments ver­harm­lo­sen die Gefah­ren. Immer­hin wer­den in den USA pro Jahr zig­tau­send Todes­fälle regis­triert, die auf ver­schrie­bene Opio­ide – vor allem auf Metha­don und Oxy­c­o­don – zurück­zu­füh­ren sind.

Daher lau­tet meine Emp­feh­lung – solange nicht valide, seriöse Stu­dien vor­lie­gen: Ver­trauen Sie auf die Wis­sen­schaft, gebrau­chen Sie den gesun­den Haus­ver­stand und behan­deln Sie Ihre Pati­en­ten nach den Regeln der medi­zi­ni­schen Kunst und Wissenschaft.

*) Dr. Max. Wudy, Refe­rent für Sub­sti­tu­ti­ons­fra­gen der ÖÄK

„Täg­lich zahl­rei­che Anfra­gen“

Von Ste­fan Deibl*

Die phar­ma­zeu­ti­sche Abtei­lung der Öster­rei­chi­schen Apo­the­ker­kam­mer wird von Apo­the­ke­rin­nen und Apo­the­kern genutzt, um fach­li­che Aus­künfte zu erlan­gen. Waren wir in den letz­ten Jah­ren ins­ge­samt mit weni­gen Anfra­gen zu Metha­don außer­halb der Sub­sti­tu­ti­ons­be­hand­lung kon­fron­tiert, so errei­chen uns seit der media­len Bericht­erstat­tung der letz­ten Wochen täg­lich zahl­rei­che Anfra­gen (> zehn/​Tag). Der sprung­hafte Anstieg an Ver­ord­nun­gen von Metha­don als unter­stüt­zen­des The­ra­peu­ti­kum im Bereich der Onko­lo­gie lässt sich jedoch nicht auf valide Stu­di­en­da­ten zurückführen.

Als „off-label“-Verordnungen kön­nen magis­trale Zube­rei­tun­gen von Metha­don in Apo­the­ken auf­grund von Sucht­gift­re­zep­ten her­ge­stellt und expe­diert wer­den (solange sicher­ge­stellt ist, dass es sich dabei nicht um eine Umge­hung der Sub­sti­tu­ti­ons­be­hand­lung han­delt). Da aber die zitier­ten Fach­ge­sell­schaf­ten ein­deu­tig ableh­nend der Anwen­dung von Metha­don als alter­na­ti­ver The­ra­pie­op­tion in der Onko­lo­gie gegen­über­ste­hen, ist eine Rück­frage beim ver­schrei­ben­den Arzt sicher­lich angebracht.

*) Mag. Ste­fan Deibl, Phar­ma­zeu­ti­sche Abtei­lung der Öster­rei­chi­schen Apothekerkammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2017