Nephrolo­gi­sche Erkran­kun­gen: Das Vor­arl­ber­ger Paradoxon

25.09.2017 | Medizin


Vor­arl­berg weist nicht nur die nied­rigste Inzi­denz an Nie­ren­er­satz­the­ra­pien auf, son­dern im Öster­reich-Ver­gleich auch die höchste Prä­va­lenz an Per­so­nen mit einer ter­mi­na­len Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz – das ist das Vor­arl­ber­ger Para­do­xon. Bei Per­so­nen, die ein erhöh­tes Risiko für chro­ni­sche Nie­ren­er­kran­kun­gen haben, soll­ten gezielt die Nie­ren­pa­ra­me­ter bestimmt wer­den.
Von Mar­lene Weinzierl

Was die Zahl der frü­hen Sta­dien bei Nie­ren­er­kran­kun­gen anlangt, gibt es kaum gesi­cherte Daten für Öster­reich, bedau­ert Univ. Prof. Karl Lhotta von der Abtei­lung für Nephrolo­gie und Dia­lyse am Lan­des­kran­ken­haus Feld­kirch. „Genaue Zah­len ken­nen wir nur für die ter­mi­nale Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz“, führt er wei­ter aus. Der Grund: Die­je­ni­gen Pati­en­ten, die eine Nie­ren­er­satz­the­ra­pie benö­ti­gen, wer­den im Öster­rei­chi­schen Dia­lyse- und Trans­plan­ta­ti­ons­re­gis­ter geführt. „Und hier zei­gen sich große Unter­schiede in den Bun­des­län­dern mit einem star­ken Ost-West-Gefälle“, betont Lhotta. 

Vor­arl­berg ist schon seit Jah­ren das Bun­des­land mit der nied­rigs­ten Inzi­denz bei der Nie­ren­er­satz­the­ra­pie. So gab es bei­spiels­weise im Jahr 2015 rund 79 Neu­zu­gänge pro Mil­lion Ein­woh­ner, gefolgt von Kärn­ten mit rund 81 Neu­zu­gän­gen. Auch Salz­burg (100) und Tirol (111) lie­gen deut­lich unter dem Öster­reich-Schnitt von 124,5 Betrof­fe­nen pro Mil­lion Ein­woh­ner, wäh­rend in Ober­ös­ter­reich (153), Wien (152), Stei­er­mark (118) und Nie­der­ös­ter­reich (117) die Zahl der­je­ni­gen, die eine Dia­lyse benö­ti­gen, am höchs­ten ist. Das Bur­gen­land ist mit ledig­lich 104 Neu­zu­gän­gen der posi­tive Aus­rei­ßer im Osten Öster­reichs. „Ein Vor­teil von Vor­arl­berg oder Tirol ist sicher­lich, dass das Ein­zugs­ge­biet über­schau­ba­rer ist als etwa in Nie­der­ös­ter­reich, wo die Pati­en­ten auch in mehr Ver­sor­gungs­zen­tren betreut wer­den“, erklärt Univ. Prof. Gert Mayer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin IV der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck. In Vor­arl­berg wie­derum erfolgt der Zugang zur Nie­ren­er­satz­the­ra­pie sowie die gesamte im Zuge der Trans­plan­ta­tion erfor­der­li­chen Vor­sorge und Nach­sorge aus­schließ­lich über die Nephrolo­gie und Dia­ly­se­ab­tei­lung am LKH Feld­kirch. „Das macht die Pla­nung ein­fa­cher, erleich­tert den Über­blick und sorgt für eine gute Qua­li­tät der Pati­en­ten­ver­sor­gung“, wie Lhotta aus­führt.

