Fütterstörungen: Wenn Babys nicht essen wollen…

10.11.2017 | Medizin


Verweigern Babys kurzfristig die Nahrungsaufnahme, ist das nicht ungewöhnlich. Das Problem verstärkt sich aber, wenn die Eltern Druck ausüben. Persistiert die Störung, kann sie die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes verzögern sowie Verhaltens- und Bindungsprobleme verursachen. Von Marion Huber

Fütterstörungen manifestieren sich meist im ersten Lebensjahr: Wenn die Kinder essen sollen, drehen sie den Kopf weg, beginnen zu weinen oder spucken den Brei einfach wieder aus. Füttern lassen sich die Kinder – wenn überhaupt – nur noch, indem man sie ablenkt. Was dazu führt, dass die Fütterversuche immer länger dauern und die Mütter verzweifeln lässt. „Dass ein Kind vorübergehend wenig isst, ist eine Erfahrung, die die meisten Eltern machen“, bestätigt Christa Wienerroither, Leiterin der Ambulanz für Schrei-, Schlaf- und Fütterungsprobleme am Universitätsklinikum Salzburg. Bei gesunden Säuglingen sind vorübergehende Fütterprobleme normale Erscheinungen der Anpassung an neue Fütterungsmodalitäten, neue Geschmacksrichtungen oder Texturen im Zusammenhang mit den kindlichen Entwicklungsfortschritten. „Von einer Fütterstörung sollte man also erst sprechen, wenn das Füttern mehrmals am Tag als schwierig erlebt wird, die Symptomatik länger als vier Wochen andauert und die Nahrungsaufnahme nicht den individuellen physiologischen Möglichkeiten des Kindes entspricht“, weiß Maria Höllwarth, Klinische Psychologin und Psychotherapeutin von der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters in Innsbruck.

Die Prävalenz von leichten bis mittelschweren Fütterstörungen liegt bei bis zu 25 Prozent bei Kindern im ersten Lebensjahr. Bei etwa drei bis zwölf Prozent handelt es sich um schwere Fütterstörungen; davon gehen etwa drei bis vier Prozent auch mit Gedeihstörungen einher. Häufig zeigen betroffene Kinder auch weitere frühkindliche Regulationsstörungen wie zum Beispiel Schlafstörungen und exzessives Schreien.
 
Grundsätzlich sind es Wechselwirkungen zwischen kindlichen und elterlichen Faktoren, die dazu beitragen, dass Fütterstörungen entstehen oder andauern. Prinzipiell äußern sie sich ebenso wie andere Regulationsstörungen in einer Symptom-Trias von Problemen der kindlichen Verhaltensregulation (bei der Nahrungsaufnahme), dysfunktionalen Interaktionsmustern und elterlicher Belastung und Überforderung.

Organische Risikofaktoren

Betroffen sind vor allem Kinder mit organischen Risikofaktoren; dazu zählen etwa Frühgeborene und Kinder mit akuten oder chronischen Krankheiten, die mit einer Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme, der Verdauung und vermindertem Appetit einhergehen. Bei organisch gesunden Kindern spielen das Temperament (leicht ablenkbar, motorisch sehr aktiv, schnelle Sättigung) sowie frühe Geschmacks und sensorische Erfahrungen eine Rolle. So kann es vorkommen, dass Kinder auf die Konsistenz oder den Geschmack von bestimmten Lebensmitteln empfindlich reagieren.

Kinder, die intensivmedizinische Maßnahmen wie Intubation oder Sondierung durchgemacht haben, Zwang beim Füttern erlebt haben oder an schmerzhaften Erkrankungen leiden, können eine posttraumatische Fütterstörung entwickeln. Vonseiten der Eltern können wiederum schwere organische oder psychische Belastungen in der Schwangerschaft, postpartale Depression, mütterliche Essstörungen, Trennungs- und Verlusterfahrungen in der Vorgeschichte oder auch Paarkonflikte dazu beitragen, dass Kinder eine Fütterstörung entwickeln.

„Leitsymptome beim Kind sind Mangel an Appetit und hartnäckige Nahrungsverweigerung bei gleichzeitigem ausgeprägtem Explorationsdrang“, berichtet Höllwarth. Beim Füttern signalisieren diese Kinder aktive Verweigerung; sie drehen den Kopf weg, kneifen den Mund zu, spucken Nahrung aus, würgen oder erbrechen. Andere wiederum lassen sich nur „nebenbei“ füttern, wenn sie unterhalten, abgelenkt oder im Halbschlaf sind. Es gibt aber auch Kinder, die sich passiv wehren, indem sie sich weigern, die Nahrung zu schlucken. Außerdem fallen füttergestörte Kinder oft durch sehr wählerisches und Alters-unangemessenes Essverhalten oder ungewöhnliche Ernährungsgewohnheiten auf.

„Durch diese dysfunktionalen Interaktionsmuster dauern die einzelnen Mahlzeiten extrem lang“, weiß Höllwarth. Damit das Kind aber genug isst, neigen die Eltern dazu, die Intervalle zwischen den Mahlzeiten deutlich zu verkürzen. „Dadurch dreht sich bald der ganze Alltag ums Essen.“ Die Situation wird zur Belastung, die Eltern entwickeln Ängste und Abwehr beim Füttern, versuchen, das Kind mit Druck, Zwang oder Ablenkung zum Essen zu bewegen. „Daraus entsteht noch mehr Abwehr beim Kind und ein Teufelskreis negativer Gegenseitigkeit“, so Höllwarth. Diese Entwicklung sollte rasch gebremst und der Teufelskreis durchbrochen werden, um langfristige Folgen zu vermeiden.

