Diabetes mellitus: Aktiv managen

15.12.2017 | Medizin


Nicht bei allen Typ 2-Diabetikern soll der HbA1c niedrig angesetzt werden. Eine Ausnahme dabei stellen etwa alte, multimorbide Personen dar. Auch die Zusammensetzung des HbA1c spielt eine Rolle: Es macht einen Unterschied, ob die Blutzuckerwerte stabil sind, oder ob sich tiefe und hohe Werte ausgleichen.
Von Marlene Weinzierl

Je jünger der Patient und je kürzer er unter Diabetes mellitus leidet, desto eher sollte eine Normoglykämie, sprich ein HbA1c-Wert unter 6,5 Prozent, angestrebt werden. „Bei den meisten Patienten liegt das Ziel in der Praxis unter sieben Prozent“, erläutert Univ. Prof. Bernhard Ludvik von der 1. Medizinischen Abteilung mit Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie der Krankenanstalt Rudolfstiftung Wien. Doch nicht bei allen Menschen, die an Diabetes mellitus leiden, soll der HbA1c-Wert niedrig angesetzt werden. Ludvik weiter: „Besonders bei alten multimorbiden Personen beispielsweise mit einem Myokardinfarkt in der Anamnese darf der Wert auch höhersein.“ Begründung: Bei vielen alten Patienten können sich im Fall einer Insulinbehandlung oder einer Therapie mit Sulfonylharnstoffen schwere Hypoglykämien entwickeln, die mit einer erhöhten Mortalität durch plötzlichen Herztod assoziiert sind. Deswegen würde Univ. Prof. Peter Fasching von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie im Wilhelminenspital auch einen HbA1c- Wert über acht Prozent „im Einzelfall“ tolerieren – etwa bei schwer dementen, pflegebedürftigen Personen oder Menschen mit einer sehr eingeschränkten Lebenserwartung.

Beim HbA1c kommt es aber auch auf dessen Zusammensetzung an. Ludvik dazu: „Es macht einen Unterschied, ob die Blutzuckerwerte nahe dem Normbereich und stabil sind oder ob sich viele tiefe und hohe Werte gegenseitig ausgleichen, sodass ein ‚schöner‘ HbA1c-Wert vorgetäuscht wird.“ Neue Blutzucker-Testmethoden wie die Flash-Glukose-Messung stellen deshalb für Patienten mit Typ 1-Diabetes die größte Innovation bei der Blutzuckermessung der vergangenen Jahre dar: Ein Sensor, der am Körper getragen wird, misst in regelmäßigen Abständen nicht nur tagsüber, sondern auch in der Nacht die Glukosewerte. Dadurch können bislang unerkannte Hypoglykämien auch in der Nacht am Morgen sichtbar gemacht werden. Allerdings alarmiert der Sensor nicht bei tiefen Blutzuckerwerten. Die Flash-Glukose-Messung erlaubt „unblutig“ die kontinuierliche Messung der Gewebeglukose. Darüber hinaus wird es auch möglich, allfällige Trends zu erkennen. Geräte, die den Betroffenen über eine unmittelbar bevorstehende Hypoglykämie informieren, stehen kurz vor der Markteinführung.

Rund 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die an Typ 1-Diabetes leiden, sind mit Insulinpumpen versorgt. Ludvik sieht in diesen – zusammen mit innovativen Sensoren, die mit den Pumpen kommunizieren, – „die nahe Zukunft bei der Behandlung von Typ 1-Diabetes“. (Semi-) Closed-Loop-Systeme wiederum, die durch Kommunikation von Sensor und Pumpe die Insulinabgabe steuern, stehen kurz vor der Zulassung. Diese Systeme funktionieren derzeit allerdings nur in der Nacht, wenn die Blutzuckerschwankungen nicht so groß sind, verlässlich. Schon jetzt gibt es Pumpen, die bei einer drohenden Hypoglykämie die Insulinzufuhr kurzfristig unterbrechen. Erste Daten über die Closed-Loop-Anwendung während des Tages, wenn der Betreffende sich anstrengt oder Nahrung zu sich nimmt, sind „vielversprechend“, so Ludvik. Weswegen er auch davon ausgeht, dass Typ 1-Diabetiker bald zum „überwiegenden Teil“ Pumpen mit Sensoren haben werden, die diesen Automatismus der Insulinabgabe anbieten.