Unter­schied­li­cher Lebens­stil

Ein wei­te­rer „Aus­schlag geben­der Fak­tor“ (Mayer) ist der unter­schied­li­che Lebens­stil in den ver­schie­de­nen Regio­nen Öster­reichs. Eine dies­be­züg­li­che Stu­die vor eini­gen Jah­ren hat gezeigt, dass es bei der Anzahl der Dia­ly­se­pa­ti­en­ten mit einer gene­tisch beding­ten Nie­ren­er­kran­kung kei­nen Unter­schied zwi­schen West und Ost­ös­ter­reich gibt. Gleich­zei­tig hat man jedoch her­aus­ge­fun­den, dass in West­ös­ter­reich – spe­zi­ell in Tirol – viel weni­ger Pati­en­ten unter Dia­be­tes mel­li­tus oder Hyper­to­nie lei­den. Das hat zur Folge, dass es dort auch sel­te­ner zum Auf­tre­ten von fort­ge­schrit­te­nen Nie­ren­er­kran­kun­gen kommt. Dar­über hin­aus zeigt die Stu­die einen Zusam­men­hang zwi­schen dem Auf­tre­ten von Adi­po­si­tas und der Not­wen­dig­keit einer Dia­lyse bei Pati­en­ten mit Dia­be­tes mel­li­tus. Dass man Dia­be­tes mel­li­tus bekämp­fen müsse, sei bekannt. Aber: „Nie­ren­er­kran­kun­gen kom­men dop­pelt so häu­fig vor und sind dop­pelt so gefähr­lich wie Dia­be­tes mel­li­tus“, betont Lhotta. Und wei­ter: „Es gibt kei­nen stär­ke­ren Risi­ko­fak­tor für kar­dio­vas­ku­läre Ereig­nisse als chro­ni­sche Nie­ren­er­kran­kun­gen.“ Beim Risi­ko­ma­nage­ment wie­derum gehe es des­halb vor allem um Herz- Kreis­lauf-Erkran­kun­gen: Das Haupt­pro­blem dabei ist nicht, dass sich die Nie­ren­funk­tion ver­schlech­tert und die Betrof­fe­nen dia­ly­se­pflich­tig wer­den, son­dern „dass das kar­dio­vas­ku­läre Ereig­nis ein­tritt, bevor der Pati­ent an die Dia­lyse kommt“. Des­halb müsse man das Früh­sta­dium einer Nie­ren­er­kran­kung rascher dia­gnos­ti­zie­ren. „Zehn bis zwölf Pro­zent der Bevöl­ke­rung sind betrof­fen“, so Lhotta. Aller­dings benö­ti­gen nur Pati­en­ten mit einer fort­ge­schrit­te­nen Nie­ren­er­kran­kung einen Spe­zia­lis­ten, wäh­rend sich „90 Pro­zent der Nephrolo­gie in der all­ge­mein­me­di­zi­ni­schen oder inter­nis­ti­schen Pra­xis abspie­len“, weiß der Experte. 

Des­halb bedarf es einer ver­bes­ser­ten Kom­mu­ni­ka­tion mit dem nie­der­ge­las­se­nen Bereich und einer bes­se­ren Infor­ma­tion, wie man Risi­ko­pa­ti­en­ten erkennt, sind sich die bei­den Exper­ten einig. Bei Per­so­nen, die ein erhöh­tes Risiko für chro­ni­sche Nie­ren­er­kran­kun­gen­auf­wei­sen – bei Dia­be­tes mel­li­tus, Adi­po­si­tas oder Hyper­to­nie – soll­ten gezielt die Nie­ren­pa­ra­me­ter gescre­ent wer­den (Serum­krea­ti­nin, glome­ru­läre Fil­tra­ti­ons­rate und Albu­min-Krea­ti­nin-Quo­ti­ent im Harn). Gerade letz­te­rer werde – so die Ansicht von Lhotta – heute „viel zu sel­ten“ ermit­telt. „Dabei stel­len wir bei jedem Drit­ten bis Fünf­ten aus die­ser Risi­ko­gruppe eine chro­ni­sche Nie­ren­er­kran­kung fest. Und das bereits mit sehr simp­len Tests.“ Im Vor­jahr gab es bei­spiels­weise in Vor­arl­berg acht Lebend-Nie­ren­spen­den; sechs davon waren prä­emp­tiv. Lhotta dazu: „Das war bis jetzt noch nie der Fall und ist nur mög­lich, wenn die Betrof­fe­nen recht­zei­tig zu uns geschickt werden.“