Gründliche Anamnese und Untersuchung

Befürchten Eltern bei ihrem Kind eine Fütterstörung, muss aus medizinischer Sicht zuerst „eine gründliche Anamnese und klinische Untersuchung erfolgen“, weiß Univ. Prof. Wolfgang Sperl, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Salzburg. Dabei wird der Perzentilenverlauf vonLänge, Gewicht und Kopfumfang erhoben. „Eine Gedeihstörung körperlicher Natur muss natürlich vor einer Fütterungsstörung abgeklärt werden.“ In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, zu erfragen, wie sehr sich die Eltern belastet fühlen. Höllwarth empfiehlt, bei anhaltender Symptomatik, ausgeprägter Interaktionsstörung und Belastungssyndrom der Eltern an eine interdisziplinäre Spezialambulanz zu überweisen. An der Abklärung und nachfolgender Therapie müsse von Anfang an multidisziplinär und multiprofessionell gearbeitetwerden. Zu Beginn erfolgt eine umfassende medizinische und psychosoziale Anamnese inklusive Ernährungsanamnese. Nach einer eingehenden somatischen Abklärung mit Analyse der Verdauungssituation und der Resorptionsparameter wird auch die Gewichtszunahme überprüft. Von psychologischer Seite wird das Verhalten des Kindes analysier  und dessen Entwicklung und Temperament eingeschätzt. Besonders viel Aufschluss gibt laut Sperl die Beobachtung des Kindes bei der Nahrungsaufnahme beziehungsweise seinem Essverhalten sowie die Analyse der Mutter-Kind-Interaktion.

Therapie: medizinisch und psychologisch

Bei der Therapie steht neben der Behandlung der Grunderkrankung und somatischer Begleiterscheinungen die psychologische Behandlung im Vordergrund. Dabei geht es einerseits um stützende Elterngespräche, in denen Sorgen und Ängste, familiäre Belastungen oder Beziehungsprobleme thematisiert werden. „Ein weiterer therapeutischer Schwerpunkt ist die direkte Arbeit an der Fütterinteraktion, wobei die Eltern die Videosequenzen zusammen mit dem Therapeuten ansehen und nachbesprechen“, berichtet Wienerroither aus der Praxis. Der Verlauf von Fütterstörungen hängt davon ab, ob langfristig ein ausreichendes Gedeihen erreicht werden kann. „Gedeihstörungen können langfristig die physische, kognitive und sozialemotionale Entwicklung des Kindes beeinträchtigen“, gibt Höllwarth zu bedenken. Eine Besserung stellt sich dann ein, wenn eine vom Kind selbst gesteuerte Regulation der Nahrungsaufnahme erreicht werden konnte. „Fütterstörungen, die länger als vier Wochen andauern, neigen zu großer Persistenz“, warnt Wienerroither. Sie können die kindliche Entwicklung sowie die Eltern-Kind-Beziehung stark beeinträchtigen. „Unbehandelt kann es zu verzögerter geistiger Entwicklung, Verhaltensproblemen, Bindungsproblemen, Angststörungen und Essstörungen bis ins junge Erwachsenenalter kommen“, betont Höllwarth abschließend.

Was ist eine Fütterstörung?

Von Fütterstörungen spricht man, wenn beim Säugling über mindestens einen Monat die Mahlzeiten jeweils länger als 45 Minuten dauern und zwischen den vom Säugling geforderten Mahlzeiten weniger als zwei Stunden liegen. Beim älteren Säugling gehört auch ein unangemessener Kontext (zum Beispiel die Fütterposition, Füttern mit aufwendigen Ablenkungsmanövern, die Fütterzeit) oder die Auswahl der akzeptierten Lebensmittel dazu. Eine Störung liegt auch vor, wenn das Kind häufig erbricht oder würgt.


Formen von Fütterstörung*

Die „Research Diagnostic Criteria – Preschool Age“ (RDC-PA) der US amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung empfiehlt, die globale Kategorie der „Fütterstörung“ durch sechs Störungen zu ersetzen. Diese Aufteilung deckt sich mit jener der Zero-to-Three-Klassifikation (DC:0-3R).

• Regulations-Fütterstörung
Probleme beginnen in den ersten Monaten und sind mindestens zwei Wochen vorhanden. Das Kind kann nur schwer einen ausgeglichenen Zustand beim Füttern erreichen (zu schläfrig, agitiert oder belastet).

• Fütterstörung der reziproken Interaktion

Fehlen einer alterstypischen Reziprozität während der Füttersituation (kein Blickkontakt, Lächeln oder Lautieren). Oft komplex gestörte Mutter-Kind-Beziehung.

• Frühkindliche Anorexie
Nahrungsverweigerung für mindestens ein Monat (nicht in Folge eines traumatischen Erlebnisses oder einer körperlichen Erkrankung); signifikanter Wachstumsmangel. Kaum Zeichen von Hungergefühl und Interesse am Essen. Typischerweise zwischen dem sechsten Lebensmonat und drei Jahren.

• Sensorische Nahrungsverweigerung

Konsequente Vermeidung von bestimmten Nahrungsmitteln (nicht in Folge eines traumatischen Erlebnisses oder einer körperlichen Erkrankung). Oft bei Einführung von Breikost (neuer Geschmack, Konsistenz).

• Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen
Nahrungsverweigerung für eine Dauer von mindestens zwei Wochen. Medizinische Behandlung verbessert Problematik, vermindert sie aber nicht vollständig.

• Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes (posttraumatische Fütterstörung)

Nahrungsverweigerung nach aversiven Reizen des oberen Gastrointestinaltraktes. Füttersituation induziert posttraumatischen Stress.

*modifiziert nach Zero toThree: DC:0–3R: Diagnostic classification of mental health and developmental
disorders of infancy and early childhood.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2017