Typ 2-Diabetes: aufwändige Therapie

Während beim Typ 1-Diabetes die kontinuierliche Insulin-Substitution erforderlich
ist, gestaltet sich die – meist medikamentöse – Therapie bei Typ 2-Diabetes weniger aufwändig. Dennoch sollte der betreuende Allgemeinmediziner auf die Bedürfnisse des Betroffenen eingehen: Welche Essgewohnheiten gibt es? Wie oft ist der Patient bereit, seinen Blutzuckerspiegel zu messen? Ist er bereit, auch komplexere Insulin-Regime anzuwenden? „Die Insulintherapie muss auf den Lebensstil des Betroffenen maßgeschneidert werden“, unterstreicht der Experte. Heute steht bei der Diabetes-Therapie eine Reihe von neuen Substanzen zur Verfügung. Nach der Etablierung von Metformin wurden mit der Zeit häufiger Sulfonylharnstoffe als Zweitlinien-Therapie eingesetzt, wobei letztere wegen der Gefahr von Hypoglykämien immer öfter von den DPP4-Hemmern abgelöst werden. Mittlerweile konnten GLP1-Rezeptoragonisten wie Liraglutid einen Vorteil in Bezug auf kardiovaskuläre Erkrankungen sowie den Herztod belegen. Zu beachten ist allerdings eine passagere Übelkeit als häufige Nebenwirkung, die gelegentlich aufgrund der verzögerten Magenentleerung auftreten kann. Möglicherweise besteht auch ein leicht erhöhtes Risiko für Pankreatitis.

Auch bei den neuen SGLT2-Inhibitoren zeigten sich eine Verminderung der Sterblichkeitsrate und Verbesserungen im Hinblick auf die Progression einer allenfalls bestehenden Niereninsuffizienz. Zu bedenken ist jedoch, dass es bei Frauen durch die Elimination der Glukose über den Harn etwas häufiger zu genitalen Mykosen oder Harnwegsinfekten kommen kann. In seltenen Fällen wurden bei Patienten auch bei nicht allzu hohem Blutzuckerspiegel Ketoazidosen beobachtet, vor allem bei der Kombination von SGLT2-Hemmern mit einer Insulintherapie. Ist die Zuckerausscheidung im Harn sehr hoch, sollte der betreuende Arzt in jedem Fall nach der Diabetes-Medikation fragen und den Blutzuckerspiegel überprüfen. Fasching führt dazu aus: „Damit kann man differenzieren, ob die erhöhte Harnzuckerausscheidung Folge eines entgleisten Diabetes ist oder auf die Medikation mit SGLT2-Inhibitoren zurückzuführen ist.“ Ganz generell bezeichnet er GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmer als sehr „sicher“ – sie tragen außerdem zur Gewichtsreduktion und Blutdrucksenkung bei. Die neuen PCSK9-Inhibitoren zur effektiven Senkung des LDL-Cholesterinspiegels spielen auch bei der Behandlung von Diabetes-Patienten eine wichtige Rolle, denn beim LDL-Cholesterin gilt: The lower the better. Dazu Ludvik: „Jeder Typ 2-Diabetiker muss einen LDLWert unter 70 mg/dl haben. Besser ist vermutlich sogar ein Wert unter 55 mg/dl.“

Dass die Betreuung von Typ 2-Diabetikern mittlerweile sehr komplex geworden ist, bestätigt Ludvik vollinhaltlich. „Der Hausarzt ist gefordert, sich intensiv auf diesem Gebiet fortzubilden, damit er seine Patienten kompetent betreuen kann.“ Dazu gehört nach Ansicht des Experten nicht nur die intensive Auseinandersetzung mit den Medikamenten, deren Wirkungen und Nebenwirkungen, sondern auch die dauerhafte Kooperation mit einer Spezialeinrichtung und Diätologen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2017