ÄVKÖ: Elektrizität und Verkehr

15.12.2016 | Service

Nach einem Stromunfall bewirken verlängerte Reanimationsmaßnahmen und eine frühzeitige Defibrillation, dass ein Drittel der Reanimationen erfolgreich beendet werden kann. Warum Betroffene lange beobachtet werden sollten, erklärten Experten beim ÄKVÖ-Symposium „Elektrizität und Verkehr“ Ende November in Wien. Von Marlene Weinzierl

Im Jahr 2014 kamen in Österreich vier Menschen bei Elektrounfällen ums Leben. Sehr viel häufiger kommt es jedoch zu Verletzungen aufgrund von Verbrennungen oder systemischen Schädigungen vor allem auf kardiologischer, neurologischer und renaler Ebene. Dies berichteten Prof. Raimund Saam, Allgemeinmediziner in Wien, und Univ. Prof. Günter Steurer von der Universitätsklinik für Innere Medizin II in Wien, kürzlich im Rahmen des ÄKVÖ-Symposiums zum Thema „Elektrizität und Verkehr“ Ende November in Wien. „Stromunfälle machen in etwa nur 0,1 Prozent der notfallmedizinischen Einsätze aus, dies entspricht österreichweit einem Verletzten pro Monat“, berichtete der Allgemeinmediziner Werner Stadlhofer aus Wiener Neustadt, der dort auch als Notarzt tätig ist. Dennoch erwarten Experten künftig, dass die Zahl der Elektrounfälle in Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen zunehmen wird – nicht zuletzt aufgrund der steigenden Zahl an Elektroautos auf Österreichs Straßen.

Muster und Schweregrad der Stromverletzungen hängen von vielen Faktoren wie der Stromart, Stromspannung und Stromstärke sowie von der Einwirkdauer ab. Lebensgefahr besteht bei Gleichspannungen über 120 Volt (Straßenbahn, U-Bahn: 600 bis 800 Volt) und Wechselstromspannungen über 50 Volt (Flugzeuge, Schiffe), wobei „Wechselstromspannungen fünfmal häufiger Kammerflimmern auslösen, also in 80 Prozent der Fälle“, weiß Stadlhofer. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Autos (24 bis 48 Volt) transportieren auch Kraftfahrzeuge mit Elektroantrieb hohe Betriebsspannungen (bis zu 650 Volt) und speichern große Strommengen, weshalb es bei einem Unfall zu komplexen Stromverletzungen kommen kann. Die Zahl der Unfälle mit Elektroautos liegt laut Saam derzeit weltweit (noch) im niedrigen zweistelligen Bereich; genaue Zahlen sind nicht bekannt.

Bei der präklinischen Versorgung von Menschen nach einem Stromunfall muss zunächst immer auf die eigene Sicherheit geachtet und Abstand gehalten werden. „Der Bereich des 12-Volt-Bordnetzes in Elektroautos, wie es auch in Benzin- und Dieselfahrzeugen etwa zur Versorgung von Steuergeräten existiert, ist für den Menschen ungefährlich, da es durch Abklemmen eines Pols der Batterie stromfrei gemacht werden kann“, führt Steffan Kerbl vom ÖAMTC aus. Hingegen ist der Hochvolt-Bereich (betrifft alle elektrischen Spannungen über 60 Volt) bei Elektroautos speziell mit orangen Kabeln oder Warnaufklebern gekennzeichnet. Diesem Bereich dürfen sich ungeschulte Rettungskräfte erst nach Unterbrechung des Stromkreises durch Fachpersonal und nach Freigabe der Gefahrenzone nähern.

Kardiologe Steurer weist darauf hin, dass „bei Stromverletzungen primär mit einer Atemlähmung und einem Atemstillstand zu rechnen ist, erst danach mit Kammerflimmern oder Herzstillstand. Deshalb ist der Patient primär zu beatmen.“ Reanimationsmaßnahmen sollten verlängert durchgeführt werden, da es sich meist um junge oder primär herzgesunde Patienten handelt. Stadlhofer dazu: „So wird erreicht, dass ein Drittel der Reanimationen nach einem Stromunfall erfolgreich sind.“

Hohe Stromstärken führen zur Myoglobulinurie und einer massiven Rhabdomyolyse und haben oft ein Muskelkompartment- Syndrom und Nierenschädigungen zur Folge. Durch den Anstieg der Kreatin- Kinase, Hyperkaliämie und Hypovolämie kann es zum akuten Nierenversagen kommen. „Eine frühzeitige Hämofiltration und Kontrolle der Eiweißprodukte im Blut ist daher essentiell“, wie Steurer betont. Stadlhofer ergänzt: „Gelenksnahe Teile des Körpers sind übrigens eher von einer Stromeinwirkung betroffen, vor allem im Bereich der Unterarme und Unterschenkel.“ So sind 82 Prozent aller Gefäßverschlüsse und Thrombosen in Handgelenken lokalisiert.

Einig sind sich die Experten darin, dass Patienten mit Stromverletzungen „lange beobachtet werden, da Spätschäden zu erwarten sind“. Stadlhofer weiter: „Etwa 30 Prozent der Patienten mit einer initialen Arrhythmie weisen später auch eine Herzinsuffizienz auf.“ Spätschäden betreffen aber auch Nieren, Augen und Ohren. Der Tipp der Experten: Nach einer akuten Versorgung sollte immer in Betracht gezogen werden, ob nicht eine weitere stationäre Behandlung auf einer internistischen oder kardiologischen Intensivstation erfolgen sollte.

Stationäre Aufnahme

Aufgrund einer möglichen Herzschädigung ist der Patient zumindest 24 Stunden zu überwachen.

Kriterien für eine stationäre Aufnahme sind:

  • Bewusstlosigkeit
  • nach einem Kreislaufstillstand
  • Atem- oder Kreislaufprobleme
  • EKG-Veränderungen
  • Weichteilschäden
  • Verbrennungen

Ist der Patient symptomfrei und zeigt das EKG über einen Zeitraum von vier Stunden keine pathologischen Veränderungen, ist eine Entlassung vertretbar.

Nach Stromunfällen beachten

  • Treat first what kills first: Orientierung an Vitalfunktionen;
  • Wichtigste betroffene Organe: Herz, Haut, Nieren, Nervensystem, Blutgefäße, Muskeln und Skelett;
  • Traumata: betreffen vor allem Luftwege, Herz, Wirbelsäule und Nervensystem;
  • Kreislauf-Stillstand: primäre Asystolie, sekundäre Asystolie durch Asphyxie; Reanimationsmaßnahmen müssen unverzüglich und über einen verlängerten Zeitraum durchgeführt werden (Herzdruckmassage/Beatmung im Verhältnis 30:2).
  • Kammerflimmern: Besonders bei Unfällen mit Wechselstrom, daher: Frühdefibrillation!
  • Für eine „aggressive“ intravenöse Flüssigkeitszufuhr und Wärmeerhalt sorgen;
  • Monitoring sollte besonders im Hinblick auf  Kompartmentsyndrom, Rhabdomyolyse und akutes Nierenversagen erfolgen.
  • Kardiales und hämodynamisches Monitoring müssen über einen längeren Zeitraum beibehalten werden (Hochvoltbatterie!). Die Patienten haben ein hohes Risiko für späte Arrhythmien und Dysfunktionen des autonomen Nervensystems.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2016