Standpunkt – Präs. Artur Wechselberger: Daumenschrauben und Scherbenhaufen

10.04.2016 | Standpunkt

© Dietmar Mathis

Es ist genau 20 Jahre her, dass sich die Ärztekammer für Oberösterreich gegen die 1996 erlassenen Richtlinien des Hauptverbandes über die Berücksichtigung ökonomischer Grundsätze bei der Krankenbehandlung (RöK) zur Wehr setzte. Die RöK bedeute, so die Beschwerde-führende Kammer, einen Bruch mit dem Gesamtvertragssystem des ASVG, sie greife in bestehende Vertragsverhältnisse ein, verletze die verfassungsgesetzlich gewährleistete Privatautonomie und auch das Grundrecht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 Abs1 EMRK. Zudem könnten Richtlinien des Hauptverbandes überhaupt nur eine Bindungswirkung für die Sozialversicherungen, nicht jedoch für deren ärztliche Vertragspartner entfalten.

Nachdem die Landesschiedskommission und die Bundesschiedskommission die Feststellungsanträge der Ärztevertreter abgelehnt hatten, wies auch der Verfassungsgerichtshof vier Jahre später die Beschwerde der Ärztekammer ab.

Unisono stellten die drei Instanzen fest: Es bestünden keine Bedenken gegen die Verordnungsermächtigung des ASVG zur Erlassung von Richtlinien ökonomischer Krankenbehandlung und deren Verbindlichkeit für die Vertragspartner der Krankenversicherungsträger. Die Richtlinien bedeuten auch keinen Eingriff in die kollektivvertragsartige Autonomie der Gesamtvertragsparteien. Ebenso sei es unbedenklich, die leistungserbringenden Vertragspartner zur Einhaltung der aufgestellten ökonomischen Grundsätze zu verpflichten.

Neben der allgemeinen Verpflichtung der Vertragspartner, die Krankenbehandlung so zu erbringen oder zu veranlassen, dass diese den ökonomischen Grundsätzen entspricht, unterstrichen die Hauptverbandsrichtlinien das Wirtschaftlichkeitsgebot noch mit der Einführung der chefärztlichen Bewilligungspflicht für bestimmte diagnostische und therapeutische Leistungen. In den RöK finden sich zudem Bestimmungen zur Überprüfung der Einhaltung der ökonomischen Grundsätze. Dafür haben die Krankenversicherungsträger regelmäßig Stichproben durchzuführen sowie in begründeten Einzelfällen gezielt die Vertragspartner zu überprüfen sowie deren Abrechnungen zu kontrollieren. Als Sanktionen für unökonomisches Verhalten gelte es, Gespräche zu führen, erforderlichenfalls auch vertraglich und gesetzlich vorgesehene Schritte zu setzen. Objekte der Überprüfung seien neben ärztlichen Leistungen oder ärztlich verordneten Leistungen beispielsweise auch die Häufigkeit von Überweisungen und Einweisungen aber auch die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit oder Transportanweisungen.

Alle diese Leistungen, einschließlich der Erhebung der verursachten Kosten und Folgekosten, finden sich zwei Jahrzehnte später auch im Prüfprogramm der „Mystery Shopper“ wieder. Dabei sollen verdeckte Ermittler der Krankenkassen die rechts- und vertragskonforme Arbeitsweise der Vertragspartnerinnen und Vertragspartner überprüfen. Und dies wie schon vor der Einführung der Lockspitzel der Krankenkassen: stichprobenweise oder anlassbezogen. Ausgehend vom Argument, ungerechtfertigte Krankmeldungen aufdecken zu wollen, soll der Agent Provocateur, der dem Arzt vortäuscht, Patient zu sein, auch Abrechnungsbetrug oder Korruption bei Terminvergaben aufspüren.

Dass – wie namhafte Gutachter bestätigen – gegen den neuen ASVG-Paragrafen, welcher die Tatprovokation der „Mystery Shopper“ erlaubt, massive verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, beeindruckt dabei die Scharfmacher, die die Kontrollen fordern, nicht. Ebenso lässt sie die Tatsache unberührt, dass nicht zuletzt das ausufernde Kontrollregime der letzten 20 Jahre dazu beigetragen hat, Kassenverträge zu Ladenhütern verkommen zu lassen.

Die freien Kassenstellen und die steigende Zahl der Wahlärzte zeigen deutlich: Ärzte wie Patienten versuchen, dem permanenten Ökonomiedruck zu entkommen und dem überkontrollierten und überreglementierten öffentlichen System zu entfliehen.

Bedingungen, die eine Ärztegeneration zur Zeit der Ärzteschwemme vor 20 Jahren noch zähneknirschend schlucken musste, beschleunigen in einer Zeit des Ärztemangels den Erosionsprozess unseres sozialen Gesundheitswesens.

Artur Wechselberger
Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2016