Stand­punkt – Artur Wech­sel­ber­ger: „Mehr Zeit für Behandlung“

10.10.2016 | Standpunkt

© Dietmar Mathis

… ist das Ziel eines Pro­jek­tes des Deut­schen Natio­na­len Nor­men­kon­troll­rats, das die Büro­kra­tie­kos­ten in Arzt- und Zahn­arzt­pra­xen im Visier hat. Die Unter­su­cher ermit­tel­ten einen jähr­li­chen Auf­wand von 4,4 Mil­li­ar­den Euro allein für die Erfül­lung aller Infor­ma­ti­ons­pflich­ten, denen die Pra­xen unter­lie­gen. Davon wer­den 3,3 Mil­li­ar­den im ver­trags­ärzt­li­chen Bereich aus­ge­löst. Ins­ge­samt, so der 2015 publi­zierte Bericht, müs­sen die Pra­xen deut­scher Ärzte, Psy­cho­the­ra­peu­ten und Zahn­ärzte durch­schnitt­lich 96 Tage pro Jahr für die Erfül­lung von Infor­ma­ti­ons­pflich­ten auf­wen­den. Auch andere aus­län­di­sche Unter­su­chun­gen berich­ten von büro­kra­ti­schen Aus­wüch­sen. So etwa hat eine kürz­lich publi­zierte ame­ri­ka­ni­sche Stu­die auf­ge­zeigt, dass Ärz­tin­nen und Ärzte zu jeder für die direkte Pati­en­ten­be­hand­lung auf­ge­wandte Stunde zusätz­lich zwei Stun­den „paper­work“ kal­ku­lie­ren müs­sen. Im sel­ben Jour­nal erschien 2016 ein Arti­kel, der die Zunahme von Büro­kra­tie durch die Ein­füh­rung elek­tro­ni­scher Pati­en­ten­ak­ten bei gleich­zei­ti­ger Abnahme der Zufrie­den­heit von Ärz­ten wie Pati­en­ten beschreibt.

Büro­kra­tie und Büro­kra­tie­ab­bau sind auch bri­sante The­men im hei­mi­schen Gesund­heits­sys­tem. In den Arzt­or­di­na­tio­nen wie auch in den Kran­ken­häu­sern ver­schlingt der Ver­wal­tungs­mo­loch einen gro­ßen Teil der wert­vol­len Arbeits­zeit von Ärz­te­schaft und Pflege. Der geschätzte Anteil an Büro­kra­tie und Admi­nis­tra­tion liegt in Öster­reichs Gesund­heits­ein­rich­tun­gen bei etwa 40 Pro­zent der Arbeitszeit.

Die seit Jahr­zehn­ten wach­sende Büro­kra­tie hat welt­weit Aus­maße ange­nom­men, die die erwar­te­ten Vor­teile schon lange nicht mehr recht­fer­ti­gen. Lange gal­ten büro­kra­ti­sche Sys­teme als zuver­läs­sig, objek­tiv, plan- und bere­chen­bar. Das Arbei­ten nach fes­ten Regeln wurde mit Sicher­heit und Qua­li­tät asso­zi­iert. Auch in der Medi­zin hatte es sich erwie­sen, dass Regel­werke, Leit­li­nien und gute Doku­men­ta­tion uns zwin­gen, kla­rer und metho­disch zu den­ken, schlechte Prak­ti­ken zu erken­nen und zu meiden.

Doch diese Zei­ten sind vor­bei. Längst sind Zwe­cke und Ziele büro­kra­ti­scher Vor­ga­ben aus der Per­spek­tive der Anwen­der nicht mehr erkenn­bar. Es feh­len die Anpas­sun­gen an die Ziel­vor­stel­lun­gen der sozia­len Umwelt, der Bedürf­nisse der Kran­ken und an die Erfor­der­nisse zeit­ge­mä­ßer Medizin.

Die Büro­kra­tie wird nur noch als Herr­schafts­in­stru­ment, also als Aus­druck des­sen wahr­ge­nom­men, was sie ursprüng­lich begrün­det hatte. Die Vor­teile büro­kra­ti­scher Orga­ni­sa­ti­ons­for­men wie der Schutz vor Will­kür wurde längst von den Nach­tei­len einer ver­recht­lich­ten Medi­zin über­holt, die Ver­läss­lich­keit von Regel­wer­ken steht in kei­ner Rela­tion mehr zum Auto­no­mie­ver­lust der han­deln­den Per­so­nen. Ganz zu schwei­gen von den fach­li­chen, per­so­nel­len und zeit­li­chen Res­sour­cen, die der Büro­kra­tie geschul­det und damit der Pati­en­ten­ver­sor­gung ent­zo­gen werden.

Das Phä­no­men des Büro­kra­tie­wachs­tums hat Cyril North­cote Par­kin­son schon vor 60 Jah­ren beschrie­ben. Durch die Ein­füh­rung neuer Steue­rungs­mo­delle mit betriebs­wirt­schaft­li­chen Kenn­zah­len und Con­trol­ling steige der Anteil der Mit­ar­bei­ter in die­sen Arbeits­be­rei­chen, wäh­rend die Mit­ar­bei­ter­zahl in den Kern­be­rei­chen gleich bleibt oder sogar sinkt. Gleich­zei­tig müsse diese Gruppe neben ihren Kern­auf­ga­ben auch diem wach­sen­den inef­fi­zi­en­ten Vor­ga­ben der Büro­kra­tie erfül­len. Wobei sei­ner Beob­ach­tung nach die Kern­auf­ga­ben sogar ganz weg­fal­len könn­ten, ohne dass die Ver­wal­tung des­halb schrump­fen würde.

Dere­gu­lie­rung ist das ein­zige Instru­ment, den Büro­kra­tie­wahn zu stop­pen. Denn jede neue Rege­lung würde nur wie­der Büro­kra­tie schaf­fen und die von Par­kin­son beschrie­be­nen Effekte wei­ter pro­du­zie­ren. Dere­gu­lie­rung müs­sen beson­ders wir Ärzte for­dern, damit aus unse­rer Loya­li­tät gegen­über dem Ver­sor­gungs­sys­tem nicht eine Pati­en­ten-schä­di­gende Kom­pli­zen­schaft wird. 

Dere­gu­lie­rung müs­sen wir aber auch ver­lan­gen, weil nur sie den Erfor­der­nis­sen eines freien Beru­fes ent­spricht und Grund­lage für eine humane, Pati­en­ten-zen­trierte und gleich­zei­tig Res­sour­cen-scho­nende Kran­ken­be­hand­lung ist.

Artur Wech­sel­ber­ger
Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2016