Bis zu einem Jahr nach Beendigung einer Chemotherapie kann diese als Auslöser für neuropathische Beschwerden in Betracht gezogen werden. Die Symptome treten meist nach mehreren Therapiezyklen auf. Die Chemotherapie-induzierte Neuropathie ist grundsätzlich reversibel; es ist jedoch mit einer langen Regenerationsphase zu rechnen. Von Marlene Weinzierl
Die Betroffenen klagen über Missempfindungen, die meist an den Füßen beginnen und meist erst im fortgeschrittenen Stadium auch an den Händen auftreten. Bei fortschreitender Schädigung können oft Wärme, Kälte oder Schmerzen nicht mehr empfunden werden; Taubheitsgefühle verursachen Probleme bei feinmotorischen Tätigkeiten – etwa beim Umblättern von Seiten. „Oft ist die Ungeschicklichkeit für die Patienten am lästigsten“, weiß der Wiener Neurologe und Psychiater Univ. Prof. Wolfgang Grisold. Ursache für Chemotherapie-induzierte Neuropathien (CIN) sind vorwiegend Chemotherapeutika der älteren Generation wie Platinverbindungen, Vinca-Alkaloide und Taxole, aber auch Bortezomib und Thalidomid haben häufig neurotoxische Nebenwirkungen. Von den Patienten, die eine Monotherapie erhalten, sind zwischen drei und zehn Prozent davon betroffen; bei einer Kombinations Chemotherapie leiden zwischen 38 bis nahezu 100 Prozent der Patienten an einer Neuropathie. „Symptomatisch können Dysästhesien sein, die durch harmlose Berührungen wie zum Beispiel von der Bettdecke auf den Füßen verursacht werden“, erläutert Univ. Prof. Stefan Quasthoff von der Universitätsklinik für Neurologie in Graz. Schmerzen im eigentlichen Sinn, wie sie bei anderen Nervenschäden wie zum Beispiel bei einem Bandscheibenvorfall vorkommen, sind die Ausnahme.
Die Symptome treten meist nach mehreren Therapiezyklen auf und können je nach zugrundeliegender Schädigung variieren. Vinca-Alkaloide und Taxane etwa verursachen vorwiegend Störungen der Mikrotubuli und führen zu senso-motorischen Neuropathien. Platinderivate hingegen greifen die Spinalganglien an, was zu akuten Störungen der Ionenkanäle führt. „Sehr seltene akute Beschwerden wie Muskelkrämpfe oder Gefühlsstörungen in der Mundregion können dabei bereits nach der ersten Behandlung auftreten, weil sie nicht durch eine kumulative Toxizität verursacht werden“, weiß Grisold. Betroffen sind vorwiegend Krebspatienten, die mit Oxaliplatin behandelt werden.
„Coasting“-Phänomen
Es ist aber auch möglich, dass Symptome erst ein halbes Jahr nach Therapieende oder noch später auftreten. „Das kann durchaus irritierend sein, weil man den zeitlichen Zusammenhang nicht mehr sieht“, betont Quasthoff. Das „Coasting“-Phänomen, das vorwiegend bei Platin-Derivaten beobachtet wird, leitet sich von „Roller Coaster“ (Hochschaubahn) ab: Nach dem Ende der Chemotherapie können die Symptome sowohl stärker als auch mit der Zeit wieder besser werden. Grisold weiter: „Ob mit Verschwinden der Toxizität die Symptome aber gänzlich zurückgehen, ist ungewiss.“ Besonders bei jungen Erwachsenen und Kindern, die eine Chemotherapie wegen eines Lymphoms oder einer Leukämie erhalten, sind oft noch nach Jahren Spätfolgen vorhanden. Allerdings sind die Beschwerden nicht immer durch eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie verursacht. Speziell dann, wenn die Erkrankung stark ausgeprägt ist oder rasch fortschreitet, müssen auch andere Ursachen in Betracht gezogen werden.