Dass alle Bun­des­län­der mit ähn­li­chen Pro­ble­men kämp­fen, das ver­mu­tet Mayer: eine eher geringe Akzep­tanz der Vor­sor­ge­un­ter­su­chung und noch nicht gut struk­tu­rier­ten Früh­erken­nungs­pro­gram­men. Mit dem in der Stei­er­mark initi­ier­ten Pro­jekt „Niere 60/​20“ sol­len hier Ver­bes­se­run­gen erzielt wer­den. Mitt­ler­weile wurde diese Initia­tive auch in Vor­arl­berg und Kärn­ten in den Lan­des­ziel­steue­rungs­ka­ta­log auf­ge­nom­men, Tirol ist noch in der Pla­nungs­phase. Mayer: „Erst wenn diese Maß­nah­men flä­chen­de­ckend umge­setzt wer­den, ist man einen Schritt weiter.“ 

In Vor­arl­berg besu­chen Spe­zia­lis­ten des Nephrolo­gi­schen Zen­trums im Zuge des Pro­gramms „Gesunde Niere Vor­arl­berg“ die ein­zel­nen Bezirke, um die nie­der­ge­las­se­nen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen im Rah­men von Fort­bil­dun­gen auf die Wich­tig­keit der Früh­erken­nung bei Ange­hö­ri­gen der Risi­ko­po­pu­la­tion hin­zu­wei­sen. Wie erste Erfah­run­gen zei­gen, sind sol­che Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen wesent­lich effi­zi­en­ter als Flyer und Pla­kate, die auch im Zuge der Akti­vi­tä­ten ver­sen­det wur­den. „Man kann Ärz­ten und Betrof­fe­nen das Thema in Dis­kus­sio­nen viel bes­ser näher­brin­gen und auf Fra­gen ein­ge­hen“, macht Lhotta auf die­sen ganz spe­zi­el­len Aspekt auf­merk­sam. Die Gebiets­kran­ken­kasse über­nimmt außer­dem die Kos­ten für die Labor­un­ter­su­chung bei Risi­ko­pa­ti­en­ten. Ob das Ange­bot auch ange­nom­men wird, müsse abge­war­tet werden. 

Vor­arl­berg weist nicht nur die nied­rigste Inzi­denz an Pati­en­ten mit Nie­ren­er­satz­the­ra­pie auf, son­dern hat im Öster­reich-Ver­gleich auch die höchste Prä­va­lenz von Per­so­nen mit einer ter­mi­na­len Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz. „Das ist das Vor­arl­ber­ger Para­do­xon“, sagt Lhotta. Es lässt sich mit der hohen Anzahl an Men­schen in Vor­arl­berg, die eine Nie­ren­trans­plan­ta­tion hin­ter sich haben, erklä­ren. Zum Ver­gleich: Wäh­rend es in Öster­reich pro Mil­lion Ein­woh­ner 568 Nie­ren­trans­plan­tierte gibt, sind es in Vor­arl­berg mehr als 700. Das sei auch welt­weit betrach­tet ein „Spit­zen­wert“, betont Lhotta.

Im Wes­ten gibt es jedoch noch ein wei­te­res Spe­zi­fi­kum: Der Gesund­heits­sta­tus der­je­ni­gen, bei denen mit einer Dia­lyse begon­nen wer­den muss, ist ganz gene­rell bes­ser als in Ost­ös­ter­reich. Da die Betrof­fe­nen sel­te­ner unter kar­dio­vas­ku­lä­ren Erkran­kun­gen lei­den, wei­sen sie ein bes­se­res Gesamt­über­le­ben an der Dia­lyse auf. Vor­arl­berg hat außer­dem einen sehr hohen Anteil an Peri­to­ne­al­dia­ly­sen. Öster­reich­weit ist die Zahl der­je­ni­gen, die mit einer Dia­lyse begin­nen, in den letz­ten Jah­ren rück­läu­fig. Das dürfte bereits auf die Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men zurück­zu­füh­ren sein, ver­mu­tet Mayer. Den­noch steigt die Zahl der Dia­ly­se­pflich­ti­gen – auf­grund des ver­bes­ser­ten Gesamt­über­le­bens – leicht an. Die Situa­tion könnte sich in den nächs­ten Jah­ren noch wei­ter zuspit­zen: Wenn die Baby­boo­mer in den nächs­ten Jah­ren das Alter errei­chen, in dem sie dia­ly­se­pflich­tig wer­den könn­ten. „Wir befürch­ten, dass dann die Zah­len wie­der dra­ma­tisch stei­gen wer­den“, so Mayer abschließend. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2017