Keine Korrelation
Betreffen die Gefühlsstörungen nur die oberen Extremitäten oder sind sie einseitig, sollte eine lokale Problematik wie zum Beispiel ein Karpaltunnelsyndrom oder eine Nervenwurzelstörung ausgeschlossen werden. Die Nervenleitgeschwindigkeit sollte jedenfalls gemessen werden, wobei: Veränderungen in der Nervenleitgeschwindigkeit sind erst im fortgeschrittenen Stadium auffällig oder korrelieren nicht zwingend mit den Symptomen der Patienten. So haben einerseits Patienten mit Platin-induzierten Neuropathien oft eine vollkommen normale motorische Nervenleitgeschwindigkeit; andererseits können Patienten mit geringen Veränderungen bereits unter massiven sensiblen Beschwerden leiden. Einige Krebsarten wie beispielsweise Leukämie verursachen selbst eine Neuropathie. „Sie wird noch vor der eigentlichen Krebserkrankung manifest, während im Zuge der Chemotherapie die Substanz-induzierte Neuropathie dazukommen kann“, wie Quasthoff erläutert.
Über die Möglichkeit einer Neuropathie während einer Chemotherapie müssten die Betroffenen in jedem Fall aufgeklärt werden, betont Quasthoff. „Das kommt häufiger vor, als man denkt.“ Das Risiko werde mit zunehmendem Alter und Grad der Toxizität größer. Möglichkeiten zur Prävention gibt es bis dato nicht. Eine effektive Maßnahme zur Förderung des Gleichgewichtssinns stellt das Sensorimotor-Training dar, mit Hilfe dessen späteren typischen Komplikationen vorgebeugt werden kann.
Aus der Praxis weiß Quasthoff, dass „zu selten“ nach vorbestehenden Nervenschädigungen gefragt werde. Bei Patienten mit einer präexistenten Neuropathie aufgrund von Diabetes mellitus, Alkoholmissbrauch oder Strahlenschäden können sich die Beschwerden unter einer Chemotherapie verschlechtern oder eine Chemotherapie induzierte Neuropathie ausgelöst werden. Auch Personen mit einer hereditären Neuropathie haben diesbezüglich ein erhöhtes Risiko.
In der Regel ist eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie reversibel. „Man muss nur Geduld haben und mit einer langen Regenerationsphase rechnen“, macht Quasthoff aufmerksam. Im Gegensatz zu anderen nutritiv toxischen oder genetisch bedingten Neuropathien, die chronisch progredient sind, ist der Patient den Noxen nämlich nur für einen begrenzten Zeitraum ausgesetzt, weshalb sich das periphere Nervensystem nach der Behandlung meist wieder erholen könne. Wichtig seien in jedem Fall realistische Therapieziele, so Quasthoff. Auch wenn eine kausale Therapie noch nicht zur Verfügung stehe, erachtet Grisold es als „wichtig, die Symptome zu behandeln“. Für die Behandlung von neuropathischen Schmerzen werden Ionenkanalblocker wie Gabapentin, Pregabalin oder Carbamazepin sowie die Antidepressiva Duloxetin und Amitriptylin erfolgreich eingesetzt – auch in Kombination.
Die Missempfindungen erleben die Patienten als am meisten störend. „Doch gerade die Missempfindungen kann man recht gut behandeln“, betont Quasthoff. Und weiter: „Der größte Anreiz für die Nerven, sich wieder zu regenerieren, ist Bewegung.“ Koordinationsstörungen kann – in Abhängigkeit vom Ausmaß der Schädigung – durch Physio- und Ergotherapie oder Rehabilitation entgegengewirkt werden. Wie aus einer aktuellen australischen Publikation hervorgeht, könnte durch die von der Chemotherapie induzierte Attacke auf die peripheren Nerven auch ein Entzündungsprozess ausgelöst werden, wodurch die Effekte möglicherweise aufrechterhalten
werden.
Verdacht auf Chemotherapieinduzierte Neuropathie 1) Welche Beschwerden hat der Patient? 2) Mit welcher Substanzklasse wurde der Patient behandelt? 3) Welche Dosis wurde verabreicht? 4) Wann hat die Chemotherapie stattgefunden? 5) Welche anderen Ursachen sind zu unterscheiden? |
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2017